[Cunhal: Die sechs grundlegenden Charakterzüge einer Kommunistischen Partei I]
I. Kapitel
Das 20. Jahrhundert bleibt für immer geprägt durch die russische Revolution von 1917, die politische Macht des Proletariat und den geschichtlich erstmaligen dauerhaften Aufbau einer Gesellschaft ohne Ausbeuter und Ausgebeutete.
Schon vor der Oktoberrevolution kam es zu Auflehnungen, Aufständen und Revolten unter den Sklaven, Leibeigenen und anderen ausgebeuteten und unterdrückten Klassen. Aber in keinem Fall hatten diese Kämpfe das Ziel (geschweige denn die Aussicht auf die Möglichkeit), eine neue Gesellschaft aufzubauen, die zur Freiheit führen konnte.
Die Fälschungen der offiziellen Geschichtsschreibung, die verleumderischen und gewaltigen antikommunistischen Kampagnen, dazu die Verleugnung der eigenen Vergangenheit durch einige, zwingen die Kommunisten dazu, in Erinnerung zu rufen, was die russische Revolution von 1917 und der Aufbau der Sowjetunion waren und was sie bedeuteten. Wir müssen daran erinnern und festhalten, dass es sich um das wichtigste geschichtliche Ereignis des 20. Jahrhunderts und um eines der bemerkenswertesten der Menschheitsgeschichte handelt.
Auch daran ist zu erinnern, dass das Proletariat bereits 1871 mit der Commune de Paris, der direkten Vorläuferin der russischen Revolution, die Macht eroberte, und dass es den Aufbau einer neuen Gesellschaft begann, wobei die Massen ihren Heldenmut bewiesen.
Es ist daran zu erinnern, dass in Frankreichs Hauptstadt Paris während 102 Tagen die rote Fahne der Arbeiterklasse über dem Rathaus wehte. Zu erinnern an den Überfall der reaktionären Truppen, an die ungeheuerliche Repression, an das Massaker an 30’000 Kommunarden, an die Summe von 100’000 Ermordeten, Exekutierten und zur Zwangsarbeit Verurteilten.
Aber immerhin ist zu unterstreichen, dass die Bedeutung der Commune de Paris nicht darin liegt, dass sie der neuen Geschichte der Menschheit den Weg aufgetan hätte. Sie glich vielmehr der Morgenröte, welche die russische Revolution ankündigte. Die Oktoberrevolution machte faktisch die Bahn frei für ein neues Gesellschaftssystem ohne seinesgleichen in der Geschichte. Viele vergessen, dass dieses System als Alternative zum Kapitalismus während Jahrzehnten an Boden gewinnen konnte. Das sind Vorgänge, die für alle Zeit Anknüpfungspunkte und Werte im Kampf der Menschheit um die eigene Befreiung bleiben werden.
Der Aufbau des neuen Staates, ausgedrückt in der Losung –Alle Macht den Sowjets der Arbeiter, Bauern und Soldaten–, bedeutete die Errichtung der Volksmacht als Grundelement des Staats und einer Demokratie, welche –tausendmal demokratischer ist als die demokratischste aller bürgerlichen Demokratien–.
Auf dem Gebiet der Wirtschaft, und ausgehend von der Arbeiterkontrolle, wurden Grund und Boden, Fabriken, Minen, Eisenbahnen, Banken in Staats- und Volksbesitz überführt, was eine blitzschnelle Entwicklung auslöste.
Abgesehen von diesen Staatsbetrieben wurde mit der landwirtschaftlichen Kollektivierung auch die Agrarproduktion tiefgreifend umgestaltet, wobei den Sowchosen (staatliche Produktionseinheiten) und der Massenbewegung der Kolchosen (Genossenschaften) die entscheidende Rolle zukam.
Auf gesellschaftlicher Ebene wurden die Rechte auf Wohnung, medizinische Versorgung und Schulunterricht gesichert. Die Gleichberechtigung der Frauen wurde in der Tat anerkannt. Die kulturellen Einrichtungen wurden von der Beherrschung durch grosse Herren befreit.
Die Sowjetunion erzielte grosse Entdeckungen und Fortschritte in der Wissenschaft und den neuen und revolutionären Technologien, welche ihr gestatteten, neben dem wirtschaftlichen und sozialen Entwicklung auch militärisch ein Potential zu erlangen, das die aggressive Politik des Kapitalismus jahrzehntelang in Schach hielt. Die Tatsache, dass ein Sowjetbürger der erste Mensch war, der sich von der Erdanziehungskraft löste und im Weltraum schwebte, veranschaulicht diesen spektakulären Erfolg.
