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Ein Bildschirmfoto zeigt den verstorbenen Journalisten Gonzalo Lira, der in einem Video, das er am 17. Oktober 2022 auf seinen YouTube-Kanal hochgeladen hat, ein Friedenszeichen macht. (Foto: YouTube/@theroundtablegonzalolira5818)

Die Unsichtbaren: Über die Massenverfolgung von Dissidenten in der Ukraine

von PAVEL VOLKOV, 21. Juni 2024

«Wir bestehen auf der Achtung der Menschenrechte», so die Botschaft des chilenischen Präsidenten Gabriel Boric auf dem Friedensgipfel in der Schweiz. In der Tat hat der derzeitige russisch-ukrainische Militärkonflikt katastrophale humanitäre Folgen, und die Frage der Achtung von Menschenrechten im Rahmen dieses Konflikts ist vielleicht das Kernproblem.

Im Januar 2024 erfuhr die Welt dank Jeffrey Sachs und Elon Musk vom Tod des amerikanisch-chilenischen Bloggers Gonzalo Lira in einem ukrainischen Gefängnis. Nach Angaben des ukrainischen Sicherheitsdienstes (SSU) hatte der Blogger «russische Kriegsverbrechen geleugnet», die ukrainischen Streitkräfte beschuldigt, ukrainische Territorien zu beschiessen, und das Kiewer Regime als «neonazistisch» bezeichnet. Er wurde festgenommen unter dem Verdacht, «die bewaffnete Aggression Russlands zu rechtfertigen» (Artikel 436-2 des ukrainischen Strafgesetzbuchs), wofür eine Freiheitsstrafe von bis zu acht Jahren vorgesehen ist. Mit anderen Worten: Gonzalo Lira wurde wegen seinen Überzeugungen und Meinungen strafrechtlich verfolgt.

Gonzalo starb im Gefängnis aufgrund mangelnder medizinischer Betreuung, und ein globales (vorwiegend amerikanisches) Publikum erfuhr dank seiner amerikanischen Staatsbürgerschaft von dieser tragischen Geschichte. Leider wissen die Menschen überall auf der Welt nichts über Tausende von ukrainischen Bürgern, die – ähnlich wie Gonzalo – wegen ihren Meinungen und Ansichten in ukrainischen Gefängnissen landeten. Die erste Welle der Massenunterdrückung in diesem Sinne erfolgte nach dem Euromaidan, dem verfassungswidrigen Machtwechsel in Kiew im Jahr 2014, den die Hälfte des Landes nicht begrüsste; die zweite erfolgte nach Beginn der russischen «speziellen Militäroperation» (SMO) im Februar 2022, die von vielen Ukrainern als logische Antwort Russlands auf die mangelnde Bereitschaft der Ukraine, die Minsker Friedensvereinbarungen umzusetzen und den Krieg im Donbass zu beenden, interpretiert wurde. Diese alternativen Interpretationen sind heute in der Ukraine verboten; wer sie zu verbreiten versucht, wird unterdrückt und zum Schweigen gebracht.

Terroristen ohne Terrorismus

Als Journalist, der den Euromaidan nicht begrüsste, geriet ich in die erste Welle der Repression. In den Jahren 2017 bis 2018 verbrachte ich 13 Monate in Haft und riskierte entweder eine lebenslange Haftstrafe oder 15 Jahre Haft wegen «Separatismus» und «Terrorismus». Ersteres betraf meine Veröffentlichungen über die Ursachen und Folgen des Euromaidan, den ich als Staatsstreich betrachtete; letzteres betraf meine Berichterstattung aus dem Donbass, nachdem die Ukraine dort die sogenannte «Anti-Terror-Operation» (ATO) begonnen hatte, um die lokale Bevölkerung dafür zu bestrafen, dass sie gegen den Euromaidan protestierte und nicht bereit war, den Machtwechsel in Kiew zu akzeptieren. Obwohl ich in meinen Berichten vor allem über die Nöte der Menschen im Donbass berichtete, die um Frieden flehten, wurde ich als «Feind der Ukraine» verhaftet. Ich hatte Glück: Im Laufe der Gerichtsverhandlungen wurde bewiesen – zur Empörung der Euromaidan-«Aktivisten», die mich als Kriminellen und Verräter bezeichneten –, dass meine Veröffentlichungen kein Verbrechen waren und dass die ukrainische Verfassung das Recht auf freie Meinungsäusserung garantiert.

