«Wer verteidigt denn die Schweiz gegen die Nato?»
Das war eine der Fragen, die an der Podiumsveranstaltung des antiimperialistischen Netzwerks im Zürcher Volkshaus gestellt wurden. Vielleicht auch rhetorisch gemeint, stellt sie das von unseren Konzernmedien pausenlos aufgetischte Narrativ von der Bedrohung Europas durch Russland treffend auf den Kopf. Die Souveränität der Schweiz wird nicht durch Russland, sondern durch den militärischen Ableger des US-Imperialismus bedroht, mit Einschüchterung, Erpressung und direkter Einflussnahme auf eine willfährige Regierung und Armeeführung sowie eine Politkaste, die nicht das Interesse des Landes und seiner Bevölkerung verfolgt.
«Warum wir uns in der Schweiz gegen die Nato wehren!» war die Veranstaltung betitelt, die am 8. Juni im Volkshaus Zürich stattfand. Hintergrund des Themas ist die kontinuierliche Annäherung der offiziellen Schweiz an die Nato und die Aushöhlung des Neutralitäts-Status unseres Landes. Inputs zu einer sehr fruchtbaren Diskussion gaben Natalie Benelli, Arnold Schölzel und Pascal Lottaz mit ihren Statements.
Auch in kleinen Gruppen etwas bewirken
Arnold Schölzel (Bild: UZ)
Arnold Schölzel, Redaktor der Zeitschrift «Rotfuchs», die als «Tribüne für Kommunisten, Sozialisten und andere Linke» im ostdeutschen Anschlussgebiet erscheint, hatte sich schriftlich an die Teilnehmer der Tagung gewandt. Er kritisierte die westliche Hetze gegen Russland, die in den Tagen zuvor rund um die Feiern zum D-Day in der Normandie neue Höhen erreicht hatte. Die Gleichsetzung von Hitler und Putin durch Selenskyj am Freitag in der französischen Nationalversammlung – sozusagen zum 80. Jahrestag der SS-Massaker in Zentralfrankreich, insbesondere in Oradour-sur-Glane – machen wütend, liess sich Schölzel verlauten. Die Nachricht, dass Frankreich nun Mirage-Kampfflugzeuge an Kiew liefern wird, besage erneut: Die Nato spielt mit dem Feuer eines dritten, eines atomaren Weltkrieges. Die Bedrohung der Welt mit einem atomaren Inferno ist der rote Faden ihrer Geschichte.
Als die Nato gegründet wurde, dachten die USA noch, sie hätten das Atomwaffenmonopol. Seit dies 1949 durch die Explosion der ersten sowjetischen Atombombe hinfällig wurde, wird die Geschichte des US-geführten Militärpaktes durch Versuche bestimmt, Atomkrieg durch grössere Bomben wie die Wasserstoffbombe oder durch sogenannte taktische Atomwaffen führbar zu machen. Gab es zu jener Zeit in Europa noch eine breite Bewegung unter dem Motto «Kampf dem Atomtod», ist es heute den USA möglich, Atomwaffen neuen Typs in Westeuropa zu stationieren, ohne dass es merkbar öffentlichen Protest gibt. Um so wichtiger sei es, hält Arnold Schölzel fest, dass es Gruppen gibt, die darüber aufklären.
Die Rolle der Medien
Natalie Benelli
Die eine Milliarde der Weltbevölkerung, deren Freiheit zu verteidigen die Nato vorgibt, muss erleben, dass sie von Jahr zu Jahr weniger Freiheit geniesst und zudem an Wohlstand einbüsst. So Natalie Benelli, verantwortliche Redaktorin von «Der neue Norden», der Zeitschrift, die seit 2022 aus der Perspektive der Werktätigen und wirtschaftlich, politisch und sozial entrechteten Menschen in der Schweiz und weltweit berichtet. In Deutschland werden die «Tafeln», wo sich Bedürftige mit kostenlosen Nahrungsmitteln eindecken können, überrannt. Auch in der Schweiz ist heute, wie Untersuchungen ergeben haben, jedes 5. Kind armutsbetroffen.
