Geschichte: Hat Stalin sich Lenin gleichgestellt oder sich gar als Held betrachtet?
In Russland werden die Archive neu gelesen. Man will verstehen, was passiert ist. Und Historiker produzieren Werke, die von Qualität sind – ohne Stigmatisierung und ohne Entschuldigung. Das historische Interesse geht oft mit einer Neubewertung der Sowjetunion und der Herausbildung eines neuen sowjetischen Bewusstseins einher. Das mag häufig auf die Erfahrung zurückzuführen sein, heute der gleichen westlichen Aggression ausgesetzt zu sein wie es die sowjetischen Menschen waren. Klar, dass dabei auch Stalinsche Facetten Aufmerksamkeit auf sich ziehen. Die französische Bloggerin DANIELLE BLEITRACH1 hat eine solche herausgefischt und sich mit dem Personenkult befasst, der Stalin nachgesagt wird.
Heute ist es üblich zu sagen, dass Stalin einen «Kult um seine Person» inszeniert hätte, und um diese Chruschtschowsche These zu unterstreichen, wird darauf hingewiesen, dass Stalin schliesslich den Titel «Generalissimus der Sowjetunion» führte.
In diesem Zusammenhang ist es für viele Russen und nicht nur für Kommunisten nützlich, sich daran zu erinnern, dass das Politbüro des Zentralkomitees der WKP (B) nach dem Sieg von 1945 in Anbetracht der herausragenden Verdienste von J. W. Stalin im Grossen Vaterländischen Krieg beschloss, ihm nicht nur den Titel eines Generalissimus zu verleihen, sondern auch
- Moskau in «Stalins Stadt» umzubenennen;
- J. W. Stalin den Titel «Held der Sowjetunion» zu vergeben.
W. M. Molotow, langjähriger Volkskommissar für Aussenpolitik, der sich 1956 wie Kaganowitsch geweigert hatte, Stalin zu denunzieren, erwähnte diese Tatsache in einem Gespräch mit dem Schriftsteller Felix Tschujew: «Sie schlugen dringend vor, Moskau in «Stadt Stalins» umzubenennen. Sie waren sehr aufdringlich! Ich war dagegen. Kaganowitsch verteidigte auch diese Idee. Er erklärte: ‹Es gibt nicht nur Leninismus, sondern auch Stalinismus!› Stalin war empört… Er weigerte sich entrüstet, die Hauptstadt umzubenennen.»
Solche Vorschläge wurden schon früher gemacht – in den späten 1930er Jahren wurde vorgeschlagen, Moskau in «Stalinodar» umzubenennen. Aber Stalin verurteilte alle derartigen Initiativen.
Was den Titel eines Helden angeht, so wurde ihm dieser offiziell verliehen. Man muss sich aber die ganze Geschichte ansehen: Das Gespräch kam darauf, Stalin nach dem Krieg den Titel eines Helden der Sowjetunion zu verleihen. Stalin aber sagte, dass er nicht in den Status eines Helden der Sowjetunion passe. Ein Held wird als solcher bezeichnet, weil er persönlich Mut zeigt. «Solchen Mut habe ich nicht gezeigt,» sagte Stalin. Und er hat den Stern nicht angenommen.
«Ich habe nicht so viel Mut gezeigt» – nachdem ich das gelesen hatte, erinnerte ich mich sofort an die Geschichte, die in den Memoiren von Marschall Golowanow beschrieben wird. In den kritischsten Tagen der Schlacht um Moskau, als Stalin vom Hauptquartier der Westfront angerufen wurde und ihm geraten wurde, die Hauptstadt zu verlassen, antwortete er, dass er nirgendwo ausserhalb Moskaus hingehen würde, und denen, die ihn dazu aufforderten, riet er, Schaufeln zu nehmen und ihre Gräber zu schaufeln. «Ich habe keinen Mut gezeigt» – man muss sich bewusst werden, wer diese Worte sagte und wer dahinter steckte.
Nun, was den Titel des «Generalissimus» angeht. Marschälle, Generäle und Minister überredeten ihn zur Annahme. Stalin akzeptierte, bedauerte es dann aber. Molotow sagte dazu: «Er hat es immer bereut. Stalin ist das Oberhaupt der kommunistischen Bewegung, er hat den Sozialismus aufgebaut. Er brauchte diesen Titel nicht. Nein, es tat ihm wirklich leid.»
Genau darum geht es. Und nach Stalins Tod prangerten dieselben Marschälle (wie Schukow), Generäle (wie Chruschtschow) und Minister (wie Mikojan), die ihn überredet hatten, diesen Titel anzunehmen, plötzlich die «Eitelkeit» Stalins an, der sich den Titel Generalissimus «angeeignet» habe.
Zum Vergleich möchte ich daran erinnern, dass der Oberanprangerer von Stalin, Nikita Chruschtschow, sich in nur elf Jahren an der Macht vier goldene Sterne – drei Helden der sozialistischen Arbeit (1954, 1957) und einen Helden der Sowjetunion (1964) – verleihen liess. Ich kann mich an keinen Krieg erinnern, der unter Chruschtschows Führung gewonnen worden wäre … war er etwa im Jahr 1964 «mutig»?
Es drängen sich allgemeine Schlussfolgerungen auf. Ist also Stalin wirklich der vor Eitelkeit aufgeblasene Typ und Chruschtschow der selbstlose Kämpfer? Ist es nicht genau das, was uns die Medien heute erzählen?
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1 _Der Text von Danielle Bleitrach erschien am 24. April 2021 in ihrem Blog Histoire et société. Quelle: Felix Tschujew: «140 Gespräche mit Molotow»*