Pavel Volkov vor dem ukrainischen Gericht

Meine Geschichte – deren glückliches Ende nicht nur durch die ehrliche Arbeit von Anwälten ermöglicht wurde, sondern auch durch den heroischen Kampf meiner Verwandten, die versuchten, eine breite internationale Aufmerksamkeit zu erregen – ist in einem wichtigen Sinne höchst problematisch. Sie ist einzigartig. Seit dem Maidan gab es in der Ukraine keine vergleichbaren positiven Entscheidungen in Fällen von Journalisten, die des «Separatismus», «Terrorismus» und der «Kollaboration mit dem Feind» beschuldigt wurden, obwohl alle diese Fälle im Wesentlichen gleich sind: Es geht darum, oppositionelle Meinungen mit verfassungswidrigen Mitteln zum Schweigen zu bringen. In diesem Sinne besteht ein radikaler Unterschied zwischen der Ukraine vor dem Maidan und der Ukraine nach dem Maidan. In der Vor-Maidan-Ukraine gab es nur wenige politisch motivierte Strafverfahren, die in erster Linie gegen Vertreter der politischen Eliten gerichtet waren (wie im Fall der ehemaligen Premierministerin Julia Tymoschenko, die 2011 inhaftiert wurde). In der Nach-Maidan-Ukraine stieg die Zahl der politisch motivierten Strafverfahren auf Hunderte von Fällen an; das Jahr 2022 wurde zu einem Wendepunkt, nach dem Tausende von normalen Bürgern wegen ihren alternativen Ansichten strafrechtlich verfolgt wurden.

Ich würde es nicht wagen, meine Meinung an die Stelle von Gerichtsentscheidungen zu setzen, aber als ich in den Jahren 2018 bis 2020 während meinen Reisen in der Ukraine diese Entscheidungen untersuchte, stellte ich fest, dass die von den Staatsanwälten vorgelegten Beweise sehr schwach waren. Meine Beobachtungen wurden durch verschiedene Kontrollberichte für Menschenrechtsorganisationen unterstützt: Menschen wurden gemäss «separatistischen» und «terroristischen» Artikeln verurteilt, weil sie an sowjetischen Denkmälern Blumen niederlegten, für die DVR (Donezker Volksrepublik) Steuern zahlten, «Puschkin-Bälle» organisierten und so weiter. Jede Aktivität, die als Verherrlichung der sowjetischen Vergangenheit, als Würdigung der russischen Kultur oder als Anerkennung der Behörden des rebellischen Donbass interpretiert werden kann, galt als «separatistisch» und «terroristisch».

Pavel Volkov vor dem ukrainischen Gericht

Nach dem Februar 2022 verschlechterte sich die Lage für die russischsprachigen Bürger der Ukraine erheblich, insbesondere für diejenigen, die mit Russland sympathisierten oder starke familiäre Bindungen zur Russischen Föderation hatten, sowie für russische Bürger, die sich zum Zeitpunkt des Konfliktausbruchs auf dem Territorium der Ukraine befanden.

Im Frühjahr 2022, als ich mich noch in Saporoschje (einer Stadt im Südosten der Ukraine) aufhielt, erhielt ich eine seltsame Nachricht, vermutlich von einem Anti-Maidan-Aktivisten, den ich persönlich kannte. Er schlug mir vor, angesichts der laufenden russischen Offensive Informationen über ukrainische Rechtsradikale zu sammeln: «Wir sollten banderovtsi [die Anhänger von Stepan Bandera, einem Gründervater der ukrainischen nationalistischen Ideologie] aufspüren! Schick mir die Informationen.» Es sah wie eine Provokation aus, und es war eine Provokation – Sergeis Telefon wurde vom SSU benutzt, um Nachrichten an seine Kontakte zu senden. Wie ich einige Tage später von gemeinsamen Freunden erfuhr, wurde Sergei, nachdem er vom SSU entführt und die ganze Nacht im Keller verprügelt worden war, ausgeraubt und am Morgen auf die Strasse geworfen. Es waren diese und ähnliche Geschichten, die mich dazu bewegten, die Ukraine zu verlassen. Wenn ich nicht hätte fliehen können, wäre ich entweder im Gefängnis gelandet oder verstümmelt oder getötet worden.

