Filmfestival Locarno: Solaris Visionen zwischen selektiver Erinnerung und politischer Ausgrenzung
von
Zeno Casella1
sinistra.ch. Horror, das absolut Böse, Bestialität. Gegen diese und andere Übel sollte das «Locarno Festival» (das bis 2017 unter dem Namen «Festival internazionale del film di Locarno» bekannt war, bevor es eine unpassende, aber bedeutende lexikalische Wendung erfuhr) nach den Absichten seines Präsidenten Marco Solari in diesem Jahr antreten, um uns zu retten. Als Leuchtfeuer des Lichts und der Zivilisation im Meer der Finsternis des Jahres 2022 wurde das Festival von Locarno von allen Rednern der Eröffnungszeremonie als unersetzliches Viaticum zu den Schrecken des «mittelalterlichen Krieges» (Manuele Bertoli dixit) in der Ukraine bezeichnet. Das Kino, «ein offenes Fenster zur Welt», würde in der Tat zum Nachdenken anregen und die Fehler der Vergangenheit vermeiden.
In vielen Worten wurde Locarno (und allgemein das Tessin) als sicherer Hafen gegen den «Totalitarismus» gepriesen, auf politischer Ebene noch mehr als auf der Ebene des Kinos. Bundesrat Alain Berset erinnerte an den Aufenthalt des Anarchisten Michail Bakunin im Tessin (dem die Stadt Locarno vor einigen Jahren die Benennung eines Platzes verweigerte), gefolgt vom unermüdlichen Solari, der die Gastfreundschaft des Tessins für antifaschistische Exil-Italiener sozialistischer, liberaler und anarchistischer Weltanschauung lobte. Der Festspielpräsident hatte wenigstens den guten Willen (oder die Bosheit?), die Kommunisten nicht zu erwähnen, deren Partei 1940 sogar in der demokratischen Schweiz verboten wurde und deren italienische Führer (wie Togliatti, Longo oder Terracini) die Eidgenossenschaft, von der Polizei gejagt, verlassen mussten.
Marco Solaris merkwürdige historische «Vergesslichkeit» kommt zu einer besonderen Auffassung von der Rolle des Festivals hinzu. Das Programm, in dem es gewiss nicht an wertvollen und interessanten Filmen mangelt, zeichnet sich durch das Fehlen eines ganzen «Teils der Welt» aus, der de facto von den Wettbewerben und Vorführungen ausgeschlossen ist. Mit Ausnahme von «Skazka» des Antikommunisten Alexander Sokurow, der seit langem für seine ablehnende Haltung gegenüber der russischen Regierung bekannt ist, sind im internationalen Wettbewerb keine Spielfilme aus Ländern vertreten, die sich in Richtung Multipolarität bewegen (wie Russland und China). Das Gleiche gilt für die anderen Teile des Programms.
Es ist daher schwer zu verstehen, wie Locarno, wie Kulturminister Berset es nannte, eine «kulturelle Hauptstadt» darstellen kann, geschweige denn, wie diese Ausgabe des Festivals eine Gelegenheit zur Begegnung und zum Austausch sein kann. Stattdessen überwiegt der Eindruck eines Konfrontationswillens, der sich in der Ausgrenzung von Regisseuren und Filmen äussert, die nicht mit der westlichen, den imperialistischen Interessen der USA und der Nato unterworfenen Kulturindustrie übereinstimmen und ihr schon gar nicht gefallen. In diesem Sinne sind die Worte der künstlerischen Leiterin Giona Nazzaro, die sich freute, «nur Freunde» im Festivalpublikum zu sehen, bezeichnend: Nun, welchen Austausch, welchen Dialog kann man ohne Gegner, ohne Kritiker, ohne Verfechter unterschiedlicher Thesen und Ansätze führen?
Es lohnt sich vielmehr, die reiche Geschichte des Festivals zu würdigen, die in einer kürzlich erschienenen Dokumentation von Lorenzo Buccella nachgezeichnet wird. Anstatt sich mit Freunden zu umgeben, kümmerte sich der damalige Direktor Vinicio Beretta in den 1950er Jahren nicht um die heftige antikommunistische Kritik der eidgenössischen Presse, als er das Festival für das sowjetische Kino öffnete, wobei er mit Vetos und Schwierigkeiten konfrontiert wurde, aber dennoch die Türen für die östlichen Länder im Namen des Dialogs und der kulturellen Konfrontation offen hielt. Es ist merkwürdig zu beobachten, wie viel die liberale Intoleranz unserer Zeit, die darauf bedacht ist, die «totalitäre Unterwanderung» zu bekämpfen, mit der McCarthyschen Intoleranz der 1950er Jahre gemeinsam hat. Die Mittel, der Ton und die dichotome Vision sind im Wesentlichen dieselben wie damals. Wenn dies die Visionen von Marco Solari für die Neuausrichtung und Wiederbelebung des Locarno Festivals sind, können wir nur erneut unsere Ablehnung bekunden (die wir bereits in der Vergangenheit auf diesem Portal zum Ausdruck gebracht haben), die unserer Meinung nach im Übrigen der Geschichte und Tradition des Festivals selbst entspricht.
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1 Zeno Casella, geboren 1996, ist Gemeinderatsmitglied in Capriasca für die Kommunistische Partei. Von 2015 bis 2020 war er Koordinator der Unabhängigen Studenten- und Lehrlingsvereinigung (SISA).
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Dieser Text ist am 4. August 2022 erstmals in sinistra.ch erschienen.