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«Grosser Zusam­men­stoss in drei, vier Monaten»: Vucics Blick auf Europa

Levi Morosi

Levi Morosi1

«Wer ist bereit, eine Million, zwei Millionen, fünf Millionen, zehn, fünfzehn Millionen Menschen zu verlieren? Frag dich selbst! Ich bin nicht bereit, auch nur einen einzigen Mann zu verlieren, wir werden uns an diesem Konflikt nicht beteiligen.» Damit bekräftigte Alexandar Vucic seinen Wunsch, Serbien nicht in den Krieg in der Ukraine einzubeziehen. Im Interview mit dem «Weltwoche»-Herausgeber Roger Köppel ist Vucic sehr pessimistisch, was das Schicksal Europas angeht. Seiner Meinung nach wird der Kontinent innerhalb von drei oder vier Monaten, «vielleicht früher», direkt in den Krieg in der Ukraine verwickelt sein, und zwar deshalb, weil «keiner der beiden Konkurrenten es sich leisten kann, zu verlieren».

Roger Köppel reiste nach Belgrad, um mehr über diese politische Persönlichkeit zu erfahren, die in der westlichen Presse normalerweise negativ dargestellt wird. Dazu stellte er dem serbischen Präsidenten eine Reihe sehr allgemeiner Fragen zur internationalen Lage und zur Rolle Serbiens in der Welt.

Vucics alarmierende Antworten stiessen auf grosses Interesse und aus diesem Grund wurde das Interview auf vielen Kanälen übertragen. Im Vergleich zu den Aussagen der meisten europäischen Staats- und Regierungschefs sind Vucics Aussagen eine Stimme ausserhalb des Chors und verdienen daher unsere volle Aufmerksamkeit.

Gegen den Krieg, für die Achtung des Völkerrechts

Als er gebeten wurde, sich zu der Leichtigkeit zu äussern, mit der viele Staatsoberhäupter über die Entsendung von Truppen in die Ukraine sprechen, bekräftigte Vucic seine Ablehnung des Krieges. Eine Haltung, die persönlicher Erfahrung geschuldet ist.

«Jedes Mal, wenn ich gefragt werde, ob es nicht angemessen sei, einen Krieg gegen die Albaner, die Nato und den Kosovo zu beginnen, weil sie unser Volk vertrieben und getötet haben, antworte ich dem Gesprächspartner, dass ich seine Gefühle und seine Positionen verstehe. Aber dann frage ich ihn, ob er wirklich damit einverstanden wäre, wenn seine Mutter einen Sarg mit ihrem Sohn, Ehemann oder Vater darin erhielte. Dadurch ändert sich der Ton der Diskussion umgehend. In Europa reden alle Staats- und Regierungschefs wie grosse Helden, ohne ihrem Volk jedoch zu sagen, welche Konsequenzen bestimmte Handlungen haben würden.»

Nachdem er die Kriege miterlebt hat, die Jugoslawien in den 1990er Jahren bluten liessen, ist Vucic entschlossen, den Frieden in seinem Land zu wahren, Probleme, die Serbien direkt betreffen, diplomatisch zu lösen und sich nicht in die Geschehnisse in der Ukraine einzumischen. Anderseits verurteilte seine Regierung den Angriff Putins im Jahr 2022 und ging nicht darauf ein, dass der russische Präsident die «militärische Sonderoperation» damit begründete, dass die Nato in ähnlicher Weise auch gegenüber Serbien vorgegangen sei. Aus Vucics Sicht würde dies tatsächlich dazu beitragen, die Aggression gegen die Serben im Jahr 1999 zu normalisieren, als die Nato Jugoslawien bombardierte und den Kosovo militärisch besetzte. Daher ist es wichtig, dass Serbien die Regeln des Völkerrechts strikt respektiert, um seine territoriale Souveränität vollständig wiederherstellen zu können, ohne die starke wirtschaftliche Entwicklung des Landes in den letzten Jahren zu gefährden.

Gegen atlantische Propaganda, Öffnung gegenüber Schwellenländern

Während des Interviews betonte Vucic die bemerkenswerten Fortschritte seiner Regierung bei der Verbesserung der Lebensqualität der Serben, ein Erfolg, der nicht nur den Investitionen westlicher Länder, sondern auch den hervorragenden Beziehungen zwischen Belgrad und Peking zu verdanken sei.