Heute gibt es in der Ukraine Tausende von zivilen Gefangenen, die ihrer Freiheit und ihrer Menschenrechte beraubt sind, weil sie «Likes» unter «inkorrekten» Beiträgen in sozialen Medien hinterlassen haben, weil sie im Internet über den Einschlagsort von Projektilen diskutiert haben, weil sie über Messenger freimütig mit Verwandten in Russland korrespondiert haben, weil sie in den von Russland besetzten und dann aufgegebenen Gebieten berufliche Aufgaben (z. B. als Lehrer) ausgeführt haben, und so weiter. Auf den Rückzug der russischen Streitkräfte aus der Region Kiew, Teilen der Region Charkow und Teilen der Region Cherson im Jahr 2022 folgten Massenverhaftungen, die bis zum heutigen Tag andauern. Der SSU bezeichnet das als «Stabilisierungsmassnahmen». Allein im Sommer 2022 wurden im Zuge dieser «Massnahmen» – Wohnungsdurchsuchungen – 700 Menschen in Winniza und Nikolajew verhaftet, zwei regionalen Zentren im südlichen Teil der Ukraine, die an die Region Odessa grenzen.

Das Büro des UNO-Hochkommissariats für Menschenrechte (UN OHCHR) registriert all diese Verstösse, wie aus seinen regelmässigen Berichten hervorgeht, in denen «die breite Auslegung und Anwendung der terrorismusbezogenen Bestimmungen des Strafgesetzbuchs» in der Ukraine thematisiert wird. Es muss vorsichtig formulieren, um sein Mandat in der Ukraine nicht zu verlieren, doch hinter dieser politisch korrekten Darstellung des Themas verbirgt sich eine monströse Realität, die (gelinde gesagt) nicht viele Menschen auf der Welt erkennen.

Agenten des Kremls oder politische Häftlinge?

Meine Kollegen und ich haben viele öffentliche Quellen ausgewertet, darunter Berichte der Generalstaatsanwaltschaft der Ukraine sowie regionaler Staatsanwaltschaften. Aus diesen öffentlichen Daten geht hervor, dass die ukrainische Staatsanwaltschaft, die Nationalpolizei und der SSU von Anfang 2022 bis Anfang 2024 mehr als 740 000 Strafverfahren eingeleitet haben, die möglicherweise Zivilisten betreffen, politisch motiviert sind oder mit der Verfolgung oppositioneller Meinungen und Ansichten zu tun haben. Über 16 000 Personen wurden über einen Verdacht informiert. In mehr als 12 000 Fällen kam es zu einer Anklage vor Gericht. Mit anderen Worten: Derzeit befinden sich möglicherweise Zehntausende von Menschen mit «unkorrekten» Ansichten, die aus politischen Gründen strafrechtlich verfolgt werden, in Untersuchungshaftanstalten und Gefängnissen.

Artikel 110 des ukrainischen Strafgesetzbuchs – Verstoss gegen die territoriale Integrität und Unverletzlichkeit der Ukraine – wurde in der Praxis meist nicht mit illegalen Handlungen, sondern mit «falschen» Ansichten in Verbindung gebracht. Laut Daten der Generalstaatsanwaltschaft der Ukraine sowie regionaler Staatsanwaltschaften wurden in den zwei Jahren des Konflikts fast 11 000 Strafverfahren eingeleitet. Darunter:

  • Mehr als 3000 Fälle von Verrat (Artikel 111);
  • Mehr als 7000 Fälle wegen des Verdachts auf kollaborative Tätigkeiten (Artikel 111-1); * Mehr als 1000 Fälle nach dem Artikel über die Unterstützung des «Aggressorstaates» (Artikel 111-2);
  • Mehr als 600 Strafverfahren gemäss Artikel 114-1 und Artikel 114-2: Behinderung der Aktivitäten der Ukrainischen Streitkräfte und anderer militärischer Formationen sowie unbefugte Verbreitung von Informationen über die Bewegungsrichtung von Waffen und Munition und die Positionierung der Ukrainischen Streitkräfte.
  • 600 Verfahren nach Artikel 436-1 – Erzeugung und Verbreitung von kommunistischen und nationalsozialistischen Symbolen sowie von Propaganda für kommunistische und nationalsozialistische totalitäre Regime, wobei dieser Artikel faktisch nur auf kommunistische Symbole angewendet wurde.
  • 2636 Strafverfahren gemäss Artikel 436-2 (der Artikel, der bei der Verurteilung von Gonzalo Lira angewendet wurde) – Rechtfertigung der bewaffneten Aggression der Russischen Föderation und Verherrlichung der daran Beteiligten.

