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Die Armutsbetroffenen zeigen das Gesicht

Die historische Bedeutung der Kundgebung in Bern (Tag gegen Armut und Ausgrenzung) vom 17. Oktober 2008 darf wegen der beschränkten Teilnehmerzahl von weniger als 100 Teilnehmern nicht unterschätzt werden.

Der Kampf der Armen wird nun erstmals auch auf die Plätze hinaus getragen und beginnt alle Erfahrungen zu sammeln, die er zu seiner Stärkung braucht. Wer sich nicht wehrt, hat schon verloren. Aber es braucht viel Mut, und setzt einen Armutsbetroffenen gewissen Nachteilen aus, wenn er sich offen hinstellt und kämpft. Dieser Mut wurde gestern bewiesen. Die Betroffenen verstecken ihr Gesicht nicht mehr. Das ist die Hauptsache und muss als neues positives Element der Entwicklung gewürdigt werden.

Die Betroffenen machten ihre Forderungen in mehreren Reden deutlich. Es wurde eine Resolution beschlossen, die unter anderem einklagbare soziale Rechte in der Bundesversammlung fordert. Weiter wird die Anhebung des Existenzminimums um ein Drittel verlangt. (mh)

Kabba-Präsident spricht Klartext zur Hetzkampagne gegen die Armen

An der Veranstaltung hörte man manches kämpferische Wort. Als Betroffener warnte Thomas Näf (Präsident Kabba) von der zwecklosen Taktik, allen Revolvergeschichten des Boulevards hinterher zu springen, um jede einzeln zu widerlegen. Diese werden serienweise ersonnen und zu bestimmten Gelegenheiten aufgeblasen. Näf charakterisierte die ganze Missbrauchsdebatte als:

“absichtliche Hetze und als Ablenkungsmanöver. (…) Man hetzt Leute in bescheidenen Verhältnissen auf, damit sie ihre Unzufriedenheit nicht gegen das kapitalistische Wirtschaftssystem kehren, sondern gegen diejenigen, denen es noch schlechter geht.”

Der Redner fuhr fort, man brauche kein Hellseher zu sein, um zu sagen, dass die Missbrauchsdebatte auch bei der Revision des Arbeitslosenversicherungsgesetzes (AVIG) wieder pünktlich auf die Titelseiten kommt. Auch darauf gibt es für den Betroffenen eine klare Antwort:

“Wir setzen den uns vorgeworfenen Missbrauch ins Verhältnis zum realen Missbrauch, über den die neoliberalen Kapitalvertreter so gerne schweigen.”

Misstöne

Wer sich wehrt, muss die Zusammenhänge kennen. Auch die Zusammenhänge zwischen dem Verschwinden der Sowjetunion und der neuen Armut. Damals erklärten die Führer der imperiallstischen Weltmächte den Anbruch einer besseren Zeit und zur Jahrtausendwende unterschrieben fast alle Regierungen der Welt den “Milleniumsplan”, der schon bis 2015 die Halbierung von extremer Armut und Hunger vorsieht. Der Kapitalismus hat im Gegensatz zu diesen Beteuerungen noch viel mehr Armut erzeugt, viele Millionen in tieferes Elend gestürzt und führt Kriege, um die Armut zu verewigen. Am gestrigen (17. Oktober) Tag gegen die Armut musste man sich dennoch antikommunistische Töne anhören. Der Hauptredner Kurt Wyss, von dem eine Ansprache zum Thema Repression und Armut erwartet wurde, zog auf dem Münsterplatz in Bern zu einem Rundumschlag gegen Finanzspekulanten und “Kommunisten der Sowjetzeit” los, ohne jeden Unterschied.

“Es hätte darum zu gehen, die Welt in eine Richtung zu lenken, in der es möglichst keinen Hunger und kein Elend mehr gäbe, in der Freiheit und Sicherheit möglichst aller gewährleistet wären, in der das kritische Denken nicht verbannt, sondern gefördert würde. Es dürfte weiss Gott nicht auf einen neuen Kommunismus hinauslaufen. Die Neoliberalen, Neokonservativen und Neusozialdemokraten, die jetzt schon wieder die Angst davor heraufbeschwören, zeigen damit einzig, wie engstirnig sie denken, darin den Kommunisten der Sowjetzeit übrigens sehr, sehr ähnlich: eine ideologische Linie fest im Kopf und alles sofort verbannend, was dieser Linie nicht entspricht.” (Wyss)

Wer hat denn je mehr in der Geschichte dazu beigetragen, die Welt in eine andere Richtung zu lenken, als die Oktoberrevolution und der Aufbau des Sozialismus in der Sowjetunion? Nein, für viel weit- und breitstirniger als die Bolschewiki je waren, hält Wyss seinen eigenen Appell an das Grosskapital, es möge doch wider die Natur bitte etwas weniger gierig sein:

“Es wäre anzuknüpfen an liberalen … Ideen, die (…) nicht an der möglichen Rendite bemessen.”

Wir verzichten nach dem Motto “Schone deinen Nachbarn wie dich selbst” auf weitere Bemerkungen zu seiner Rede. Manchen Satz von Wyss kann man übrigens unterschreiben, sein Buch “Workfare statt Wellfare” gehört gelesen. Die Armutsbetroffenen sind erklärtermassen eine Bewegung, die nicht nach dem Parteibuch fragt und sich nicht nach Parteibüchern spalten lassen wird. Antikommunistische Ausfälle à la Wyss müssen daran abprallen.

