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300 Jahre Bach-Choral: Zur Dialektik der Musik
Vor 300 Jahren wurde Bachs berühmter Choral «Jesus bleibet meine Freude» uraufgeführt. Genauer gesagt handelt es sich um den X., berühmtesten Satz seiner Kantate BWV 147 mit dem Titel «Herz und Mund und Tat und Leben» … also ein ganzes Programm. Ein kleiner Gang durch die Musikgeschichte und ihrem dialektischen Bezug zur Gesellschaftsentwicklung.
Bach hatte diese Kantate für den Advent komponiert, also in der Zeit vor Weihnachten.
Damals waren die Musiker räumlich in der Kirche verteilt, um eine Art musikalische Hülle zu schaffen, die vielleicht auch auf die unsichtbare Immanenz des Schöpfers hindeuten sollte, aber auch darauf, dass Weihnachten überall atmet und Freude bringt, um es in der kalten Jahreszeit zu teilen.
1723 ist das Jahr, in dem Bach in Leipzig die Stelle des Kantors antritt. Eine Stadt, in der die protestantische Konfession so im Vordergrund stand, dass man ein theologisches Examen ablegen musste, um für das Kantor-Amt eingestellt zu werden. Bach hatte gerade seine erste Frau und einen Sohn verloren: omnia vincit labor …
Wie kann man die Kraft von Bachs Musik verstehen, die dreihundert Jahre später in einem so unterschiedlichen Kontext zu uns spricht und uns immer noch berührt? Man liest oft Kommentare, die ihn mit Gott in Verbindung bringen (als dessen Stimme oder gar Erscheinung). Aber Bachs Musik war auch weltlich, und deren Stil unterscheidet sich nicht von dem seiner Kirchenkantaten (vgl. die Kaffeekantate oder die Bauernkantate). Seine Kraft liegt in seiner Schrift, seiner musikalischen Struktur, die man unbewusst wahrnimmt (ein Musiker aber explizit), und seinen Charakteren, die im Laufe der Jahrhunderte oder sogar darüber hinaus empirisch geprägt und dann genau in Bachs Zeit mathematisch konzeptualisiert wurden (Werckmeister beendete die temperierte Tonleiter 1689). Aber Bach war sehr vertraut mit der theoretischen Innovation seiner Zeit und versiert in Mathematik, spielte mit Symbolen, was man sogar in seinem Humor wahrnimmt, wenn er zum Beispiel seinen in Serie übertragenen Namen spielerisch zum Signieren verwendete: B-A-C-H, um so selbst zu einem musikalischen Wesen zu werden (Mozart hatte auch Spass an solchen Spielen).
Bach war unter anderem der Meister des Kontrapunkts…
Woher kommt also die Kraft der klassischen Musik, uns zu berühren, aus dieser Fähigkeit, ohne Worte zu uns zu sprechen, unsere Stimmung zu verklären, zutiefst? De Nerval erwähnt es in seinem Gedicht «Fantaisie»: «Es ist eine Melodie, für die ich alles Rossini, alles Mozart und alles Weber gäbe ….», aber suchen wir hier stattdessen nach Gründen, die ihrer Sprache innewohnen.
Bereits das Wesen der Musik ist zutiefst dialektisch: Sie widersetzt sich dem Lärm, da sie die Klänge nach ihrer Tonhöhe (Frequenz) und ihrer Klangfarbe unterscheidet. Aber ipso facto stellt sie, wie bei der gesprochenen Sprache, die Klänge selbst einander gegenüber, sie operiert sowohl mit Ähnlichkeit (Oktave, Unisono, Harmoniesuche) als auch mit Kontrast (Überlagerung verschiedener Klänge, Dissonanzen). Dies kann die Wahrnehmung des Einzelnen in der Gesellschaft, der er angehört, widerspiegeln, während er gleichzeitig danach strebt, sich von ihr zu unterscheiden: Polyphonie findet sich in allen Gesellschaften und besteht darin, unabhängige Melodien übereinander zu legen, die sich aber gegenseitig anhören. Aber die Musik hat sich auch auf der Monodie gebildet, eine Tendenz, die sich im Osten fortsetzte, während der Westen sich in immer ausgefeilterer Weise der Gegenüberstellung von Klängen zuwandte. Und diese Überlagerung berührt uns, da sie gleichzeitig zwei gegensätzliche Bestrebungen ausdrückt (z. B. wird in einem Kontrapunkt eine aufsteigende Melodie über eine absteigende gelegt). Dieser Dualismus muss strukturell bedingt sein.