Auf die Frage von Köppel nach der Möglichkeit, die politischen und wirtschaftlichen Beziehungen zu China zu stärken, einem Land, das viele westliche Beobachter als Bedrohung für die Demokratie betrachten, beschränkte sich Vucic nicht darauf, seinen Gesprächspartner von der Sinnlosigkeit dieser Anschuldigungen zu überzeugen. Da er wusste, dass er selbst im Fadenkreuz derer steht, die Serbien für ein autoritäres Land und einen Verbündeten der schlimmsten Diktaturen halten, nutzte er die Gelegenheit, um seine Kritiker direkt anzugreifen. Vucic erinnerte an die Verleumdungen, mit denen ihm die westliche Presse im Dezember 2023 vorwarf, die Gouverneurswahlen manipuliert zu haben, und betonte, dass seine Partei bei den Kommunalwahlen im Juni 2024 ein noch besseres Ergebnis erzielt habe, was den durch atlantische Propaganda verbreiteten «dummen Geschichten» widerspricht. Der serbische Präsident erinnerte auch daran, dass die Bürger seines Landes freien Zugang zu Fernsehkanälen aus aller Welt haben, während in weiten Teilen Westeuropas russische Kanäle blockiert sind.

Dezember 2023: Bei den vorgezogenen Wahlen deutlich geschlagen, versucht die proeuropäische Opposition, das Belgrader Rathaus zu besetzen.

Zu den Geschehnissen im Nahen Osten befragt, bekräftigte Vucic seine Hoffnung auf eine friedliche Lösung und erinnerte daran, dass Serbien seit der Gründung der Blockfreien Bewegung enge Beziehungen sowohl zur arabischen Welt als auch zur israelischen Regierung hat. Vucic nutzte die Gelegenheit jedoch auch, um sich zum jüngsten Beschluss der UN-Generalversammlung zu äussern, das Massaker von Srebrenica als Völkermord anzuerkennen, für den westliche Länder bosnisch-serbische Milizen verantwortlich machen. Laut Vucic kam diese von Deutschland vorangetriebene Entscheidung ausgerechnet zu einer Zeit, in der es sich der kollektive Westen nicht dazu aufraffen kann, den von Israel an den Palästinensern verübten Völkermord zu verurteilen. Um zu viel Kritik aus der muslimischen Welt zu vermeiden, hätten sich viele Nationen daher dafür entschieden, Serbien zu verurteilen, um sich so vor möglichen Vorwürfen der Islamophobie zu schützen und gleichzeitig zu vermeiden, den amerikanischen Herren zu missfallen.

«Um zu beweisen, dass sie Muslime nicht hassen, gehen sie gegen die Serben vor, weil sie nicht gegen Israel vorgehen können. Und so werden wir den Preis erneut statt der anderen zahlen.»

Kann sich die Schweiz von der serbischen Neutralität inspirieren lassen?

Während des Interviews äusserte sich Vucic sehr kritisch gegenüber der westlichen Presse und Politik, bekräftigte aber dennoch seine Absicht, solide Wirtschaftsbeziehungen mit Europa, Japan und den Vereinigten Staaten von Amerika aufrechtzuerhalten. Obwohl die Regierung viele chinesische Züge kaufte, wurden viele andere Waggons und Lokomotiven von einem Schweizer Unternehmen geliefert, und die Schweiz bleibt daher ein strategischer Partner für die Entwicklung des serbischen Eisenbahnnetzes.

«Bevor wir der EU beitreten – und wir wissen nicht, wann und ob das passieren wird – werden wir unsere Freihandelsabkommen mit China, mit Ägypten und auch mit den Vereinigten Arabischen Emiraten nutzen», erläuterte Vucic. Dies trage dazu bei, die Lebensqualität der Serben erheblich zu verbessern.

Hört man bestimmte Aussagen des serbischen Präsidenten, könnte manch einer auf die Idee kommen, die Neutralitätspolitik der serbischen Regierung ziele nur darauf ab, Profit zu machen und sich vor Problemen zu verstecken, ohne irgendwelche moralischen Werte zu vertreten, während die Schweiz gut daran tue, diesem Beispiel nicht zu folgen. Es ist kein Zufall, dass Köppel Vucic die Frage stellte, welche Werte Serbien auf internationaler Ebene vertrete. Obwohl mit einer ordentlichen Portion Rhetorik gespickt, ist die Erwiderung des serbischen Präsidenten eine gut begründete Antwort an die Kritiker einer Neutralitätspolitik: Ohne Souveränität gebe es weder Demokratie noch sozialen Forschritt, und um diese Werte zu verteidigen, müssten kleine Nationen vermeiden, unter die Fuchtel anderer Supermächte zu geraten.

«Wir sind ein unabhängiges Land, wir sind ein souveränes Land, das auf der Seite des Friedens steht, der wahren Werte wie dem Respekt vor der Vielfalt anderer Länder. Wir sind ein Land, das mit allen auf der Welt zusammenarbeiten will, das auf dem Weg nach Europa ist, aber mit dem Kopf denkt und das nicht bereit ist, alle Verbindungen zu seinen traditionellen Freunden zu verlieren.»