Diese Statistiken reflektieren weder die Zahl der Vermissten noch der Personen, die gewaltsam zum Verschwinden gebracht wurden (Entführungen durch den Staat), wie zum Beispiel der Journalist Nikolai Sidorenko aus Kramatorsk in der Region Donezk, der 2017 vor Gericht gestellt wurde, weil er sich an illegalen bewaffneten Formationen der DVR und der LVR (Lugansker Volksrepublik) beteiligt hatte. Nikolai wurde mit einer Behinderung aus dem Gefängnis entlassen – seine Wirbelsäule wurde während der Folter gebrochen. Am 27. März 2022 wurde Nikolai in Bakhmut, Region Donezk (damals unter ukrainischer Kontrolle), in einem Auto mit Kiewer Kennzeichen von Personen in ukrainischen Militäruniformen von seinem Zuhause weggebracht. Seitdem haben seine Angehörigen nichts mehr von ihm gehört. Auf ihre zahlreichen offiziellen Nachfragen erhielten sie stets die gleiche Antwort: Die ukrainischen Behörden haben mit der Entführung nichts zu tun.

Nikolai Sidorenko

Am 7. September 2022 entführten Offiziere der ukrainischen Streitkräfte im Dorf Iwanowka, Bezirk Tschugujewski, Gebiet Charkow, Sergei Tschemolosow, der während des dortigen Aufenthalts der russischen Truppen humanitäre Hilfe aus Russland verteilte und die Stromversorgung im Dorf wiederherstellte. Während seiner Festnahme wurde Sergei heftig verprügelt und an einen unbekannten Ort verschleppt. Die Dorfbewohner sagen: «in den Keller» (so nennen die Leute die Folterkammern) der Stadt Balakleya. Am 9. September veröffentlichte Kirill Tymoschenko, der stellvertretende Leiter des Büros von Präsident Selenski, auf Facebook ein Foto, auf dem zu sehen ist, wie Sergei, der Spuren von Schlägen aufweist, mit verbundenen Augen und gefesselten Händen dasitzt. Die Bildunterschrift von Tymoschenko lautete wie folgt: «Wir arbeiten gemeinsam mit den Streitkräften der Ukraine an der Regionalpolitik.» Das weitere Schicksal von Tschemolosow ist unbekannt.

Sergei Tschemolosow

Das sind nur zwei Fälle. Niemand kennt die genaue Zahl der «Kollaborateure» und «Verräter», die heute in der Ukraine ähnliche Schicksale erleiden (weitere Fälle dieser Art werden von Olga Baysha in ihrem kürzlich erschienenen Buch «War, Peace, and Populism in Ukraine» beschrieben). Falls all diese Menschen noch am Leben sind, werden sie möglicherweise an einer Reihe von Orten festgehalten, die gesetzlich nicht vorgesehen sind: Wohnungen, Sanatorien, Keller von verlassenen Gebäuden und Verwaltungsräume der örtlichen SSU-Abteilungen usw. Das Büro des Hohen Kommissars für Menschenrechte (OHCHR), Amnesty International und Human Rights Watch haben wiederholt ihre Besorgnis über die Existenz solcher illegalen Verhörzentren zum Ausdruck gebracht und veröffentlichen regelmässig deren Standorte. Doch ihre zahlreichen Berichte haben weder zu einer Lösung des Problems geführt noch dazu beigetragen, eine fruchtbare Diskussion weltweit anzustossen. Die ukrainischen Propagandamedien (andere Medien gibt es in der Ukraine nicht) stempeln die Mitarbeiter internationaler Beobachtermissionen und Menschenrechtsorganisationen als «Agenten des Kremls» ab; was von solchen Organisationen veröffentlicht wird, gilt unter dieser Prämisse als «russische Propaganda», die «keine Beachtung verdient».

