UNRWA-Mitarbeiter vor dem Ort eines israelischen Luftangriffs auf eine Schule des Hilfswerks im Lager Nuseirat im zentralen Gazastreifen, 6. Juni 2024. (Abed Rahim Khatib/Flash90)
Der zynische und menschenverachtende Kreuzzug der Zionisten gegen das UNRWA
Die israelischen Behörden verlassen sich auf das UNRWA, um eine Polio-Epidemie zu verhindern, während die Knesset ein Gesetz berät, das das Palästinenser-Hilfswerk verbieten soll. Der Einsatz des UNRWA war für Israel unverzichtbar, um die eigene Bevölkerung nicht in grosse Gefahr zu bringen. Umso zynischer und menschenverachtender ist der Kreuzzug, den der zionistische Staat gegen das Hilfswerk führt.
Von JONATHAN ADLER1, 10. Oktober 2024
Letzten Monat, nach fast einem Jahr von Israels völkermörderischem Krieg, schien es während eines Moments endlich eine kleine Dosis guter Nachrichten aus dem Gazastreifen punkto Waffenruhe zu geben.
Nach der Zerstörung der Infrastruktur des Gesundheitswesens und der Abwasserentsorgung im Gazastreifen war im Hochsommer mit einer breiten Polio-Epidemie zu rechnen, nachdem die Krankheit erstmals in Abwasserproben nachgewiesen wurde. Anfang August erkrankte dann auch ein zehn Monate altes Baby an der Krankheit und wurde schnell gelähmt. Internationale Medien und Hilfsorganisationen schlugen Alarm. Doch ohne einen Waffenstillstand – der nach der Ermordung des Hamas-Führers Ismail Haniyeh durch Israel in Teheran immer unwahrscheinlicher wurde – schienen die Chancen für eine erfolgreiche Massenimpfkampagne gering.
Dann begannen sich die Dinge zu ändern. Am 25. August gab Israel bekannt, dass die Koordinationsstelle für Regierungsaktivitäten in den Gebieten (Coordinator of Government Activities in the Territories, COGAT) – der zivile Zweig der israelischen Militärregierung im besetzten Westjordanland und im Gazastreifen – in Zusammenarbeit mit der Weltgesundheitsorganisation (WHO) und dem Kinderhilfswerk der Vereinten Nationen (UNICEF) 1,2 Millionen Dosen des Polio-Impfstoffs in den Gazastreifen gebracht habe. Eine Woche später erklärte sich die israelische Regierung bereit, ihre Militäroffensive in bestimmten Regionen des Gazastreifens zu unterbrechen, um die Verteilung der Impfstoffe zu gewährleisten. Premierminister Benjamin Netanjahu beeilte sich zu betonen, dass es sich bei diesen Pausen nicht um einen Waffenstillstand handele, sondern dass Israel mit dieser Massnahme «entschlossen sei, einen Ausbruch der Krankheit im Gazastreifen sowie in der gesamten Region zu verhindern».
Diese israelischen Entscheidungen sind also nicht die Folge einer plötzlichen Sorge um das Wohlergehen der Palästinenser. Im Juli, als sich die Kinderlähmung im Gazastreifen auszubreiten begann, bestand Israels erste Priorität darin, seinen eigenen Soldaten Auffrischungsimpfungen zu verabreichen. Doch selbst geimpfte Soldaten könnten immer noch ein Überträger des Virus sein und es aus dem Gazastreifen zurück nach Israel tragen. Dies stellte eine unmittelbare Bedrohung für die israelischen Bürger dar – und insbesondere für die rund 150 000 Kinder, die nicht gegen Polio geimpft sind, viele von ihnen aus der ultraorthodoxen Gemeinschaft.
In den ersten beiden Septemberwochen waren die dreitägigen «Polio-Pausen» – zunächst im Gebiet von Deir al-Balah, dann in und um Khan Younis und schliesslich in Gaza-Stadt und dem dezimierten Nordstreifen – weitgehend wirksam. Helfer reisten zu Hunderten von ausgewiesenen Impfstellen, und bis zum 12. September hatten fast 560 000 palästinensische Kinder unter 10 Jahren eine erste Dosis des oralen Polioimpfstoffs erhalten, womit eine Durchimpfungsrate von 90 Prozent erreicht wurde. Um die notwendige zweite Dosis zu verabreichen, plant die WHO nun, die nächste Impfphase Mitte Oktober durch eine ähnliche Struktur von Polio-Pausen einzuleiten.
