Joachim Willerding war der Gastreferent an der 1.-Mai-Vorfeier der PdA Basel. Links Stefan Hofer, rechts PdA-Präsident Matthias Goldschmidt
«In der PDS-Leitung fehlte der Wille für eine marxistische Situationsanalyse»
Hans-Joachim Willerding, ehemaliger Volkskammer-Abgeordneter und in der Übergangsphase Mitglied der Parteileitung, drängte in der Umbruchszeit vergebens auf eine marxistische Analyse der Niederlage des Realsozialismus. Das war eines der interessanten Details seines Referats an der 1.-Mai-Vorfeier der PdA Basel. Der stimmungsvolle Anlass wurde umrahmt mit Liedern der Arbeiterbewegung, kämpferisch vorgetragen von der Sängergruppe «Rotfuchs» aus Berlin. Sie bewies ihre Ausdauer noch lange nach dem Schluss des offiziellen Programmteils. Immer wurde wieder neu angestimmt – von «Avanti popolo» bis «Wann wir schreiten Seit’ an Seit’».
Wer die aktuelle politische Situation in Deutschland verstehen will, müsse sich vergegenwärtigen, was 1990 mit dem Anschluss der DDR an die Bundesrepublik geschehen war, erklärte Hans-Joachim Willerding. Das Volk des ersten Arbeiter- und Bauernstaates der deutschen Geschichte hatte über Nacht seine Heimat verloren. Am Einschneidensten war für die ehemaligen DDR-Bürger, dass im neuen Staat ihre Kompetenzen plötzlich nichts mehr galten. Für jegliche Führungs- und die meisten Kaderfunktionen in Wirtschaft und Verwaltung wurden «Bundis» eingeflogen.
Der Anschluss der DDR an den Weststaat trug somit alle Anzeichen einer Kolonialisierung. Die Volkseigenen Betriebe wurden von der dazu eingesetzten Treuhand privatisiert und zu einem Symbolpreis in den Westen verkauft. Den Käufern ging es in aller Regel nicht darum, einen produzierenden Betrieb aufrecht zu erhalten, sondern einen potenziellen Konkurrenten auszuschalten. Die Betriebe, deren Produkte zum Teil mehr als man wahrhaben will, Weltruf hatten, wurden stillgelegt. Die Folge war eine Deindustrialisierung, die nach dem wirtschaftlichen Kahlschlag auch zu einem sozialen Kahlschlag führte. Ein grosser Teil der Bevölkerung der sogenannten neuen Bundesländer war gezwungen, im Westen Arbeit zu suchen, was zu einer Entvölkerung ganzer Landstriche, die in der DDR einst ein intaktes soziales Leben gekannt hatten, führte.
Gleichzeitig feierte die westdeutsche Elite ihren «Sieg im Systemkonflikt», umso mehr als sie der grosse Profiteur war; die westdeutsche Wirtschaft kam auf einen Schlag zu einem um 30% vergrösserten Konsummarkt, der auch überwiegend aus dem Westen beliefert wurde. Die westdeutsche Elite konnte sich in diesen gut 30 Jahren gigantisch bereichern.
Bei seinen Ausführungen zu den Perspektiven einer linken Politik vor dem Hintergrund der ins Rutschen kommenden Parteienlandschaft in Deutschland, setzte Jochen Willerding bei seinem eigenen parteipolitischen Engagement in der ersten Zeit nach dem Anschluss an. Als Zuständiger für internationale Politik in der Partei des Demokratischen Sozialismus (PDS) wie schon vorher in der Sozialistischen Einheitspartei war er damals Mitglied des PDS-Präsidiums. Dort vermisste er eine marxistische Situationsanalyse und den Willen zur Aufarbeitung der Ursachen für die Niederlage des Realsozialismus. Willerding sah den Grund darin, dass im Realsozialismus die marxistische Theorie in den letzten Jahrzehnten nicht mehr weiter entwickelt wurde. In den Gremien setzte sich Gysis politisch beliebige Konzept des «demokratischen Sozialismus» durch, und die Partei machte sich auf den Weg der Integration ins bürgerlich-parlamentarische System. Es war klar, dass sich diese Partei nur in der Richtung einer sozialdemokratischen Partei entwickeln kann. Wenn die Partei in den ersten Jahren im Anschlussgebiet gleichwohl einen relativ starken Rückhalt zur arbeitenden Bevölkerung hatte, hat dies damit zu tun, dass sie sich als Vertreter von deren sozialökonomischen Interessen verstand. Dieser Rückhalt verflüchtigte sich jedoch, je mehr in der Partei durch neue Strömungen, auch im Zuge des Zusammenschlusses mit der WASG, andere Befindlichkeiten in den Vordergrund traten.
Wie sieht der Referent nun die neue Spaltung in der Linken? Wird das Bündnis Sarah Wagenknecht (BSW) den Wandel bewirken können, den sich viele davon versprechen? Da wollte er sich jedoch nicht auf die Äste hinaus lassen, da das Profil der neuen Partei in mancherlei Hinsicht noch recht unklar ist. Er stellt fest, dass links ausgerichtete Wähler, die von der Partei Die Linke enttäuscht sind, vieles von dem, was sie heute bei der Partei Die Linke nicht mehr finden, in das BSW hineinprojizieren. Das könnte zu neuen Enttäuschungen führen. Es gelte jetzt aber einmal die Wahl des EU-Parlaments abzuwarten. Allerdings: wenn es dem Bündnis gelänge, die Diskussion um eine konstruktive Friedenspolitik und den Willen zum Ausgleich mit Russland gross in die öffentliche Diskussion Deutschlands zu tragen, dann hätte sich diese Abspaltung bereits gelohnt, meinte Jochen Willerding.
Bei seiner Analyse der geopolitischen Situation knüpfte der Referent am Wegfall der Bipolarität nach dem Zusammenbruch des Realsozialismus an, nachdem neben dem Warschauer Pakt nicht auch die Nato aufgelöst wurde. Aber die Nato musste bestehen bleiben, damit die USA einen Grund hatten in Europa zu bleiben und so ihre Vasallen im Griff zu behalten, was Clinton freimütig zugegeben hat. Im Umkehrschluss heisst das, dass ein friedenspolitisch geeinter eurasischer Kontinent von Lissabon bis Wladiwostock nicht möglich ist, so lange sich US-Truppen in Europa aufhalten. Indessen ist zurzeit in Europa keine nennenswerte politische Kraft in Sicht, die das Potenzial hätte, einen Wandel herbeizuführen. Trotz der Verbohrtheit der westeuropäischen politischen Elite schliesst Willerding nicht aus, dass auf Geheimdienstebene bereits Gespräche zwischen den USA und der Russländischen Föderation am Laufen sind. Bei den US-Amerikanern stünden viele Zeichen auf Rückzug und der Absicht, das Schlamassel den Westeuropäern zu überlassen. Man kenne das ja aus Erfahrung, dass die Juniorpartner das Rechtsumkehrt des Seniors nicht rechtzeitig mitbekommen und noch lange in der alten Richtung weitermarschieren.
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30. April 2024