Dass diese Verhältnisse nicht zu mehr Auflehnung und Widerstand führen, liegt unter anderem an der Desinformation durch die Mainstreammedien und deren Meinungsterrorismus, vermutet Benelli. Die Konzentration der Medien hat bei uns wie überall in der kapitalistisch dominierten Welt massiv zugenommen, verbunden mit immer mehr prekären und ungesicherten Anstellungen auch im Medienbereich. Ziel sei nicht mehr gute Berichterstattung, sondern kostengünstiges Copy and Paste. An die Stelle von eigener Recherche ist die Übernahme von Inhalten aus PR-Quellen getreten: Ablenkung an Stelle von Information.
Ins gleiche Kapitel geht die gelenkte Begriffsschöpfung und Verbreitung von Narrativen, die von sogenannten Spin Doctors für die veröffentlichte Meinung entwickelt werden. Über Glossare wird den Medien vorgegeben, wie die Dinge korrekt zu benennen sind, Wording genannt. Staatspräsidenten werden nun nicht mehr einfach «Präsident» genannt. Wenn es sich um ein Oberhaupt eines missliebigen Staates handelt, müssen die Medienschaffenden das nun einen «Machthaber» nennen, ganz gleich wie sein offizieller Titel ist. Begonnen hat diese Entwicklung mit dem Nato-Überfall auf Jugoslawien, wo nicht mehr von zivilen Kriegsopfern gesprochen wurde, sondern von «Kollateralschäden», um humane Tragödien versachlichend zu verharmlosen.
Natalie Benelli sieht indessen Anzeichen, dass sich Medienschaffende gegen diese Entwicklung zu sträuben beginnen. So haben sich Beschäftigte öffentlich-rechtlicher Sender in Deutschland in einem Manifest gegen eine Eingrenzung des Debattenraumes ausgesprochen. «Nur sehr selten finden relevante inhaltliche Auseinandersetzungen mit konträren Meinungen statt», ist im Manifest zu lesen. Stimmen, die einen – medial behaupteten – gesellschaftlichen Konsens hinterfragen, würden «wahlweise ignoriert, lächerlich gemacht oder gar ausgegrenzt» und mit Kampfbegriffen wie «Querdenker», «Schwurbler», «Klima-Leugner», «Putin-Versteher», «Gesinnungspazifist» und anderen versehen, um abweichende Meinungen zu diffamieren und mundtot zu machen. Auch beim italienischen Staatssender RAI hat es kürzlich wegen Meinungsterror Streiks gegeben.
Die Anti-Neutralitätspolitik der Regierung ist brandgefährlich für die Schweiz
Eine schleichende Annäherung der Schweiz an die Nato stellte Pascal Lottaz fest, der sich wegen Landesabwesenheit online an die Tagung wandte. Dabei gibt man sich, so der am Waseda Institute for Advanced Studies (WIAS) in Tokio tätige Assistenzprofessor, nicht einmal Mühe, diese Bestrebungen zu verstecken. Man müsse sich nur die aus dem Bundeshaus kommenden Berichte der letzten Monate vor Augen führen. Daraus spreche eine Geisteshaltung, die, verbunden mit abstrusen Bedrohungsszenarien, voll auf massive Rüstungsanstrengungen und Zusammenarbeit mit der Nato setze. In diesen Gedankenspielen wird auch eine aktive Teilnahme an Nato-Übungen mit Truppenkörpern nicht mehr ausgeschlossen. Im Januar 2023 gelangte der Bundesrat gar mit der Idee eines «Widerstandskonzeptes» an die Öffentlichkeit, das unter anderem auch die Organisation eines zivilen Widerstands beinhaltet [Das berüchtigte Zivilverteidigungsbuch, das 1969 an alle Haushaltungen verteilt wurde, lässt grüssen!].
Mit diesem Vorgehen trägt die Regierung in unverantwortlicher Weise zu einem Angst- und Drohklima in der Bevölkerung bei, findet Lottaz, der Anfang Jahr auch einer der Mitinitianten des progressiven Aufrufs für ein Ja zur Neutralitätsinitiative war. Damit versucht die politische Elite, die öffentliche Meinung zugunsten einer Integration in die Nato zu beeinflussen. Eine Interoperabilität der Schweizer Armee zum Nato-Standard sei schon jetzt in weiten Teilen hergestellt. Mit Auslandseinsätzen, euphemistisch mit dem Adjektiv «friedensfördernd» versehen, ist die Armeeleitung bestrebt, die Schweizer Armee immer stärker auch ins Führungssystem der Nato zu integrieren mit dem Ziel, sie so vom Tag Eins eines Konfliktes voll kompatibel zur Nato zu machen.
