Dekret über den Frieden
einstimmig angenommen in der Sitzung des Allrussländischen Sowjetkongresses der Arbeiter-, Soldaten und Bauerndeputierten am 26. Oktober 1917
Die Arbeiter- und Bauernregierung, die durch die Revolution vom 24./ 25. Oktober geschaffen wurde und sich auf die Sowjets der Arbeiter-, Soldaten- und Bauerndeputierten stützt, schlägt allen kriegführenden Völkern und ihren Regierungen vor, sofort Verhandlungen über einen gerechten demokratischen Frieden zu beginnen.
Ein gerechter oder demokratischer Frieden, den die überwältigende Mehrheit der durch den Krieg erschöpften, gepeinigten und gemarterten Klassen der Arbeiter und der Werktätigen aller kriegführenden Länder ersehnt und den die russischen Arbeiter und Bauern nach dem Sturz der Zarenmonarchie auf das entschiedenste und beharrlichste forderten — ein solcher Frieden ist nach Auffassung der Regierung ein sofortiger Friede ohne Annexionen (d. h. ohne Aneignung fremder Territorien, ohne gewaltsame Angliederung fremder Völkerschaften) und ohne Kontributionen.
Die Regierung Russlands schlägt allen kriegführenden Völkern vor, unverzüglich einen solchen Frieden zu schliessen, wobei sie sich bereit erklärt, sofort ohne die geringste Verzögerung alle entscheidenden Schritte zu unternehmen — bis zur endgültigen Bestätigung aller Bedingungen eines solchen Friedens durch die bevollmächtigten Versammlungen der Volksvertreter aller Länder und aller Nationen.
Unter Annexion oder Aneignung fremder Territorien versteht die Regierung, im Einklang mit dem Rechtsbewusstsein der Demokratie im allgemeinen und der werktätigen Klassen im besonderen, jede Angliederung einer kleinen oder schwachen Völkerschaft an einen grossen oder mächtigen Staat, ohne dass diese Völkerschaft ihr Einverständnis und ihren Wunsch genau, klar und freiwillig zum Ausdruck gebracht hat, unabhängig davon, wann diese gewaltsame Angliederung erfolgt ist, sowie unabhängig davon, wie entwickelt oder rückständig eine solche mit Gewalt angegliederte oder mit Gewalt innerhalb der Grenzen eines gegebenen Staates festgehaltene Nation ist, und schliesslich unabhängig davon, ob diese Nation in Europa oder in fernen, überseeischen Ländern lebt.
Wenn irgendeine Nation mit Gewalt in den Grenzen eines gegebenen Staates festgehalten wird, wenn dieser Nation entgegen ihrem zum Ausdruck gebrachten Wunsche — gleichviel, ob dieser Wunsch in der Presse oder in Volksversammlungen, in Beschlüssen der Parteien oder in Empörungen und Aufständen gegen die nationale Unterdrückung geäussert wurde — das Recht vorenthalten wird, nach vollständiger Zurückziehung der Truppen der die Angliederung vornehmenden oder überhaupt der stärkeren Nation in freier Abstimmung über die Formen ihrer staatlichen Existenz ohne den mindesten Zwang selbst zu entscheiden, so ist eine solche Angliederung eine Annexion, d. h. eine Eroberung und Vergewaltigung.
Diesen Krieg fortzusetzen, um die Fragen zu entscheiden, wie die starken und reichen Nationen die von ihnen annektierten schwachen Völkerschaften unter sich aufieilen sollen, hält die Regierung für das grösste Verbrechen an der Menschheit, und sie verkündet feierlich ihre Entschlossenheit, unverzüglich die Bedingungen eines Friedens zu unterzeichnen, der diesem Krieg unter den obengenannten, für ausnahmslos alle Völkerschaften gleich gerechten Bedingungen ein Ende macht.
Gleichzeitig erklärt die Regierung, dass sie die obengenannten Friedensbedingungen keineswegs als ultimativ betrachtet, d. h., dass sie bereit ist, auch jegliche anderen Friedensbedingungen zu erwägen, und lediglich darauf besteht, dass die Friedensbedingungen von irgendeinem kriegführenden Land möglichst rasch und mit vollster Klarheit, bei unbedingter Ausschaltung jeder Zweideutigkeit und Geheimhaltung angeboten werden.