Es ist offensichtlich, dass Alexander Vucic kein absoluter Gegner der europäischen Integration ist. Seine Regierung fordert seit Jahren einen EU-Beitritt und in seinem Interview sagte der serbische Präsident auch, dass er an «vernünftigen Konservatismus und Wirtschaftsliberalismus» glaube. Bezüglich der Frage der nationalen Souveränität könnte sich die Schweizer Politik jedoch von diesen Erklärungen inspirieren lassen. Das Knüpfen von Beziehungen zu allen Ländern, auch zu denen, deren Werte nicht vollständig geteilt werden, ist der beste Weg, die Unabhängigkeit von Staaten wie Serbien oder der Schweiz zu verteidigen. Es geht nicht darum, den Meistbietenden den Bau einer zusätzlichen Autobahn oder Eisenbahnlinie zu überlassen, sondern darum, sich die Möglichkeit zu sichern, immer den besten Weg zu wählen, um die eigene Entwicklung und den gesellschaftlichen Fortschritt zu gewährleisten.

Vucic erinnerte daran, dass Serbien im 20. Jahrhundert mit zwei Balkankriegen und zwei Weltkriegen konfrontiert war und Jugoslawien in den 1990er Jahren Schauplatz einer ununterbrochenen Reihe ethnischer Konflikte war. Aus diesem Grund versucht seine Regierung mit allen Mitteln, ihre strategische Autonomie zu verteidigen und eine Beteiligung an künftigen Kriegen zu vermeiden. Die Schweiz kann aus geopolitischen Gründen auf eine friedlichere jüngere Vergangenheit zurückblicken. Dennoch wäre es die Frage wert, ob die Organisation kriegstreibender Gipfeltreffen wie der Bürgenstock-Konferenz der richtige Weg ist, um zu einer ebenso glücklichen Zukunft beizutragen.

Ein Schweizer Soldat im Einsatz der KFOR, der Nato-Besatzungstruppe im Kosovo.

Auf die internationale Konferenz im Kanton Nidwalden angesprochen, wollte Vucic nichts sagen, da seine Regierung zum Zeitpunkt der Aufzeichnung des Interviews noch nicht entschieden hatte, ob sie an dem Treffen teilnehmen wird (letztlich hatte sie die Einladung abgelehnt). Allerdings sagte der serbische Präsident, dass er bei der von Cassis organisierten Konferenz gerne «beide Seiten an einem Tisch gesehen» hätte, und als Köppel ihn fragte, was er von der Schweiz halte, war die Antwort zweifellos interessant: «Es ist ein wichtiges Land, und wir würden uns eine wichtigere Rolle der Schweiz wünschen, aber auch eine objektivere Herangehensweise an die Situation, zumindest hier auf dem Balkan. Ich kann niemandem etwas beibringen, weil er viel schlauer ist als ich. Aber auf dem Balkan haben wir ein eher einseitiges Vorgehen gesehen.»

Die sehr ruhigen Worte, mit denen Vucic über die Beziehungen zwischen der Schweiz und den Ländern des Balkans sprach, betrafen Themen, die in Belgrad sicherlich für einen gewissen Unmut gesorgt haben. Tatsächlich unterhält die Schweiz ein Militärkontingent im Kosovo, das den Befehlen der Nato gehorcht und zur illegalen Besetzung eines Teils des serbischen Territoriums beiträgt. Das passiert heute. Das Aufwühlen der Vergangenheit und die Definition des Vorgehens der Schweiz gegenüber Serbien als «etwas einseitig» ist jedoch milde ausgedrückt. Man denke nur daran, dass die UCK, die Terrororganisation, die den kosovarischen Separatismus anführte, in Zürich von Hashim Thaci gegründet wurde, und dass sich die Bundesbehörden gegenüber einem Mann, der für unsägliche Verbrechen gegen das serbische Volk verantwortlich ist, stets als sehr entgegenkommend erwiesen haben.

Würde der Bundesrat angesichts dieses wenig erbaulichen Bildes auf Souveränität verzichten oder aber nicht eher Soveränität gewinnen, wenn er, Vucics Forderung nach einem ausgewogeneren Vorgehen folgend, die Schweizer Soldaten aus dem Kosovo abziehen würde? Ein Urteil, das wir den Lesern überlassen.
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1 Levi Morosi studierte Geschichte in Freiburg und wurde 1996 geboren. Er beschäftigte sich mit der politischen und diplomatischen Geschichte im Europa des 20. Jahrhunderts, mit besonderem Interesse an Propaganda und politischer Debatte in der Schweiz.

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Der Text ist zuvor am 28. Juni 2024 in sinistra.ch erschienen. Übersetzt mit Hilfe von DeepL Translator (kostenlose Version).