Es werde alles getan, um die Schweiz zur möglichen Zielscheibe in einem offenen Konflikt, der sich aus der Nato-Aggression entwickeln könnte, zu machen. Diese verantwortungslose, höchstgefährliche Politik der aktuellen Schweiz habe gar nichts mehr mit der Neutralitätsstrategie zu tun, die von der Schweiz während des Zweiten Weltkriegs verfolgt wurde, und auch nichts mit jener während des Kalten Krieges. Dies müsse mit der Neutralitäts-Initiative korrigiert werden, schloss Lottaz seine Ausführungen.
Den Wahnsinn stoppen!
Die intensive Diskussion im Anschluss an die Referate war über weite Teile geprägt von der Gefahr eines drohenden Krieges, in den der Kontinent infolge der Kriegstreiberei atlantischer Eliten und deren verantwortungslosen Provokationen gerissen werden könnte. Lässt sich die Gesellschaft wirklich mit offenen Augen in einen dritten Weltkrieg treiben? Dabei wurde auch hier die verhängnisvolle Rolle der Mainstream-Medien hervorgehoben, die alles tun, um ihre Konsumenten, auch wenn sich diese immer mehr von ihnen abwenden, einer Gehirnwäsche zu unterziehen und so das Narrativ der Herrschenden zu verbreiten. Dies ist aufgrund der engen Verflechtung der Medien mit dem Kapital auch nicht weiter verwunderlich. So wird systematisch versucht, in der Gesellschaft ein Klima der Angst zu erzeugen und «Kriegstüchtigkeit» zu predigen.
Eine gewisse Kontroverse ergab sich mit der Frage, ob man statt bei grossen geopolitischen Themen nicht besser bei den realen sozialen Problemen der Menschen ansetzen sollte. Wäre es nicht sinnvoller, die Leute bei ihren konkreten Alltagssorgen abzuholen, sie auf diese Weise zu organisieren und so eine Gegenmacht zu den Eliten zu bilden? Dem stand die Einschätzung gegenüber, dass dazu angesichts der grossen Kriegsgefahr die Zeit fehle und die Mobilisierung gegen die Kriegstreiber vordringlich ist.
Eine Synthese ergab sich in der Diskussion aus der richtigen Analyse der Geschehnisse. Kriege stehen in Verbindung mit Krisen des kapitalistischen Systems. Dieses gelangt immer wieder zu einem Punkt, wo ohne Kriege bzw. Wertevernichtung im grossen Umfang keine Profite mehr gemacht werden können. Daher darf nicht übersehen werden, dass hinter der Kriegstreiberei der Nato grosse Interessen stehen. Es sind nicht nur die gewaltigen Profite, die sich aus der massiven Aufrüstung ergeben. Die gigantischen Summen, die für die Finanzierung der Rüstung aufgewendet werden müssen, fehlen den öffentlichen Haushalten für gemeinnützige Ziele. So lassen sich leichter soziale Kahlschläge durchsetzen. Die Kriegsfrage lässt sich daher nicht von der sozialen Frage trennen, sie ist Teil des Klassenkampfes.
Von der Veranstaltung wurde eine positive Bilanz gezogen. Man sah in ihr einen wichtigen Auftakt zur weiteren Vernetzung der progressiven souveränistischen Kräfte. Es gelte nun, darauf hinzuwirken, dass sich die im Ganzen doch eher passive Haltung der Bevölkerung gegenüber dem Kriegskurs der politischen Eliten zu einer aktiven Ablehnung entwickelt. Vor allem über die Gewerkschaften als letzte verbliebene Massenorganisationen der Linken könnte ein Gegengewicht gegen die links-grüne Legitimierung des Kriegskurses und der Nato-Annäherung aufgebaut werden. Dazu würden sich konkrete Forderungen wie zum Beispiel jene nach Beendigung der KFOR-Mission der Schweizer Armee in Serbien eignen, handelt es sich dabei doch um einen der krassesten Verstösse gegen die Neutralitätspflicht, den sich die Schweiz in der Gegenwart leistet.
15. Juni 2024
Sie haben diese gelungene Podiumsveranstaltung auf die Beine gestellt (hier zusammen mit der Referentin Natalie Benelli im Bild), von links nach rechts: Severin Stalder, Ueli Schlegel und Marco Feistmann.