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Offener Brief an den italienischen Professor Mauro Carlo Zanella anlässlich seiner jüngsten Reise in die Ukraine

von OLEG YASINSKY, 2. September 2024

Lieber Mauro, herzlichen Dank für dein Interesse an meinem Land. Wie du bin ich Lehrer (zumindest dem Titel nach), Hobbyjournalist und leidenschaftlicher Humanist. Danke auch, dass du an Vittorio Arrigoni gedacht hast, den ich ebenfalls bewundere.

Ich schreibe dir und mache das öffentlich, weil ich denke, dass das journalistische Wort in diesen Zeiten der Verwirrung und totalen Manipulation entweder eine Rettungsleine oder eine Massenvernichtungswaffe ist und die nicht existierende «objektive Neutralität», die schon immer für die schlimmsten Medienlügen herangezogen wurde, inzwischen wie ein schlechter Scherz wirkt.

Ich schreibe dir auch, weil ich nicht an den «seriösen Journalismus» glaube, der sich allem und jedem hergibt, von einer würdigen professionellen Prostitution bis hin zu reiner Vergewaltigung […].

Aber der Hauptgrund für diesen Brief ist ein anderer. Ich glaube, dass ein Teil deiner jüngsten Berichte aus der Ukraine und insbesondere das Interview mit dem ukrainischen Pazifisten Juri Scheljaschenko […] den Leser verwirren, wenn es darum geht, die Tragödie meines Landes zu verstehen, weil die Ursachen und der historische Kontext ausgelassen werden. Nicht weil ich mit der einen oder anderen Meinung nicht einverstanden bin, sondern weil sie aus dem Zusammenhang gerissen sind, so wie es die westliche Presse, die darin grosse Meisterin ist, uns beibringt.

Der Krieg in der Ukraine, der nicht nötig war und leicht hätte vermieden werden können, hat eine Geschichte, über welche die Welt aufgeklärt werden sollte und die weit von der Karikatur entfernt ist, die uns die «demokratische Weltpresse» zeichnet. Da du Arrigoni erwähnt hast, könnten wir es mit der Art und Weise vergleichen, wie die israelische Presse über den «Palästinenserkonflikt» berichtet, der in Wirklichkeit gar kein «Konflikt» ist, sondern Enteignung und Völkermord, was auch immer man von der Hamas halten mag.

Die Welt, die so arrogant und dumm ist, sich selbst als «zivilisiert» zu bezeichnen, die etwa 15 000 Wirtschaftssanktionen gegen Russland verhängt hat und keine einzige gegen Israel, hat eine grosse Lüge über den Krieg in der Ukraine konstruiert, um eine einhellige Verurteilung des «Aggressors» zu präsentieren.

Ich denke, es ist eine Sache zu sagen: «Ich bin mit der russischen Regierung nicht einverstanden, weil sie sich für eine militärische Lösung entschieden hat», was mir verständlich und berechtigt erscheint, aber eine andere Sache zu sagen: «Russland ist ein Imperium, das in die Ukraine einmarschiert ist, um Territorium zu erobern», was eine Lüge ist, die von der kriegsfördernden Presse verbreitet wird. Ich beziehe mich insbesondere auf Juris Interview. Ich habe ihn vor drei Jahren in Kiew getroffen und sympathisiere voll und ganz mit ihm, ungeachtet seiner Ansichten, die jetzt das Geringste sind. Was er über Russland sagt, kann ich verstehen, weil er es in der Ukraine sagt, wo heutzutage jede andere Meinung ein tödliches Risiko bedeutet. In der Ukraine gibt es 12 000 bis 15 000 politische Gefangene, über die weder «die demokratische Welt» noch Russland ein Wort verlieren.

Aber seine Rede über die «russische Aggression» zu reproduzieren und damit die Aussagen der NATO und des Kiewer Regimes zu wiederholen – und das auch noch in mehreren Sprachen – halte ich für einen schwerwiegenden Fehler von dir und Pressenza. Das System ist nicht auf Pressenza angewiesen, dafür hat es schon alle Medien der Welt.

Ich denke, bevor jemand seine Meinung äussert oder die tragischen Ereignisse in der heutigen Ukraine interpretiert, sollte er mehr über die Geschichte meines Landes wissen. Naivität ist keine Entschuldigung mehr. Die Hunderttausenden, die vor etwas mehr als zehn Jahren auf den Maidan gingen, handelten gutherzig und naiv im Glauben, sie würden gegen Korruption und für Freiheit kämpfen. Und so brachten sie ein Nazikolonialregime an die Macht, welches das aktuelle Blutbad bereits vorprogrammiert hatte. Putins Regierung hat viele Fehler gemacht, aber diese Tragödie hat sie weder angestrebt noch gewünscht. Der Westen aber schon. Noch vor 30 Jahren waren wir ein Volk. Doch das mediale, wirtschaftliche, politische, militärische, kulturelle, religiöse und kognitive Projekt der transnationalen Konzerne, welche die Welt beherrschen, sieht vor, dass wir aufhören, ein Volk zu sein, und dass wir uns alle gegenseitig töten (nicht nur Russen und Ukrainer). Für sie ist der Krieg in der Ukraine […] ein grosser Triumph, für uns eine grosse Niederlage.

Auch ich wünsche mir einen Waffenstillstand in der Ukraine und Frieden und Liebe. Niemand in Russland freut sich über diesen Krieg. Ich kenne keinen einzigen Russen, der keine Verwandten oder engen Freunde in der Ukraine hat. Es ist dieselbe Kultur, dieselbe Geschichte und dasselbe Blut. Aber wie können wir Frieden aushandeln mit denjenigen, die den Krieg und unsere Vernichtung wollen? Sie wollen nicht nur Putin vernichten, sondern unsere gesamte Kultur und Geschichte, damit sie die Kontrolle über die riesigen Ressourcen Russlands ergreifen und sich dann ihrem Hauptfeind zuwenden können: China.

Mauro, schau dir alle Verträge an, die Russland in den letzten zehn Jahren mit der Ukraine und dem Westen abschliessen wollte, und schau dir an, was daraus geworden ist. Sie haben in Kiew Nazis an die Macht gebracht, die offiziell Denkmäler für die sowjetischen Soldaten zerstören, die die Welt vom Faschismus befreit haben. Ich mag keinen Krieg, aber würdest du es mit Respekt gegenüber den italienischen Partisanen oder der Roten Armee wagen, die Methodik der aktiven Gewaltlosigkeit gegen den Faschismus anzuwenden? Was würde dann mit der Welt geschehen?

Mauro, ich lade dich nach Russland ein. Hier können wir russische, ukrainische und andere Journalisten treffen, die verfolgt und bedroht werden, weil sie den grossen offiziellen Wahrheiten dieser Welt widersprechen. Wir können auch mit Angehörigen des Militärs sprechen, die keinen Krieg wollen, aber nicht wissen, wie sie den Faschismus sonst bekämpfen sollen. Auch hier in Russland haben wir viele Fragen, Zweifel und Albträume. Aber wir glauben, dass wir die Menschheit verteidigen. Aus unserer Unvollkommenheit heraus. So gut wir können. Denn wir sind immer noch Menschen.
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Oleg Yasinsky ist freiberuflicher Journalist ukrainischer Herkunft und lebt in Moskau.

Quelle: Pressenza. Übersetzt mit Hilfe von DeepL.