«Freidenker»-Extra zum Thema «Deindustrialisierung»
Nummer 3/24 von «Freidenker», der vierteljährlich erscheinenden Zeitschrift des Deutschen Freidenker-Verbandes (DFV), ist wie stets einem gesellschaftspolitischen Schwerpunkt-Thema gewidmet, das diesmal «Deindustrialisierung» heisst. Der Begriff Deindustrialisierung trifft in Deutschland derzeit den Nerv des Volkes. Er bestimmt deutsche Talkshows. Meldungen über grosse Personalabbauprogramme und/oder Krisen in deutschen Schlüsselindustrien (Chemie, Automobilbau, Werften usw.) sind in Deutschlands Medien an der Tagesordnung. Deindustrialisierung ist jedoch keineswegs ein auf Deutschland beschränktes Problem. Sie muss, wie einer der Artikel-Autoren mit Karl Marx’ Worten festhält, als Teil einer globalen «Umwälzung des ganzen ungeheuren Überbaus» betrachtet werden.
Die sechs Beiträge im vorliegenden Heft wurden als Referate an einer Konferenz zum Thema «Deindustrialisierung» gehalten, die vom DFV in Zusammenarbeit mit dem Ostdeutschen Kuratorium von Verbänden im April in der Nähe von Schwerin durchgeführt wurde. Im Folgenden sind die sechs Artikel kurz zusammengefasst.
Klaus Hartmann: Die Ideologie der Produktivkraftvernichtung
Wenn wir wissen wollen, warum ideologische Konzepte wie «Grenzen des Wachstums» oder «Great Reset» entstehen, gelte es, sich die ökonomische Basis anzusehen, hält Klaus Hartmann, Stellvertretender Vorsitzender des Deutschen Freidenker-Verbandes, in seinem Beitrag fest. Er verweist dabei auf Karl Marxens Feststellung in «Grundrisse zur Kritik der Politischen Ökonomie»: «Alle bisherigen Gesellschaftsformen gingen unter an der Entwicklung des Reichtums – oder, was dasselbe ist, der gesellschaftlichen Produktivkräfte.» Dabei ist man schon beim Grundproblem kapitalistischer Produktion: Sie ist nicht darauf ausgerichtet, die Bedürfnisse der Menschen zu befriedigen, sondern auf das, was sich verkaufen lässt, ohne auf den tatsächlichen Bedarf Rücksicht zu nehmen. Der daraus resultierenden Überproduktionskrise folgt die Überakkumulationskrise mit einer Unterauslastung von Produktionsmitteln und fehlenden Anlagemöglichkeiten in der produzierenden Wirtschaft, so dass nur noch «der Gang ins Kasino» bleibt, der sich uns als endlose «Falschgeldvermehrung ohne jede tatsächliche Wertdeckung» offenbart. Hartmann geht auf die verzweifelten Versuche ein, den Kapitalismus vor dem System-Kollaps zu retten. Es begann schon in den 70er-Jahren des letzten Jahrhunderts mit der Gründung des Club of Rome und dessen apokalyptischen Prognosen, um von einer rationalen Problemlösung abzulenken. Nach dem Abklingen der Faszination des Club of Rome war es dann der im Schosse des Welt Economic Forums entstandene New Green Deal, der rationale Systemkritik ausschalten sollte. Die von der EU aufgelegte Variante des Green Deal hat zum Effekt, öffentliche Investitionen der Logik des Privatkapitals unterzuwerfen: Projekte müssen Rendite abwerfen und öffentliches Geld daher vor allem das Investitionsrisiko vermindern.
Manfred Sohn: Aspekte der Deindustrialisierung des imperialistischen Deutschland
Auch Dr. Manfred Sohn, Vorsitzender der Marx-Engels-Stiftung (MES), setzt bei Karl Marx an, wo dieser in seinem Werk «Zur Kritik der politischen Ökonomie» auf den Widerspruch der materiellen Produktivkräfte der Gesellschaft zu den Eigentumsverhältnissen hinweist. Das, was heute als «Deindustrialisierung» sichtbar wird, sei der Ausdruck einer sich global entfaltenden «Epoche sozialer Revolution», die in kapitalistischen Gesellschaften den Beginn der «Umwälzung des ganzen ungeheuren Überbaus» darstellt. Das lässt sich am Erfolg der Volksrepublik China ablesen. War es dem Realsozialismus der Nachkriegszeit aufgrund schlechter Rahmenbedingungen nicht gelungen, in der Entwicklung der Produktivkräfte den Westen zu überholen, so zeigt sich nun an der Volksrepublik die grundsätzliche Überlegenheit einer sozialistischen Ökonomie. Sie hat die lähmenden Fesseln des Kapitalismus abgestreift, wenn auch für eine Übergangszeit dem Kapitalismus innewohnende «Entwicklungsformen der Produktivkräfte» (z. B. das Interesse an Bereicherung) vorläufig noch beibehalten werden. Trotz dieser globalen Gewichtsverschiebung in den Produktivkräften sieht Sohn nicht so schlechte Perspektiven für die deutsche Wirtschaft. Voraussetzung ist allerdings, dass das Land seine ökonomische Zukunft standortbezogen sieht, also «eingebettet in den Wirtschaftsraum von Lissabon bis Wladiwostok und Ho-Chi-Min-Stadt».