Drei Arten von politischen Gefangenen

Politisch Verfolgte in der Ukraine lassen sich in drei Hauptkategorien einteilen:

1.) Inhaftiert wegen persönlicher Ansichten und Überzeugungen. Es handelt sich um Personen, die sich öffentlich zu verschiedenen gesellschaftspolitischen Themen in einer Weise geäussert haben, die vom ukrainischen Regime nicht gebilligt wird: Sie kritisierten die Normalisierung des Rechtsradikalismus, die Diskriminierungslogik der ukrainischen Sprachpolitik, die Verfolgung der russisch-orthodoxen Kirche oder gaben lediglich für russische Medien Kommentare ab. Hier sind einige Beispiele:

Professor Sergei Schubin aus Nikolajew wurde zu 15 Jahren Gefängnis verurteilt, weil er in seinem persönlichen Tagebuch Gedanken darüber notiert hatte, wie sich das Leben in der Region Nikolajew gestalten würde, wenn sie von der russischen Armee besetzt wäre.

Sergei Schubin

Ljudmila Vazhinskaya, eine Rentnerin aus der Region Sumy, wurde zu sechs Monaten Haft verurteilt, weil sie in einer Warteschlange für Milch friedliche Verhandlungen zwischen der Ukraine und Russland propagiert hatte.

Der Kiewer Journalist Dmitri Skworzow, der jetzt im Gefängnis sitzt und zu 15 Jahren Haft verurteilt werden könnte, wird beschuldigt, gegen den Beschluss des Nationalen Sicherheitsrates der Ukraine (NSCU) aus dem Jahr 2020 verstossen zu haben, weil er 2016 die Diskriminierungspolitik gegenüber ethnischen Russen und orthodoxen Gläubigen kritisiert hatte.

Die Oppositionspolitikerin Inna Iwanotschko aus Lwiw könnte zu 15 Jahren Haft verurteilt werden, weil sie 2018 im russischen Fernsehen für eine Föderalisierung der Ukraine geworben hat (was in der heutigen Ukraine mit Separatismus gleichgesetzt wird).

Inna Iwanotschko

2.) Inhaftiert wegen angeblicher Unterstützung der russischen Armee. Häufig handelt es sich dabei um Personen, die beschuldigt werden, Fotos von Einschlagsorten von Geschossen (in sozialen Medien) veröffentlicht oder Raketen gelotst zu haben. Bemerkenswert ist, dass die meisten Urteile gegen «Raketenschützen» ohne Beweise und in Absprache mit den Ermittlungsbehörden gefällt wurden – aufgrund von Selbstbezichtigung in der Hoffnung auf eine mildere Strafe (z. B. ohne Beschlagnahmung von Eigentum) oder auf einen künftigen Gefangenenaustausch mit Russland. Hier sind einige Beispiele:

Drei Jugendliche aus Bakhmut und Slawjansk (Region Donezk) – Wolodja Markin, Nastja Gluschtschenko und Sascha Kulakow – wurden zu je 10 Jahren Haft verurteilt, weil sie russischen Spezialdiensten Informationen über den Aufenthalt des ukrainischen Militärs übermittelt hatten, vermutlich, um Angriffe dagegen zu koordinieren. Allerdings wurden die Adressaten der Informationen nicht verifiziert und keine Angriffe an den übermittelten Koordinaten registriert.

Wolodja Markin

Es gibt unzählige Fälle dieser Art, von denen hier nur ein paar genannt werden sollen:

  • Die 22-jährige Angelina Dowbnja aus der Region Kirowograd wurde zu einer lebenslangen Haftstrafe verurteilt;
  • Der 82-jährige Schriftsteller Yuri Tschernyschow aus Schytomyr wurde zu 15 Jahren Haft verurteilt (in Anbetracht seines Alters ist das eine lebenslange Haftstrafe);
  • Arzt Anatoliy Ilyin aus Tscherkassy – 15 Jahre;
  • Rechtsanwältin Daria Krygina aus Charkow – 11 Jahre;
  • der linke Aktivist Yuri Petrowski aus Saporoschje – 15 Jahre