Schwingungen einer Saite beschreiben physikalisch gesehen sinusförmige, periodische Kurven mit verschiedenen Intervallen, die ganzzahligen Bruchteilen des Abstands zwischen den beiden Enden der Saite entsprechen. Ein Ton, der von einer schwingenden Saite ausgesendet wird, erzeugt daher harmonische Töne des Grundtons, die der Oktave (halbe Saite), der Quinte (Drittel der Saite) usw. entsprechen, wobei nicht alle Töne in harmonischen Beziehungen zueinander stehen: Harmonie erzeugt Dissonanz.
Die dialektische Natur der Musik liegt auch in der Natur der Klänge und Harmonie begründet. In der Tat, wenn wir auf Pythagoras (6. Jh. v. u. Z.) zurückgehen, dann existiert der Begriff der Tonleiter, das heisst der Familie verwandter Töne, in bestimmten Frequenzverhältnissen (entsprechend ganzzahligen Längenverhältnissen, Brüchen), die kombinierbar, überlagerbar oder nicht sind. Dabei ist die Grundlage dieser Tonleiter die Quinte (Verhältnis 3:2), und dann erhält man durch eine Art Algorithmus von Quinte zu Quinte eine endliche Familie von Tönen (7 für ganze Töne, 12 mit Halbtönen). In Wirklichkeit ist diese Familie nur annähernd endlich und wirft bereits unlösbare Probleme auf: Tatsächlich führt diese Verkettung von Klängen, die paarweise gut klingen (deren Prinzip wir beispielsweise in China zu sehr alten Zeiten finden), schliesslich zu hörbaren Dissonanzen zwischen zwei dieser Klänge, und ausserdem erweist es sich als unmöglich, die Melodien in höhere oder niedrigere Intervalle zu transponieren, da die menschlichen Stimmen unterschiedliche Tonhöhen haben. Aus mathematisch erklärbaren Gründen (die Häufigkeitsverhältnisse zweier aufeinanderfolgender Noten sind nicht gleich, die Skala ist unregelmässig): Es reicht aus, die Liste der Brüche zu haben, um dies zu überprüfen. Tatsächlich ist es mathematisch und physikalisch unmöglich, zu einer Harmonie der Klänge zu gelangen. Aber die Musik hat sich weiterentwickelt und es wurden bevorzugte Lösungen gefunden: Um ein Problem zu lösen, hat man die Tonskala auf Kosten ihrer natürlichen Korrektheit verändert; mit dem Ziel, damit die Blockaden zu überwinden.
Der Höhepunkt der Suche nach einer Tonleiter, die es ermöglicht, Melodien zu transponieren, und dabei (relativ) relativ akkordische Korrektheit zu wahren, war schliesslich Werckmeisters temperierte Tonleiter mit dem tonalen System (C-Dur, B-Moll usw.), dessen Gültigkeit Bach in seinem wohltemperierten Klavier (1722–1744) nachwies.
Laut Ernst Blochs «Philosophie der Renaissance» war diese theoretische Entwicklung ein Spiegelbild der sozialen Evolution: Übergang von einer Tonart zur anderen entsprach der Durchlässigkeit oder den Übergängen der sozialen Klassen. Auffallend ist auch hier das Spiegelbild der sozialen Ordnung in der Anzahl der Noten der Tonleiter: in China gab es 5 Klassen in der sozialen Hierarchie, und in der pentatonischen Tonleiter der ostasiatischen Musik mit ihren 5 Noten spiegelt die Musik die soziale Ordnung wider.