Wolfgang Beck: Alles hat ein Ende – auch die Marktwirtschaft
Als Direktor des VEB Elektromotorenwerks Wernigerode, des damals grössten Werks für Elektromorenfertigung in Europa, hatte Wolfgang Beck am Ende der DDR die Aufgabe, das Werk aus der Planwirtschaft in die kapitalistische Wirtschaft überzuführen. Statt Bedarfsdeckung sollte nun plötzlich Rendite die Güterproduktion bestimmen. Das Unternehmen, das technologisch auf Augenhöhe mit der Westkonkurrenz war, wurde im April 1990 in eine GmbH umgewandelt. Ein Vorgang, der vom damaligen Leiter der Treuhand Rohwedder ausdrücklich befürwortet wurde, da man, nach seinen Worten, nicht zulassen darf, dass im Gebiet «der ehemaligen DDR das Land der Tochterunternehmen entsteht». Beck glaubt denn auch nicht an die offizielle Version, wonach Rohwedder von der RAF ermordet worden sein soll. Unter dessen Nachfolgerin Breul kamen sich dann die Manager der ehemaligen Volkseigenen Betriebe, welche die Selbständigkeit der Unternehmen aufrecht zu erhalten versuchten, als «Club von Schwererziehbaren» vor. Wolfgang Beck, heute Geschäftsführer eines Ingenieurbüros, ist überzeugt, dass die sogenannte Marktwirtschaft, wie man in Deutschland die kapitalistische Wirtschaft, euphemistisch verbrämt, nennt, nicht das letzte Wort der Geschichte sein wird. Stattdessen plädiert er für eine Volkswirtschaft, die vom Bedarf der Gesellschaft an Gütern bestimmt wird, was er in seinem demnächst erscheinenden Buch «Manifest der Bedarfswirtschaft» darlegen will.
Werner Rügemer: Ausweg aus dem gefährlichen Vasallen-Status
Im Zangengriff des kapitalistisch-militärisch-medialen US-Imperiums wird Europa volkswirtschaftlich, politisch, sozial und kulturell verarmt, degradiert, mit Forderungen nach Kriegshaushalten überzogen und als Stellvertreter in die tödliche US-Geopolitik einbezogen, sogar in einen möglichen Dritten Weltkrieg. Das stellt Dr. Werner Rügemer, praktischer Philosoph und Publizist, an den Anfang seines Aufsatzes, geht dann auf die Vorgeschichte ein und reflektiert schliesslich einen möglichen Ausweg aus der Sackgasse. Sein Rezept dazu ist: Souveränitäten und Kooperationen. Aufbrechende Widersprüche lassen schon heute in Europa realpolitische Entwicklungen erkennen, die gegen atlantisches Vasallentum gerichtet sind. Dazu gehören etwa die Infrastrukturprojekte, die in Zusammenarbeit mit China im Rahmen der Neuen Seidenstrasse entstehen. Oder das Ausscheren mehrerer EU-Länder mit der Anerkennung Palästinas als eigenen Staat. Oder auch die Freiheit, die sich Orban genommen hat, um gegen den Willen der EU-Spitze mit Ukraine, Russland und China über einen Waffenstillstand zu sondieren. Die Sanktionen gegen Russland werden immer kreativer umgangen. Rügemer fordert denn auch konkret: Nato raus aus Europa, raus mit den US-Militärstützpunkten, raus aus Rüstungs- und Kriegshaushalten, dafür eingehen von industriellen und Handelskooperationen mit aufstrebenden Staaten, die sich in internationalen Formaten wie BRICS organisieren, BlackRock und Co. regulieren, entflechten, enteignen und die sinnvollen Teile in national und sozial gestaltetes Eigentum überführen.