Yuri Tschernyschow

3.) Inhaftiert wegen Aufrechterhaltung des öffentlichen Lebens in den von Russland besetzten Gebieten. Es handelt sich um Personen, die in den von der russischen Armee besetzten Gebieten (Regionen Kiew, Tschernigow, Sumy, Charkow und Cherson) humanitäre Hilfe verteilten oder in öffentlichen Einrichtungen arbeiteten. Nach dem Abzug der russischen Truppen aus den betroffenen Gebieten wurden diese Menschen als «Verräter» und «Kollaborateure» bezeichnet, mit allen sich daraus ergebenden Konsequenzen. Hier sind einige Beispiele:

Olga Galanina, stellvertretende Vorsitzende der Berdjansker Behörde für humanitäre Angelegenheiten, könnte zu lebenslanger Haft verurteilt werden, weil sie sich bereit erklärt hat, ihre Arbeit in Berdjansk, Region Saporoschje, unter russischer Verwaltung fortzusetzen. SSU-Beamte entführten ihren Sohn, einen Studenten, in Dnepropetrowsk und hielten ihn an einem gesetzlich nicht vorgesehenen Ort gefangen, so dass seine Mutter gezwungen war, in das von der Ukraine kontrollierte Gebiet zu kommen, wo sie festgenommen wurde.

Anatoliy Miruta, ein Unternehmer aus der Region Kiew, wurde zu 10 Jahren Haft verurteilt, weil er mit dem russischen Militär vereinbart hatte, Einwohner ins Krankenhaus zu bringen und russische Hilfsgüter zu verteilen.

Anatoliy Miruta

Viktor Kirillow und Viktor Kozodoy aus Cherson, die als Fahrer für die russische Polizei in Cherson tätig waren, wurden zu 12 Jahren Haft verurteilt. Ihnen wurden keine spezifischen Anschuldigungen zur Last gelegt, sondern nur die Tatsache, dass sie unter russischer Besatzung für die Polizei gearbeitet hatten.

Valentina Ropalo, eine Einwohnerin von Woltschansk in der Region Charkow, wurde zu fünf Jahren Haft verurteilt wegen «Kollaboration mit dem Feind», d. h. weil sie als Abteilungsleiterin für Wohnungsbau und kommunale Dienstleistungen gearbeitet hatte, während die russische Armee in ihrer Stadt war.

Gonzalo Liras Schicksal für viele

Die Schicksale der Menschen in den ukrainischen Gefängnissen sind oft noch schrecklicher als das Schicksal von Gonzalo Lira. Vor ein paar Monaten gelang es mir, mit der fast einzigen Person zu sprechen, die nach dem Februar 2022 in ein ukrainisches Gefängnis hinein- und auch wieder herausgekommen ist. Es handelt sich um Alla Duschkina, eine verdienstvolle ukrainische Lehrerin aus Kiew. Sie verbrachte drei Monate im Gefängnis, weil sie einen Briefwechsel mit einem russischen Bekannten geführt hatte, in dem sie Zweifel am politischen Kurs der Ukraine geäussert hatte. Drei Monate später wurde sie auf Kaution freigelassen (zu Beginn des Krieges gab es diese Option; jetzt ist sie praktisch unmöglich). Sie bezahlte die Kaution und konnte das Land verlassen, ohne das Urteil abzuwarten. Hier ist ein Auszug aus ihrer Geschichte:

«Ich wurde zusammen mit meinem Sohn in Chmelnizkij [einer Stadt in der Westukraine] verhaftet», berichtet sie. «Fünf Autos haben uns umzingelt, und dann haben sie mich 72 Stunden lang verhört, um ein Geständnis zu bekommen. Ich habe nichts unterzeichnet; wir wurden geschlagen und in eine schwarz-rote Fahne eingewickelt [die Fahne der OUN-UPA, einer rechtsextremen ukrainischen Organisation, die während des Zweiten Weltkriegs mit den Nazis kollaborierte]. Ich musste gestehen, dass ich Markierungen [für russische Bomben und Raketen] gemacht hatte und dass ich Kadyrowiten [Tschetschenen, die für Russland kämpfen] Unterschlupf gewährt hatte, obwohl ich sie noch nie in meinem Leben gesehen hatte. Sie nahmen Fingerabdrücke, zwangen mich, einen Lügendetektor zu durchlaufen, und drohten, mich auf den Stadtplatz zu bringen, wo sie verkünden würden, dass ich Markierungen angebracht habe, so dass die Mütter der ermordeten Soldaten mich schlagen würden. Als sie realisierten, dass ich nichts unterzeichnen würde, hängten sie meinem Sohn und mir Taschen um und begannen, uns irgendwohin zu führen. Sie brachten uns nach Kiew und stiessen meinen Sohn vor mir in den Keller. Sie verlangten von ihm zu sagen, dass ich Menschen getötet habe, machten mir ein schlechtes Gewissen und drohten mir. Ich wurde in das SSU-Gebäude in der Askoldgasse gebracht, dann in die Untersuchungshaftanstalt Lukjanowo. Die Wärterin zeigte mir jeden Morgen mit Videoaufnahmen auf ihrem Handy – soweit ich weiss, war sie dazu angewiesen –, wie Menschen sowohl im Männer- als auch im Frauengebäude geschlagen, mit dem Kopf in die Toilette getaucht und schikaniert wurden. Sie verlangten von mir ein Geständnis, um das Schicksal der Menschen in diesen Videos zu vermeiden.»