Wichtig ist es auch, den Beitrag nicht zu vergessen, welchen die Sowjetunion an die Entwicklung des Kampfs der Werktätigen und der Völker der ganzen Welt geleistet hat, ebenso an neue sozialistischen Revolutionen, an die Eroberung fundamentaler Rechte der Lohnabhängigen in den kapitalistischen Ländern, an die Entfaltung der nationalen Befreiungsbewegungen und – zum Preis von über 20 Millionen Leben (im Einsatz der Streitkräfte, in Konzentrationslagern, in gigantischen Massakern an der wehrlosen Bevölkerung) – um Hitlerdeutschland im Zweiten Weltkrieg niederzuwerfen, indem sie den entscheidenden Beitrag zur Rettung der Welt vor der faschistischen Barbarei erbrachte.
Die objektive Darstellung und Wertung dieser Tatsache genügt jedoch nicht. Es ist unerlässlich, zugleich eine kritische und selbstkritische Untersuchung der festgestellten negativen Aspekte, Fakten und Erscheinungen vorzunehmen.
Eine grundlegende Wahrheit ist, dass der Zusammenbruch der Sowjetunion und anderer sozialistischer Staaten das Ergebnis einer Reihe von äusseren und inneren Umständen darstellt. Nicht beide von gleichem Einfluss. Gewichtiger waren die inneren Faktoren. Tatsache ist, dass sich beim Aufbau der neuen Gesellschaft eine zunehmende Entfernung von den Idealen und Grundsätzen der Kommunismus zeigte, ein fortschreitender Niedergang der Politik von Staat und Partei. Kurzum: es entstand ein –Modell–, welches, mit Gorbatschows Verrat, zur Niederlage und zum Zusammenbruch führte.
Das –Modell–, das da entstand, äusserte sich politisch in einer hohen Zentralisierung und Bürokratisierung der Macht, in einer administrativen Art des Herangehens an die politischen Entscheide, in der Intoleranz gegenüber der Meinungsvielfalt und gegenüber jeder Machtkritik, im Gebrauch und Missbrauch repressiver Methoden sowie in der Erstarrung der Theorie zum Kristall und Dogma.
Damit ist die politische Macht der Arbeiterklasse und der werktätigen Massen kompromittiert. Kompromittiert ist die neue Demokratie. Kompromittiert die oekonomische Entwicklung, welche – gestützt auf Kampfbereitschaft und Willen des Volkes – in den ersten Jahrzehnten der Sowjetunion einen schwindelerregenden Rhythmus erreichte. Kompromittiert ist der dialektische, kreative und schöpferische Charakter der revolutionären Theorie, die notwendigerweise Antworten auf die Veränderungen der Realität und die praktischen Erfahrungen zu geben hat.
Die Prüfung sowohl der historischen Errungenschaften wie dieser verhängnisvollen Ereignisse, und gleichermassen die Prüfung der Erfahrungen der internationalen kommunistischen Bewegung, stellt die kommunistischen Parteien vor die Notwendigkeit, die sozialistische Gesellschaft neu zu definieren, die ihr Ziel und das fundamentale Element ihrer Identität bildet.
Obwohl durch das sozialistische Lager und den Fortschritt des revolutionären Weltprozesses noch bis in die letzten Jahrzehnte des 20. Jahrhunderts in Schranken gewiesen, verzeichnete der Kapitalismus eine Entwicklung, die ihn am Ende des Jahrhunderts die Überlegenheit im Weltmassstab erlangen liess.
Zwei Faktoren waren für das Eintreten dieser Lage bestimmend.
Einerseits das Verschwinden der Sowjetunion und anderer sozialistischer Staaten, die Schwächung der internationalen kommunistischen Bewegung und der nationalen Befreiungsbewegung, die Rückbildung von revolutionären Prozessen.
Andrerseits die Entwicklung des Kapitalismus auf den Gebieten der Produktion, der Wissenschaft und Forschung, der revolutionären Technologien und der militärischen Schlagkraft.
Als Resultat davon trat am Ende des 20. Jahrhunderts eine Umkehr des Kräfteverhältnisses ein, was dem Imperialismus gestattete, eine gigantische Offensive auszulösen, die darauf abzielt, seine absolute Herrschaft auf dem ganzen Planeten zu erreichen.
Während mehr als drei Vierteln des 20. Jahrhunderts unterlag die Entwicklung einer allgemeinen Tendenz zum Fortschreiten des Sozialismus und des Befreiungskampfs der Völker.
Eine Umkehrung dieser Tendenz ergab sich in den letzten Jahrzehnten des Jahrhunderts. Diese Veränderung des Kräfteverhältnisses war es, die es dem Kapitalismus erst möglich gemacht hat, eine –globale– Offensive zu entfesseln.