Erste Bilanz positiv

Die Betroffenen müssen anfangen, sich in Massen zu wehren und in diesen Massenkämpfen zu stärken. “Es ist Zeit sich zu wehren.” Das war die Hauptstossrichtung und nach diesem Freitag besteht kein Grund, daran zu rütteln. Die Wirksamkeit der Mittel und Methoden zur Erreichung dieses Ziel ist anhand der Erfahrungen laufend zu überprüfen. Sehr zäh haben Organisationen von Bedrohten und Betroffenen für das Zustandekommen dieser Manifestation gearbeitet. Sie haben den Anlass professionell vorbereitet und souverän durchgeführt und sie werden auch besser als unsereiner imstande sein, die Evaluation vorzunehmen. Daher hier nur eine vorläufige subjektive Einschätzung.

  • Die Armen in der Schweiz haben – erstmals überhaupt in dieser Deutlichkeit – das Gesicht gezeigt, selber gesprochen. Dieses weitaus wichtigste Ziel wurde erreicht. Das ist die Hauptsache und muss als neues positives Element der Entwicklung gewürdigt werden.
  • Auch die Medien haben übrigens ihr Gesicht gezeigt: bei jeden Gerücht über –Sozialmissbrauch» brennt die Sensationsgier. Gestern kamen nur wenige, um die Faktenlage zu recherchieren. Die vielen Informationen über detaillierte Budgets von armen Familien schienen nicht zu interessieren.
  • Die qualitative und quantitative Ziel, die Mobilisierung von Betroffenen weit über den schon organisierten Kreis und die bewährten Freunde hinaus, wurde nicht auf Anhieb realisiert. Die Veranstalter hatten mit deutlich mehr Teilnehmern gerechnet. Dazu waren sie allein schon deswegen berechtigt, weil über 30 Organisationen, darunter solche mit grossen Mitgliederzahlen, der gesamtschweizerischen Manifestation auf dem Münsterplatz ihre Unterstützung zugesichert hatten. Sämtliche örtlichen Linksparteien mit und ohne Anführungsstriche waren offiziell dabei. Das breite Unterstützungskomitee bis hin zu jenen Parteien, welche die Verschärfung der Politik gegen Arme an verantwortlicher Stelle ausführen, hat sich als Papiertiger entpuppt. (So jedenfalls von der Mobilisation vor Ort aus betrachtet, für dieses erste mal)
  • Zur Teilnehmerzahl: Nicht wenige Anwesende (eingeschlossen der Schreibende) mussten schlicht wegen der beissenden Kälte kapitulieren. Um Mittag fand bei wesentlich günstigeren Wetterbedingungen eine Art Konkurrenzveranstaltung grosser Organisationen mit prominenten Lokalpolitikern zum gleichen Thema statt. Obwohl ihr viel grössere Mittel zur Verfügung standen, konnte diese nicht viel mehr mobilisieren als die kämpferische Veranstaltung gegen Abend auf dem Münsterplatz.
  • Wer viele Armutsbetroffene aus mehreren Kantonen zusammenbringen will, muss im voraus auf finanzielle Schwierigkeiten gefasst sein. Die hohen Tarife der öffentlichen Verkehrsmittel sind für Auswärtige ein Problem. Das war im voraus bekannt und die Veranstaltung insofern ein Wagnis. Für quantitative Aussagen im Rahmen der Evaluation darf dieser Umstand nicht vergessen werden: Man muss die Zahl derer dazurechnen, welche die Anliegen der Kundgebung teilen und auch den Weg nicht gescheut hätten, wenn sie es sich hätten leisten können. In Kampfentschlossenheit ausgedrückt, wägt jede Teilnahme dreimal so viel wie die Teilnahme von Leuten, bei denen Geld keine Rolle spielt, an irgendeiner beliebigen Demonstration.

Eine Reihe von wichtigen Nebenzielen wurde erreicht:

  1. In der Vorbereitung der Aktion sind zahlreiche wertvolle Materialien zusammengetragen und ausgewertet worden. Die technischen und politischen Erfahrungen und das meiste schriftliche Material sind auch für die weiteren Kämpfe verwendbar. (siehe Links)
  2. Der gesamtschweizerische Charakter der Bewegung hat eine weitere Festigung erfahren. Das ist nicht das erste erfreuliche Zeichen dieser Art. Auch die Kontakte zwischen der deutschen und französischen Sprachregion wurden dieses Jahr etabliert.
  3. Dass die Organisatoren ein breites Komitee zur Unterstützung zusammengebracht hat, ist an und für sich ein Erfolg, auch wenn er sich nicht in Mobilisation ummünzte. In unterschiedlichen Parteien beginnt der hartnäckige Kampf der Betroffenen seine Früchte zu tragen. Die Forderungen der Betroffenen erscheinen in Wahlprogrammen. Ihre Argumente dringen in die Debatten. Die Armutsbetroffenen können in verschiedenen Parteien auf Freunde zählen, die auch auf dem Münsterplatz anwesend waren.
 

Bericht des «Vorwärts»-online zur Veranstaltung in Bern: Resolutionstext und Reden

Kabba-Mediendienst zur Veranstaltung vom 17.10.2008: Armut in der Nähe