Rainer Rupp: Absteiger und Aufsteiger
Vor dem Hintergrund des Niedergangs der deutschen Wirtschaft zeichnet Rainer Rupp, Ökonom und Publizist, ein Bild der aufstrebenden BRICS, die sich am 24. Oktober 2024 in Kasan, der Hauptstadt der autonomen russischen Republik Tatarstan, treffen. 90 Staaten werden dazu ihre Vertreter entsenden, sei es als Mitglieder, Mitgliedschaftskandidaten oder als Beobachter. Seit Anfang Jahr besteht BRICS+ neben den Gründungsstaaten Brasilien, Russland, Indien, China und Südafrika zusätzlich aus Agypten, Athiopien, Iran und den Vereinigten Arabischen Emiraten. BRICS, das ursprünglich gegründet wurde, um die Dominanz westlicher Volkswirtschaften und Institutionen herauszufordern, hat sich dank Chinas Projekt der Neuen Seidenstrasse zu einer mächtigen Koalition aufstrebender Volkswirtschaften entwickelt. Sie sind dabei, eine Reihe integrierter Mechanismen zu schaffen, die Einrichtungen ablösen, welche heute unter der Dominanz der USA stehen (IWF, Weltbank usw.) und zum exklusiven Vorteil des Kollektiven Westens missbraucht werden. Betrug vor 30 Jahren die Wirtschaftsleistung der BRICS-Staaten nur ein Drittel jener der G7, hat BRICS diese unterdessen weit überholt. Rupp betont indes, dass sich die Säulen für eine neue Weltordnung zwar formen, aber noch ein weiter Weg dahin zurückzulegen ist. Entscheidend werde die Entwicklung integrierter Mechanismen und das nachhaltige Wachstum der Schwellenländer sein.
Sebastian Bahlo: «Zeitenwende» – Krise des Imperialismus, neue Bedingungen für den Klassenkampf
«An welchem historischen Punkt befindet sich der Imperialismus?», fragt Sebastian Bahlo, Bundesvorsitzender des Deutschen Freidenker-Verbandes (DFV). Er geht dabei natürlich von der Imperialismus-Definition Lenins aus, die im Imperialismus das monopolbeherrschte Stadium des Kapitalismus sieht. Der Autor gibt zu verstehen, dass die Leninschen Merkmale ein weltumspannendes System kennzeichnen und daher nicht als Kriterien benutzt werden können, ob ein bestimmtes Land als imperialistisch zu bezeichnen ist oder nicht. Zwar seien unter der Oberherrschaft des US-Imperialismus nationale Imperialismen auszumachen, nur dürfe man sie sich nicht als selbständige Entitäten denken. Vielmehr dienen auch diese den internationalen Finanzoligarchen, die selbst überhaupt keine nationalen Ziele verfolgen. Unbegründet und praktisch reaktionär ist daher für Bahlo die Befürchtung, dass durch das Eintreten für nationale Interessen der eigene Imperialismus unterstützt werden könnte, da dieser eben keine gesamtnationalen Interessen verfolgt. Für progressive Kräfte muss das vielmehr heissen: Eintreten für nationale Souveränität auch in einem Land, das fest im Griff des Imperialismus ist. Umso mehr, als dessen Krise für die Bevölkerungsmassen der westlichen Welt zu Wohlstandsverlust führt, was sich etwa in der Deindustrialisierung manifestiert. Für den Klassenkampf ergeben sich daraus neue Bedingungen. Da auf absehbare Zeit objektiv nicht mit einer Massenbewegung des revolutionären Sozialismus zu rechnen ist, gelte es, in den realen gesellschaftlichen Bewegungen mitzumischen mit der Aussicht, sie theoretisch zu bereichern und den Boden für eine zukünftige sozialistische Bewegung zu bereiten. Das kann auch punktuelle Zusammenarbeit über die Klassengrenzen hinaus bedeuten, was gerade in Deutschland in Bezug auf eine Antikriegspolitik hochaktuell ist.
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Ausser dem Schwerpunktthema sind einige Seiten der «Freidenker»-Ausgabe wie immer verbandsinternen Informationen gewidmet. Allgemeine Aufmerksamkeit verdienen dagegen zwei Buchbesprechungen: «Andreas, Lubov, Jacques – vergessene Fremdarbeiterkinder in Nürnberg während des Zweiten Weltkriegs» von Gabi Müller-Ballin sowie «Krieg kommt nicht aus einer schwarzen Wolke» von Raimund Ernst / Kurt Barthel. Interessant ist in der vorliegenden Ausgabe auch eine Leserbrief-Kontroverse über einen Artikel des früheren Bundestagsabgeordneten der Linkspartei.PDS Dieter Dehm, in der ihm «Verharmlosung des Rassismus» unterstellt wird. Dehm hatte in der vorgängigen Ausgabe des FD in einer längeren Abhandlung unter dem Titel «Ein neuer Faschismus – kommt er wieder völkisch?» die Fragwürdigkeit der Anwendung alter Faschismus-Schablonen in der Auseinandersetzung mit neo-nationalen Parteien aufgeworfen. Dehm hängt seiner Duplik einen lesenswerten Text an, den er für die Zeitschrift Ossietzky über das leidvolle Ausfransen der Begriffe «links» und «rechts» verfasst hat.