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Ibrahim Sidda, am 16. August 2024 (Oren Ziv)

Siedlerpogrom in Jit (Westjordanland): Die israelischen Verurteilungen klingen hohl

Palästinenser beschreiben die jüngste Welle von Siedlerübergriffen im Westjordanland und fordern Gerechtigkeit für Rashid Sidda, während seine Mörder frei herumlaufen. Zwar wurde das Pogrom diesmal von der israelischen Regierung offiziell verurteilt, aus Angst vor internationalen Sanktionen gegen Regierungsmitglieder. Es wurde bis jetzt aber niemand verhaftet. Die Straflosigkeit der Siedler auch für Kapitalverbrechen sind seit langem die Norm.

Von OREN ZIV1, 19. August 2024

Als die Nacht hereinbrach, fielen die Siedler über das Dorf her. «Es waren mehr als hundert von ihnen – maskiert und mit Gewehren und Knüppeln bewaffnet. Sie schlugen die Scheiben meiner beiden Autos ein, schütteten Benzin hinein und zündeten sie sowie den Eingang zu meinem Haus an. Wir eilten mit Wasser hinaus und versuchten, die Flammen zu löschen. Ausser Steinen hatten wir nichts, womit wir uns hätten schützen können.»

So schilderte Ibrahim Sidda die Ereignisse, die sich am 15. August in der palästinensischen Stadt Jit abspielten. Es handelt sich um das jüngste Pogrom im besetzten Westjordanland, das von israelischen Siedlern verübt wurde. Sidda war zu Hause und ass mit seiner Familie, als die Angreifer kamen. «Wir sind friedliebende Menschen», sagte er nach dem Angriff zum israelischen Magazin +972, immer noch ungläubig über das, was ihm und seiner Gemeinde widerfahren war.

Insgesamt verbrannten die Siedler drei Autos und vier Häuser, aber ihre Gewalt blieb nicht bei Sachschäden stehen: Sie griffen jeden Palästinenser an, der es wagte, herauszukommen und zu versuchen, sich und seine Familie zu verteidigen. Sie erschossen den 23-jährigen IT-Techniker Rashid Sidda und verwundeten fünf weitere. Nach Angaben von Ibrahim Sidda dauerte es etwa eine Stunde, bis israelische Soldaten eintrafen und dem Pogrom ein Ende setzten. In einer anderen in Haaretz veröffentlichten Zeugenaussage wird behauptet, dass die Soldaten während des Angriffs in der Stadt anwesend waren und nichts unternahmen, um ihn zu beenden.

Am nächsten Morgen liefen die Bewohner zwischen den verkohlten Überresten ihrer Autos und den geschwärzten Eingängen ihrer Häuser umher – eine Szene, die in den letzten Monaten im Westjordanland auf unheimliche Weise vertraut geworden ist. Mit dem Krieg im Gazastreifen haben solche Angriffe zugenommen, und in der ersten Woche nach dem 7. Oktober töteten Siedler sechs Palästinenser. Im April wüteten Siedler an einem Wochenende in mehr als einem Dutzend palästinensischer Städte und Dörfer, töteten mindestens drei Menschen und brannten Hunderte von Häusern, Autos und Geschäften nieder.

Das Innere eines von Siedlern niedergebrannten Hauses in der palästinensischen Stadt Jit, 16. August 2024. (Oren Ziv)

Bereits seit der Wahl der rechtsextremen israelischen Regierung Ende 2022 war eine deutliche Zunahme von Siedlerpogromen zu verzeichnen – von Huwara über Al-Lubban ash-Sharqiya bis Turmus Ayya. Überall im Westjordanland werden Palästinenser täglich von israelischen Siedlern schikaniert, oft mit Unterstützung der Armee, und die Bewohner von mindestens 18 Gemeinden wurden seit Beginn des Krieges gewaltsam vertrieben.

Was dieses Mal jedoch anders war, war die sofortige Verurteilung des Angriffs durch israelische Politiker. Offensichtlich aufgeschreckt durch die jüngste Welle US-amerikanischer und internationaler Sanktionen gegen gewalttätige Siedler und ihre Organisationen – und die drohende Gefahr, dass diese bald auch gegen hochrangige Regierungsmitglieder und staatlich finanzierte Einrichtungen verhängt werden könnten – verurteilten führende israelische Politiker das jüngste Pogrom umgehend.

Premierminister Benjamin Netanjahu, Finanzminister Bezalel Smotrich und der Abgeordnete Zvi Sukkot – selbst ein ehemaliges Mitglied der kürzlich sanktionierten «Bergjugend» – gehörten zu den ersten, die seine Verurteilung aussprachen. Yossi Dagan, der Vorsitzende des Regionalrats von Shomron, erklärte: «Wir bekämpfen hier bereits den Terrorismus und haben deshalb schon genug mit politischen Schwierigkeiten im In- und Ausland zu kämpfen; wir brauchen eure Gewaltakte nicht.»

Trotz dieser Flut offizieller Verurteilungen scheinen es die Behörden nicht eilig zu haben, die Täter vor Gericht zu bringen; nach dem Angriff wurde nur eine Person verhaftet und anschliessend wieder freigelassen. Die Straflosigkeit der Siedler ist seit langem die Norm: Nach Angaben der israelischen Menschenrechtsgruppe Yesh Din wurden 97 Prozent der seit 2005 eröffneten Polizeiakten zu Fällen von Siedlergewalt ohne Verurteilung geschlossen.