Alla Duschkina

Dieses Zeugnis klingt wie ein Horrorfilm, aber es ist die Realität der heutigen Ukraine. Nur selten werden solche Geschichten veröffentlicht. Die Menschen haben keine Stimme, sie können sich nirgendwo hinwenden, nirgends von ihren Problemen erzählen, und sie haben auch Angst – wenn nicht um sich selbst, dann um ihre Angehörigen. Nur wenige entschliessen sich, ihr Schweigen zu brechen. Mit solchen mutigen Menschen – Angehörigen von politischen Gefangenen – unterhalte ich mich seit mindestens sechs Monaten. Sie berichten unter anderem über jene, die – wie Gonzalo Lira – in Haftanstalten gestorben sind. Nur zwei Beispiele: Eines handelt von einem Ehepaar aus der Region Donezk, das letztes Jahr wegen Verdachts auf Zusammenarbeit mit der russischen Armee verhaftet wurde. Die Frau ist immer noch im Gefängnis, und der Ehemann wurde zu Tode geprügelt. Der andere Fall betrifft den Ehemann einer älteren Frau aus Bakhmut in der Region Donezk, der vom SSU wegen «Rechtfertigung der russischen Aggression» (der Artikel, der auf Gonzalo Lira angewandt wurde) festgenommen wurde. Auch er wurde zu Tode geprügelt, doch geschah das in der Kolonie, als Bakhmut noch unter ukrainischer Kontrolle stand.

Das ukrainische Regime behauptet, dass es in der Ukraine keine politischen Gefangenen gäbe und alle Inhaftierten lediglich Kriminelle seien, die gegen das Kriegsrecht verstiessen, weshalb man sie nicht als politisch Verfolgte betrachten könne. Diese Behauptungen werden jedoch durch drei grundlegende Bestimmungen des Völkerrechts widerlegt:

  1. Internationale Übereinkommen und die ukrainische Verfassung verbieten ausdrücklich die Verfolgung von Menschen wegen ihrer Ansichten und Meinungen, unabhängig davon, wie stark diese von den Ansichten und Meinungen der Machthaber abweichen.
  2. Die Verwendung von Beweismaterial, das die Strafverfolgungsbehörden infolge von Anstiftung erlangt haben, kann nicht durch das öffentliche Interesse gerechtfertigt werden, da dem Angeklagten in einem solchen Fall möglicherweise das Recht auf ein faires Verfahren vorenthalten wird. Das geht aus mehreren Entscheidungen des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte hervor, an die die Ukraine gebunden ist.
  3. Die Vierte Genfer Konvention verbietet, Menschen gerichtlich dafür zu belangen, dass sie in besetzten Gebieten ihren Lebensunterhalt bestritten haben.

Ein grosses Problem bei der Gewährleistung des Rechts auf ein faires Verfahren besteht darin, dass Anwälte sich weigern, politische Gefangene zu verteidigen, weil sie vom SSU und von Radikalen unter Druck gesetzt und in ihrem Leben, ihrer Gesundheit und ihrer Freiheit bedroht werden. Einige Anwälte nehmen ihre Aufgabe aufgrund politischer Voreingenommenheit nicht wahr, wobei die Situation bei den Richtern sehr ähnlich ist. Viele von ihnen sind sich der Rechtswidrigkeit ihrer Urteile bewusst, fällen sie aber dennoch aus Angst.