Die Regierung schafft die Geheimdiplomatie ab; sie erklärt, dass sie ihrerseits fest entschlossen ist, alle Verhandlungen völlig offen vor dem ganzen Volke zu führen, und geht unverzüglich dazu über, alle Geheimverträge zu veröffentlichen, die von der Regierung der Gutsbesitzer und Kapitalisten in der Zeit vom Februar bis zum 25. Oktober 1917 bestätigt oder abgeschlossen wurden. Der ganze Inhalt dieserGeheimverträge, soweit er, wie es zumeist der Fall war, den Zweck hatte, den russischen ‚Gutsbesitzern und Kapitalisten Vorteile und Privilegien zu verschaffen, die Annexionen der Grossmssen aufrechtzuerhalten oder zu erweitern, wird von der Regierung bedingungslos und sofort für ungültig erklärt.
Indem sich die Regierung an die Regierungen und Völker aller Länder mit dem Vorschlag wendet, sofort offene Verhandlungen über den Friedensschluss aufzunehmen, gibt sie ihrerseits ihrer Bereitschaft Ausdruck, diese Verhandlungen sowohl schriftlich, telegraphisch als auch durch mündliche Unterhandlungen mit Vertretern der verschiedenen Länder oder auf Konferenzen dieser Vertreter zu führen. Um solche Unterhandlungen zu erleichtern, entsendet die Regierung ihren bevollmächtigten Vertreter in die neutralen Länder.
Die Regierung schlägt allen Regierungen und Völkern aller kriegführenden Länder vor, sofort einen Waffenstillstand abzuschliessen, wobei sie es ihrerseits für wünschenswert hält, dass dieser Waffenstillstand auf mindestens drei Monate abgeschlossen wird, d. h. auf eine Frist, die völlig ausreicht sowohl für den Abschluss von Friedensverhandlungen, an denen Vertreter ausnahmslos aller Völkerschaften oder Nationen teilnehmen sollen, die in den Krieg hineingezogen oder hineingezwungen wurden, als auch für die Einberufung bevollmächtigter Versamm-lungen der Volksvertreter aller Länder zur endgültigen Bestätigung der Friedensbedingungen.
Die Provisorische Arbeiter- und Bauernregierung Russlands, die dieses Friedensangebot an die Regierungen und an die Völker aller kriegführenden Länder richtet, wendet sich gleichzeitig insbesondere an die klassenbewussten Arbeiter der drei fortgeschrittensten Nationen der Menschheit und der grössten am gegenwärtigen Kriege beteiligten Staaten: Englands, Frankreichs und Deutschlands. Die Arbeiter dieser Länder haben der Sache des Fortschritts und des Sozialismus die grössten Dienste erwiesen — in den grossen Vorbildern der Chartistenbewegung in England, in der Reihe der Revolutionen von weltgeschichtlicher Bedeutung, die das französische Proletariat vollbracht hat, und schliesslich im heroischen Kampf gegen das Sozialistengesetz sowie in der für die Arbeiter der ganzen Welt mustergültigen langwierigen und beharrlichen disziplinierten Arbeit an der Schaffung von proletarischen Massenorganisationen in Deutschland.
Alle diese Vorbilder proletarischen Heldentums und geschichtlicher Schöpferkraft sind für uns eine Bürgschaft, dass die Arbeiter der genannten Länder die ihnen jetzt gestellte Aufgabe der Befreiung der Menschheit von den Schrecken des Krieges und seinen Folgen begreifen werden; diese Arbeiter werden uns durch ihre allseitige, entschiedene, grenzenlos energische Tätigkeit helfen, die Sache des Friedens und zugleich damit die Sache der Befreiung der werktätigen und ausgebeuteten Volksmassen von jeder Sklaverei und jeder Ausbeutung erfolgreich zu Ende zu führen.
Der Vorsitzende
des Rats der Volkskommissare
Wladimir Uljanow Lenin
Lenin Werke, Bd. 26, S. 239-242