Einige Meilensteine
Im Hochmittelalter gibt es den Cantus planus, einen monodischen Stil, der in der christlichen Liturgie verwendet wird und von den Griechen, aber auch vom Judentum oder von den Römern stammt, mit verschiedenen Modi oder Intervallfamilien.
So folgt die melodische Strukturierung im Gregorianischen Gesang einer Progression, die sich von einem Zentrum entfernt und dann zu ihm zurückkehrt (Tonika–Dominante (Quinte)–Tonika: C G C); in diesem Stil gibt es keinen Rhythmus, man folgt der Prosodie der Sprache, so wie man sie spricht, fügt einfach eine Melodie hinzu.
Aber dieses Verfahren enthielt seine Entwicklung im Keim, denn um die Melodien auswendig zu lernen, führten die Sänger «Tropen» ein, also Wörter, die nach Silben festgelegt werden sollten (beachten Sie nebenbei, dass die lateinischen Sprachen in ihrer Schrift und Phonetik Silben sind) – die in den Namen der Noten in den lateinischen Ländern aufgezeichnet wurden (do-re-mi-fa-so-la-ti). Und dieses Verfahren hatte den Effekt, Melodien zu entwickeln, die in einigen Jahrhunderten zur Motette führten, der kontrapunktischen Form schlechthin.
Dann entwickelte sich im 9. Jahrhundert die gelehrte Polyphonie, die auf der pythagoreischen Tonleiter, d. h. der richtigen Quinte (C–G), beruhte: der Stil bestand damals darin, zwei Stimmen parallel zu überlagern, die Hauptstimme und die Organstimme, die die Vorherige stützte und verstärkte, wobei Sie mit ihr korrekte Akkorde bildete (Quinte, Quarte, Oktave oder Unisono), aber ipso facto alle anderen Akkorde ausschloss, die als dissonant galten – und physisch auch so waren. Dieser Stil wird daher Organum genannt. Zu dieser Zeit sind die Orgeln mit einem System ausgestattet, mit dem die Stimmen vervielfältigt werden können, jedoch nur nach dieser Akkordfamilie. Gleichzeitig erscheint die Bourdon, die Bassglocke, die in pythagoräischer Harmonie mit der oberen Melodie tiefer erklingt. Während sich alles entwickelte, konnte die Musik nicht der schönen pythagoreischen Übertonharmonie überlassen bleiben, die durch die erlaubten Akkorde begrenzt war. Sicherlich musste das Volk, das im Chor sang, die Melodien empirisch transponieren, damit Sie richtig klangen.
Im 11. Jahrhundert entstand dann die Gegenbewegung, eine grosse Innovation, die als Geburtsstunde des Kontrapunkts galt. Diese Bewegung entsteht in Italien in einer Phase der Auseinandersetzung mit der päpstlichen Autorität und des wirtschaftlichen Umbruchs, der Entwicklung des Handels, einer dynamischen Phase des Zusammenbruchs und des Übergangs (Entstehung von Städten wie Venedig, Genua, Pisa, Mailand, Florenz (Wolle!) … des demografischen Aufschwungs und auch des Zusammenlebens entgegengesetzter sozialer Schichten in den Städten. Dies ist die Entstehung einer neuen sozialen Klasse: der Bourgeoisie.
Auf musikalischer Ebene führt die Gegenbewegung zur Unabhängigkeit der Stimmen und führt in der Partitur zu vertikal symmetrischen Bewegungen, Note gegen Note, später jonglierte Bach mit Symmetrien (z. B. in seinem 6-stimmigen Kanon mit dem Ricercare).
Wie bei der korsischen Polyphonie auch heute noch, improvisiert die hohe Stimme über den Cantus clausus, eine fast erzwungene Freiheit …
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Jean-Pierre R. in Initiative Communiste vom 5. November 2023.