Die genaue Zahl der Fälle, die denjenigen gleichen, die in diesem Artikel erörtert wurden, ist nicht bekannt, aber selbst wenn wir einfach alle bekannten Fälle auflisten würden, würde das Bände füllen. Ein gravierendes Problem ist, dass all diese Fälle, die erschütternde Geschichten über zerstörte Menschenleben beinhalten, der Weltöffentlichkeit weiterhin unbekannt bleiben, weil die Menschen immer noch glauben, dass die Ukraine eine Demokratie ist, die gegen den Totalitarismus kämpft – ein Märchen, das ihnen von den Mainstream-Medien aufgetischt wird. Sollen wir – wie bei Pinochet – jahrelang warten, bis die Menschen auf der ganzen Welt die Wahrheit erfahren über die Gräuel, die sich in den ukrainischen Kerkern abspielen? Oder sollen wir – wenn wir an das Schicksal von Gonzalo Lira denken – jetzt anfangen, laut darüber zu sprechen, um Tausende von unschuldigen Menschenleben zu retten, die unter dem Deckmantel der vorgetäuschten Ahnungslosigkeit der Herrschenden dieser Welt zerstört werden? Das ist die grundlegende Frage, die ich aufwerfen wollte. Für mich liegt die Antwort auf der Hand: Das weltweite Schweigen muss gebrochen werden!
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1 Pavel Volkov, ukrainischer und russischer Journalist (Ukraina.ru, VZGLYAD, Russky Reporter, etc.).
Von 2012 bis 2017 arbeitete er für verschiedene ukrainische und russische Publikationen. 2014 berichtete er über das Referendum in der DVR und 2015 über die Kontaktlinie im Donbass. 2017 wurde er in der Ukraine aus politischen Gründen wegen journalistischer Tätigkeit verhaftet, worauf er 13 Monate in der Untersuchungshaftanstalt Saporoschje verbrachte. 2018 wurde er von der Schweizer Menschenrechtsorganisation Solidaritätsnetz (Bern) als politischer Gefangener anerkannt. 2020 wurde er von allen nationalen Instanzen freigesprochen. Bis heute ist er der einzige politische Gefangene der Ukraine, der freigesprochen wurde.
Seit 2019 ist er Mitglied der Unabhängigen Gewerkschaft der Journalisten der Ukraine, Autor von Menschenrechtsberichten und Gerichtsgutachten für die Menschenrechtsorganisation «Uspishna Varta» (Kiew) und die Internationale Gesellschaft für Menschenrechte (Frankfurt am Main). Er kooperierte mit dem UN OHCHR im Bereich politische Repression und Menschenrechtsverletzungen in der Ukraine.
Im Jahr 2019 hielt er eine Rede auf einer Konferenz im Bundestag (Berlin) über die Menschenrechte in der Ukraine und die Gründung der Interparlamentarischen Kommission für Menschenrechte (IPMK); er hielt eine Rede auf einer Konferenz im Europäischen Parlament (Brüssel) über die Probleme im Zusammenhang mit der russischen Sprache und den russischsprachigen Medien in der Ukraine und den baltischen Staaten; er wurde im Europäischen Parlament (Brüssel) angehört in Bezug auf die politische Verfolgung von Julian Assange, Journalist und Gründer von Wikileaks, und verfasste eine Reihe von Publikationen, die das Strafverfahren gegen Assange beschreiben.
Er war Mitorganisator der internationalen Unterschriftensammlung für die Freilassung der politischen Gefangenen in der Ukraine. Von 2019 bis 2021 war er Mitglied der Interparlamentarischen Kommission für Menschenrechte (IPMK) im Bundestag. Seit 2022 ist er offizieller Vertreter der internationalen Menschenrechtsorganisation Solidaritätsnetz (Bern) in der Ukraine, südukrainische Sektion.
In den Jahren 2023 und 2024 war er Organisator und Teilnehmer an Konferenzen und öffentlichen Anhörungen in Russland sowie bei den Vereinten Nationen und der OSZE über die beidseitige Freilassung von zivilen Gefangenen im russisch-ukrainischen Konflikt.
Als Doktorand der Wirtschaftshochschule (Moskau) arbeitet er an einer Dissertation über rechtsradikale Hassrede in den ukrainischen Medien.
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Englischer Originaltext in Pressenza. Übersetzt mit Hilfe von DeepL.