Eine medizinische Fachkraft verabreicht eine Dosis des oralen Polio-Impfstoffs in Deir al-Balah, 1. September 2024. (Abed Rahim Khatib/Flash90)
Obwohl COGAT dies nicht zugegeben hat, war eine dritte Organisation im Gazastreifen von entscheidender Bedeutung für den Erfolg der Impfkampagne: das Hilfswerk der Vereinten Nationen für Palästinaflüchtlinge (UNRWA). Als grösste humanitäre Hilfsorganisation im Gazastreifen mit 13 000 Mitarbeitern, von denen die meisten Palästinenser sind, war das Hilfswerk nicht nur in der Lage, die Impfstoffe zu verabreichen, sondern auch, palästinensische Familien zur Teilnahme an der Kampagne zu motivieren und eine Massenimpfung zu erreichen. Nach den Worten von Sam Rose, dem stellvertretenden Direktor des UNRWA in Gaza, hätte die Impfkampagne ohne das UNRWA nicht durchgeführt werden können.
Erlassen von Gesetzen zur Liquidierung
Das UNRWA koordiniert seine Aktivitäten seit Jahrzehnten mit COGAT. Noch im Februar räumte COGAT-Chef Generalmajor Rasan Elian ein, dass «keine andere Organisation in der Lage ist, die entscheidende Rolle des UNRWA bei der Verteilung humanitärer Hilfe zu übernehmen». Für israelische Beamte ist es jedoch schwieriger geworden, diese Zusammenarbeit zu rechtfertigen, da die Politik angesichts des israelischen Angriffs auf den Gazastreifen eine Kampagne zur Abschaffung der Organisation eingeleitet hat.
Im Juli beschloss die Knesset in erster Lesung mit überwältigender Mehrheit einen Gesetzesentwurf, mit dem das UNRWA als terroristische Organisation gebrandmarkt und die Regierung gezwungen werden soll, alle Verbindungen zu dem Hilfswerk abzubrechen. Zwei weitere Gesetzentwürfe wurden ebenfalls verabschiedet: Der eine verbietet dem UNRWA, auf israelischem Gebiet zu operieren, und der andere entzieht dem UNRWA-Personal die rechtlichen Immunitäten, die UN-Mitarbeitern zustehen. Als die Knesset in die Sommerpause ging, wurden die drei Gesetzesentwürfe an den Ausschuss für auswärtige Angelegenheiten und Verteidigung des Parlaments weitergeleitet.
Im September befand sich die zionistische Politik jedoch in einem Dilemma. Einerseits war man auf das UNRWA angewiesen, sollte eine Massenimpfung im Gazastreifen eine Erfolgschance haben – natürlich in erster Linie zum Schutz seiner eigenen Bürger. Anderseits war man dabei, ein Gesetz zur Auflösung der Organisation voranzutreiben.
Die Abgeordnete Yulia Malinovsky von der rechten Oppositionspartei Yisrael Beiteinu, die den Gesetzentwurf zur Einstufung des UNRWA als «terroristische Organisation» eingebracht hatte, konnte diesen Widerspruch nicht übersehen und verlangte, dass der Ausschuss für auswärtige Angelegenheiten und Verteidigung zwischen den Sessionen zu einer ausserordentlichen Sitzung zusammentritt, um das Gesetz verabschieden zu können. «Es ist inakzeptabel», schrieb Malinovsky an den Ausschussvorsitzenden Yuli Edelstein, «dass das UNRWA zum Hauptkoordinator der Aktion erklärt wird.» Als der Ausschuss am 4. September zusammentrat, erklärte sich Edelstein bereit, die drei Gesetzentwürfe zu erörtern, um «Klarheit in die Haltung des Staates Israel gegenüber dem UNRWA zu bringen».
