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Schweizer Generäle im Dienst anderer: die Geschichte des Generals Wille als Lehrstück

Ist die Schweizer Armee ein Garant für die Souveränität der Schweiz? Ein grosser Teil der Öffentlichkeit ist fest davon überzeugt. Sowohl im 20. Jahrhundert wie heute kommt jedoch eine der schwersten Bedrohungen für die Neutralität der Schweiz gerade aus dem inneren Zirkel der Armee. Damals hatte dies zu einer ernsthaften Zerreissprobe für die multilinguale Schweiz geführt. Heute, wo sich die Lage dermassen jener vor 110 Jahren gleicht, sollten daraus die nötigen Lehren gezogen werden!

Nil Malyguine

Nil Malyguine1

Oberst Thomas Süssli, Kommandant der Schweizer Armee, sprach sich kürzlich für eine stärkere Integration der Armee in die NATO-Strukturen aus und argumentierte, dass das Gesetz geändert werden müsse, damit Soldaten gezwungen werden können, an Stützpunkten des Atlantikpakts zu trainieren. Die Ernsthaftigkeit dieser Äusserungen erscheint am deutlichsten, wenn man bedenkt, dass Süssli auch der wahrscheinlichste Kandidat für das Amt des Generals ist, falls die internationale Situation die Ernennung eines solchen erfordern sollte.

Eine Situation, die, so ernst sie auch sein mag, in der Geschichte des Bundes nicht beispiellos ist.

Die Schweiz und der Erste Weltkrieg

Im Laufe des zwanzigsten Jahrhunderts wurde nur zweimal ein General ernannt, zum Anlass der beiden grossen Weltkonflikte. Aber während General Henri Guisan, Oberbefehlshaber während des Zweiten Weltkriegs, zu einem Symbol der nationalen Einheit wurde, kann das gleiche nicht über General Ulrich Wille gesagt werden, der bei Ausbruch des Ersten Weltkriegs ernannt wurde.

Der Beginn des Ersten Weltkriegs hatte die schweizerische Gesellschaft in Aufruhr gebracht. Obwohl der Bundesrat sofort die Neutralität erklärt hatte, waren die Gefühle der Bevölkerung alles andere als neutral. Während die Deutschschweiz offen mit den Mittelmächten sympathisierte, stellte sich die italienisch- und die französischsprachige Schweiz ebenso klar auf die Seite der Entente, der sich 1915 auch Italien 1915 angeschlossen hatte. Die Stimmen derjenigen, die den Eintritt in den Krieg mit der einen oder anderen Seite befürworteten, waren zahlreicher und eindringlicher als diejenigen, die die Neutralität unterstützt hatten. Die Situation wurde durch die Infiltration der Massenmedien durch die kriegführenden Mächte noch verschärft. Während die deutschschweizerische Presse die Kriegspropaganda Deutschlands und Österreich-Ungarns verbreitete, war die französischsprachige ihrerseits der französischen Propaganda unterworfen. Die Situation verschlimmerte sich allmählich: Als der Krieg zu Ende war, hatten die kriegführenden Mächte mit getarnter Finanzierung nicht nur die meisten Zeitungen in ihren jeweiligen Sprachgebieten unter ihre Kontrolle gebracht, sondern sogar die Theater und Kinosäle, in denen propagandistische Aufführungen gezeigt wurden.

Zahlreiche Skandale empörten die öffentliche Meinung, die über den Konflikt stark gespalten war. Karikatur aus einem welschschweizerischen Medium: Sogar die alten Helvetier halten sich die Nase zu ob dem stinkenden eidgenössischen Kochtopf. Am Fenster die Drahtzieher der Skandale in Gestalt der kriegführenden Mächte.

Erst gegen Ende des Konflikts, als das Ausmass des sinnlosen Gemetzels offensichtlich wurde, erkannte die schweizerische Zivilgesellschaft den Wert der Neutralität. So gelang es der Schweizer Regierung, auch auf propagandistischer Ebene (bis dahin von den Kriegführenden hegemonisiert) etwas Boden zurückzugewinnen, indem Sie sich auf die vielen erfolgreich umgesetzten humanitären Initiativen wie die Aufnahme von Flüchtlingen und die medizinische Behandlung von Kriegsgefangenen stützte.

Aber nach dem Konflikt blieb die schweizerische Gesellschaft noch sehr gespalten. Es sollte noch Jahrzehnte dauern, den Graben zuzuschütten. In diesem Kontext hatte der Bundesrat beschlossen, General Ulrich Wille zu ernennen …

Ein General gegen Neutralität

Wille wurde 1848 in Hamburg geboren. Seine Familie stammte ursprünglich war in La Sagne im Kanton Neuenburg, der bis 1856 gleichzeitig preussisches Fürstentum war, beheimatet. Sie liess ihren ursprünglichen Namen Vuille in Wille eindeutschen. 1949 kehrte die Familie in die Schweiz zurück. 1867 begann Ulrich seine militärische Karriere und erreichte in den achtziger Jahren die Spitze der Armeehierarchie. Sein wichtigster Beitrag war die Reform der Schweizer Armee, die den traditionellen Wehrdienst mit der preussischen Struktur und Disziplin verband. Es war genau die preussische Armee, die von Wille bewundert wurde und zu dieser Zeit den Standard für die europäischen Streitkräfte diktiert hatte. Er geriet damit aber auch in Konflikt «mit den Anhängern der traditionellen Bürgerarmee, die Willes Methoden für unvereinbar mit einem demokratischen Staatswesen hielten und von einer ‹Verpreussung› der Armee und von ‹Soldatenschinderei› sprachen» (Zitat aus Wikipedia).