Trauernde nehmen an der Beerdigung von Rashid Sidda teil, der von israelischen Siedlern in der palästinensischen Stadt Jit getötet wurde, 15. August 2024. (Oren Ziv)

In seiner Erklärung behauptete Dagan auch, der Angriff sei von «jungen Leuten verübt worden, die von ausserhalb [des Westjordanlandes] kommen und Gewalt ausüben». Die Aussagen der palästinensischen Bewohner von Jit waren jedoch eindeutig: Die Angreifer kamen aus dem benachbarten illegalen Aussenposten Havat Gilad.

«Das ist das erste Mal, dass es einen Angriff dieses Ausmasses gibt», sagte Muhannad Sidda, der berichtete, dass er 20 bis 30 Autos sah, die über die Hauptstrasse in die Stadt kamen. «Wir sind von Siedlern umzingelt.»

«Sie kamen, um zu brennen, und niemand war da, um zu helfen».

«Sie hatten einen Plan, sie arbeiteten wie in der Armee», so Samer Arman, ein Bewohner von Jit, über die Angreifer. «Sie kamen zu Fuss und handelten schnell, damit wir uns nicht verteidigen konnten», und fügte hinzu, dass «einige von ihnen lange Waffen hatten». «Rashid Sidda», so fuhr er fort, «wurde von einer einzigen Kugel getroffen, aber sie schossen mit automatischen Waffen auf die Jugendlichen.»

Arman bestätigte, dass dem Pogrom kein anderer Vorfall vorausgegangen sei, was auch von israelischen Beamten bestätigt wurde. «Es gibt hier keine Probleme, es gab nichts», sagte er. «[Die Siedler] kamen in der Vergangenheit, aber die jungen Leute [in der Stadt] kamen raus [um sie zu konfrontieren] und sie gingen wieder.» Diesmal aber «kamen sie, um zu brennen, und es gab niemanden, der uns half».

Ein Transparent verkündet den Tod von Rashid Sidda in der palästinensischen Stadt Jit, 15. August 2024. (Oren Ziv)

«Wie können wir uns gegen bewaffnete Siedler wehren? Was können wir tun? Selbst wenn das ganze Dorf auf die Strasse geht und sich vor sie stellt, würde das nichts bringen. Sie wollen den Menschen Angst einjagen, damit wir das Dorf verlassen, das ist ihre Strategie.»

Muawiya Sidda wohnt in einem Haus am Rande des Dorfes, das Havat Gilad am nächsten liegt. Seine Kinder spielten im Hof, als das Pogrom begann. «Als wir sie maskiert und mit Waffen kommen sahen, nahm ich die Kinder, setzte sie ins Auto und wir fuhren schnell weg», erzählte er, während er in den verkohlten Überresten seines Wohnzimmers stand. «Wenn ich sie nicht mitgenommen hätte, hätten sie sie alle getötet.»

«Es waren Dutzende – einige mit Waffen, andere mit [Tränengas] und brennbarem Material», fuhr er fort. Wie er gegenüber +972 aussagte, brannten die Siedler zunächst das Haus seines Nachbarn sowie ein davor geparktes Auto nieder und stürmten dann sein Haus – schlugen die Fenster ein, gossen Benzin hinein und setzten es in Brand.

«Sie machen, was sie wollen», sagte er. «Die Armee stand die ganze Zeit am Eingang des Dorfes und verhinderte das Eintreffen der Feuerwehr und eines Krankenwagens. [Die Rettungsdienste] kamen erst, nachdem wir das Feuer selbst gelöscht hatten. Die Armee schoss in die Luft, und die Siedler zogen ab.»

Ein von israelischen Siedlern in Brand gesetztes Fahrzeug in der palästinensischen Stadt Jit, 16. August 2024. (Oren Ziv)

Muhannad Sidda, der Onkel des Opfers Rashid, beschrieb ebenfalls einen gut organisierten Angriff. «Wir waren zu Hause, als die Siedler aus der Richtung von Havat Gilad kamen. Die Anwohner riefen um Hilfe, also gingen wir nach draussen. Es waren etwa hundert [Siedler], bereit mit Benzin und Waffen, andere auch mit Knüppeln. Sie hatten alles dabei. Als sich die Jugendlichen [aus Jit] näherten, feuerten [die Siedler] aus nächster Nähe auf sie, töteten einen und verwundeten einen anderen. Sie hatten keine Skrupel.»

Die Bewohner von Jit zeigten sich wenig beeindruckt von den durch Israels rechte Führer geäusserten Verurteilungen und sind skeptisch, dass die Täter vor Gericht gestellt werden. «Netanjahu redet nur, er wird nichts tun», sagte Leila Rashid, als sie mit der Mutter des Opfers zusammen sass. «Schauen Sie sich an, was sie den Palästinensern in Gaza antun, und niemand auf der Welt tut etwas. Die [israelischen Behörden] wollen uns hier weghaben. Es wird niemand verhaftet werden.»

«Wir brauchen Taten, keine Worte», sagte Ibrahim Sidda, 55, dessen Haus ebenfalls während des Pogroms angegriffen wurde. «Die Armee sagt, sie sei gegen diese Gewalt – also soll sie etwas tun! Hier in der Zone C stehen wir unter der Gerichtsbarkeit und Sicherheitsverantwortung Israels. Sollen sie doch kommen und uns beschützen. Haltet die Siedler auf. Wir sind nicht zu ihnen gegangen, sie sind hierher gekommen.»

1 Oren Ziv ist Fotojournalist, Reporter für Local Call und Gründungsmitglied des Fotokollektivs Activestills.
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Der Text ist am 19. August 2024 im englischsprachigen israelischen Magazin +972 erschienen und wurde aus Local Call aus dem Hebräischen übersetzt.