Die extreme Abgeordnete Malinovsky bei einer Sitzung des Ausschusses für auswärtige Angelegenheiten und Verteidigung der Knesset, 9. Juli 2024. (Yonatan Sindel/Flash90)
Am Jahrestag der Widerstandsoffensive vom 7. Oktober, billigte der Ausschuss formell zwei geänderte Gesetzentwürfe: Der erste würde alle Verbindungen zwischen dem UNRWA und den israelischen staatlichen Behörden kappen, während der zweite dem UNRWA verbieten würde, in Israel tätig zu werden. UN-Generalsekretär António Guterres hatte Netanjahu aufgefordert, das Gesetz zu stoppen, und davor gewarnt, dass es das UNRWA zwingen könnte, alle Aktivitäten in den besetzten Gebieten einzustellen. Unbeeindruckt davon drängte Malinovsky hingegen die Knesset, eine Sondersitzung abzuhalten, um die Gesetze noch vor dem Ende der Sommerpause in diesem Monat zu verabschieden.
In den kommenden Wochen wird das UNRWA also gegen die Zeit anrennen müssen, um gleichzeitig eine zweite Runde dringend benötigter Polio-Impfstoffe zu verabreichen und seine Existenz in Palästina zu sichern.
Ein jahrzehntelanger Kreuzzug
Das UNRWA wurde 1948 nach der Nakba gegründet und ist seit langem die wichtigste humanitäre Hilfsorganisation für palästinensische Flüchtlinge im gesamten Nahen Osten. Seit der Besetzung des Gazastreifens und des Westjordanlands durch Israel im Jahr 1967 arbeitet das UNRWA eng mit den israelischen Behörden zusammen, die sich in vielerlei Hinsicht auf die Arbeit des Hilfswerks verlassen.
Mit seinen Bildungs- und Berufsausbildungsprogrammen, Gesundheits- und Sozialzentren, Infrastrukturverbesserungsprogrammen und Notfalleinsatzkapazitäten bietet das UNRWA Dienstleistungen für die fast 2,4 Millionen registrierten Flüchtlinge in den besetzten Gebieten an – Dienstleistungen, für die sonst Israel als Besatzungsmacht völkerrechtlich verpflichtet wäre. Im weiteren Sinne haben der zionistische Staat und seine Verbündeten auch von der Rolle des UNRWA profitiert, das von der Historikerin Laura Robson als «Instrument der Zurückhaltung» bezeichnet wird: Es hat den Vorteil, dass mit dem UNRWA einige der Strukturen und Ressourcen eines Staates zur Verfügung stehen, ohne dass diese zur Drangsalierung palästinensischer politischer Aktivitäten benutzt werden können.
Wenn das UNRWA auch nur ein Quasi-Staat ist, so ist es doch ein quasi-palästinensischer Staat. Palästinenser stellen nicht nur die überwiegende Mehrheit der Mitarbeiter des Hilfswerks, sondern haben es auch entscheidend geprägt und umgestaltet – auch wenn die Führungsspitze weitgehend in den Händen westlicher ehemaliger Diplomaten und UN-Karrierebeamter lag. In den Anfangsjahren zwangen die Flüchtlinge das UNRWA, eine Reihe von Umsiedlungsprogrammen in arabische Länder aufzugeben und stattdessen seine Mittel auf den Bildungsbereich umzulenken; die UNRWA-Schulen wiederum wurden zu wichtigen Orten für die Entwicklung und Verbreitung des palästinensischen Nationalbewusstseins.
Ein zerstörter Klassenraum in einer UNRWA-Schule im Lager Nuseirat im zentralen Gazastreifen nach einem israelischen Luftangriff, 15. Juli 2024. (Abed Rahim Khatib/Flash90)
Am wichtigsten ist vielleicht, dass das UNRWA dazu beigetragen hat, das palästinensische Flüchtlingsthema präsent zu halten und daran zu erinnern, dass die internationale Gemeinschaft die Verantwortung hat, das Problem einer gerechten Lösung zuzuführen. Aus diesem Grund ist Israel seit langem bestrebt, das UNRWA aufzulösen, obwohl dies weder die UN-Resolution 194, in der das Rückkehrrecht für palästinensische Flüchtlinge völkerrechtlich verankert wurde, noch die anderen Übereinkommen, die dieses Recht für alle Flüchtlinge weltweit bekräftigen, berühren würde.