Der preussische Einfluss auf Oberst Wille war offensichtlich: er sprach nur hochdeutsch und hatte enge Verbindungen zur deutschen Aristokratie, so dass er die Gräfin Clara von Bismarck (entfernte Verwandte des Eisernen Kanzlers) heiratete. 1912 kam Kaiser Wilhelm II. mit einem offiziellen Besuch in die Eidgenossenschaft. In Wil SG wurde eine Militärparade zu seinen Ehren organisiert. Und bei Aadorf TG gab es ein grosses Manöver, das als «Kaisermanöver» in die Geschichte einging, durchgeführt: Ulrich Wille wurde als Kommandant damit beauftragt. Zwischen dem Schweizer Offizier und dem deutschen Monarchen entstand eine feste Freundschaft, die die Neutralität der Schweizer Armee in den schicksalhaften Jahren des Ersten Weltkriegs überschatten sollte.

Der zukünftige General Wille mit Kaiser Wilhelm II. an den «Kaisermanövern» bei Aadorf im Jahr 1912.

Wille wurde am 4. August 1914 intrigenreich zum General ernannt, mit grossem Protest der sozialdemokratischen Minderheit im Parlament, aber auch anderer, insbesondere welscher Parlamentarier. Sie hatten Theophil von Sprecher favorisiert, der unter massivem Druck verzichtete. Bald begann die Tätigkeit Willes als Oberbefehlshaber der Armee Fragen aufzuwerfen. Im Jahr 1915 schickte er einen Brief an den Bundesrat, in dem er den Kriegseintritt an der Seite der Mittelmächte befürwortete und die angeblichen Vorteile beschrieb, die die Schweiz daraus ziehen würde. Obwohl das Schreiben geheim war, landete es dennoch in den Händen der Presse, und sein Inhalt wurde veröffentlicht, was zu grossem Skandal und weiterem Hass in den Sprachregionen führte. Trotz dem Aufruhr blieb Wille im Amt.

Das folgende Jahr, 1916, war von der sogenannten «Obersten-Affäre» geprägt, einem weiteren Skandal, bei dem zwei Oberste als Protagonisten entdeckt wurden, die vertrauliche Informationen an den deutschen und österreichischen Geheimdienst weitergaben. Wieder einmal zeigte sich die Voreingenommenheit des Urteils von General Wille, der über die verräterischen Offiziere eine symbolische Strafe von nur zwanzig Tagen Arrest verhängte. Und wieder einmal war die Regierung nachsichtig und liess Wille im Amt.

Auch die Einsatzbefehle, die Ulrich Wille den Schweizer Truppen gab, sprechen Bände. Ein Armeekorps wurde im Jura an der französischen Grenze stationiert, und ein anderes im Engadin zu Italien, während ein drittes Armeekorps im Mittelland in Alarmbereitschaft blieb. Die Grenze zum Deutschen Reich blieb dagegen unbesetzt. Kurz gesagt, das Verteidigungsdispositiv der Schweizer Armee ging von einen möglichen Widerstand gegen die Entente voraus, berücksichtigte jedoch keine mögliche deutsche Aggression. Als Beweis für die Tatsachen setzte Wille die Armee nicht ein, um die Schweizer Souveränität vor jeglichen Grenzverletzungen zu schützen, sondern um die südlichen Grenzen des Deutschen Reiches zu decken.

Trotz alledem blieb Ulrich Wille bis Kriegsende im Amt und konnte sich noch rechtzeitig durch seine Unnachgiebigkeit bei der Unterdrückung des Generalstreiks vom 11. bis 14. November 1918 «auszeichnen». Offensichtlich sah er in den Schweizer Arbeitern einen furchterregenderen Feind als im deutschen Imperialismus.

Die Bilanz seiner Generalszeit ist ausgesprochen dramatisch: Das Vertrauen in die Neutralität der Schweiz war erschüttert, die Spaltung in der Bevölkerung wuchs, ausländische Interessen wurden über die nationalen gestellt, und es kam zu einer ganzen Reihe peinlicher Skandale.

Es werden wieder Wallfahrten gemacht: Die Sympathien des heutigen Armee-Chefs sind mittlerweile bekannt  …

Heutige Perspektiven

Heute atmet man in Europa Kriegsluft, eine Atmosphäre, die der vor dem Attentat auf Erzherzog Ferdinand sehr ähnlich ist. Und die Schweiz sieht sich erneut mit einer Armeeführung beglückt, die in ihren Beziehungen zu ausländischen Blöcken und Allianzen in einem starken Masse kompromittiert ist. Das könnte uns in einen verheerenden und möglicherweise globalen Konflikt hineinziehen. Es stellt sich die Frage: Brauchen wir wirklich einen weiteren Ulrich Wille? Oder wäre es im Gegenteil nicht besser, wenn an einem so heiklen historischen Punkt ein Kommandant mit bewährter Integrität an die Spitze der Armee gestellt würde? Jemand, der frei von Interessen und Bindungen ist, die ihn dem atlantischen Imperialismus hörig machen?

Wenn solche Situationen in der Vergangenheit bereits aufgetreten sind, sollten Sie als Warnung und nicht als Rechtfertigung dienen, dieselben Fehler zu wiederholen. Wenn es wahr ist, dass aus der Geschichte Lehren gezogen werden können, so ist es auch wahr, dass Sie lernwillige Schüler benötigt.
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1 Nil Malyguine, geboren 1997, hat einen Abschluss in Geschichte an der Universität Padua. Er interessiert sich besonders für die Geschichte Russlands und der Sowjetunion. Seit 2020 ist er Mitglied der Kommunistischen Jugend Schweiz.
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Der Text ist am 16. März auf www.sinistra.ch erschienen. Übersetzt mit Hilfe von Yandex Translator .