Die gegenwärtigen Bemühungen des Gesetzgebers, das UNRWA zu verunglimpfen und auszulöschen, sind nur die jüngste und gefährlichste Etappe dieses Kreuzzuges. Israel begann seine Angriffe auf das UNRWA mit der Behauptung vom 26. Januar, dass 12 Mitarbeiter des Hilfswerks an dem Angriff der Hamas vom 7. Oktober beteiligt gewesen seien – eine Anschuldigung, die am selben Tag erhoben wurde, an dem der Internationale Gerichtshof (IGH) Israels Verhalten in Gaza als plausiblen Völkermord eingestuft hatte. In den darauffolgenden Wochen behauptete Israel, ohne Beweise vorzulegen, dass etwa 1200 UNRWA-Mitarbeiter in Gaza Verbindungen zur Hamas hätten, die nach Netanjahus Worten die Organisation «völlig infiltriert» habe.
Der Schaden für den Ruf und die Finanzen des UNRWA war schnell angerichtet. Achtzehn Länder [darunter auch die Schweiz] setzten ihre bestehenden oder geplanten Zahlungen an das UNRWA aus und hinterliessen ein riesiges Loch von 430 Millionen Dollar, das das Hilfswerk mitten im Krieg zu schwächen drohte. Seitdem hat die UNO zwei Untersuchungen über die angebliche terroristische Unterwanderung des Hilfswerks abgeschlossen. Die erste kam zum Schluss, dass das UNRWA ein «ausgeprägteres Neutralitätskonzept» als andere UN-Organisationen oder Hilfsorganisationen verfolge und dass Israel keine Beweise für den Vorwurf, das UNRWA sei von Hamas-Mitgliedern überrannt worden, vorgelegt habe; die zweite Untersuchung ergab, dass 9 Mitarbeiter an dem Anschlag vom 7. Oktober «beteiligt gewesen sein könnten» [was immer das auch heissen soll], doch die Beweise waren nicht schlüssig.
Kürzlich, als Israel seinen Krieg auf den Südlibanon ausdehnte, wurde bei Luftangriffen ein ehemaliger UNRWA-Lehrer getötet, von dem sich später gezeigt haben soll, dass er ein Hamas-Kommandant war – seit März war er von der Behörde wegen «Verstosses gegen das Verbot politischer Aktivitäten» beurlaubt.
Wie die New York Times berichtet, liessen sich mehrere Geberländer von Israels Behauptung, das UNRWA sei zutiefst kompromittiert, nicht überzeugen, und viele nahmen ihre Finanzierung wieder auf, noch bevor die UN-Untersuchungen abgeschlossen waren. Doch in den Vereinigten Staaten – dem grössten Geber des UNRWA und dem letzten Aussteiger – verabschiedete der Kongress ein Gesetz, das die Finanzierung des Hilfswerks bis März 2025 untersagt. Für den Rest des Jahres hat das UNRWA genügend Mittel von privaten Spendern aufgebracht, um die von den USA hinterlassene Lücke zu schliessen, doch versuchen israelfreundliche republikanische und demokratische Gesetzgeber, das Verbot dauerhaft zu machen.
Die Anschuldigungen vom Januar haben das UNRWA kurzfristig kaum geschwächt, aber Israel hat nicht von seiner ausdrücklichen Kampagne zur Lähmung der Organisation abgelassen. Die Regierung hat die Konten des UNRWA bei israelischen Banken eingefroren und alle Anträge von UNRWA-Mitarbeitern auf Aufenthaltsvisa blockiert. Israels staatliche Werbeagentur hat Anti-UNRWA-Anzeigen bei Google geschaltet, welche die Suchenden auf eine Regierungswebsite umleiten, die versucht, das UNRWA mit der Hamas in Verbindung zu bringen.
Ein Knesset-Abgeordneter protestiert mit anderen Denunzianten gegen die UNRWA-Büros in Jerusalem, 9. April 2024. (Yonatan Sindel/Flash90)
In Jerusalem führte der stellvertretende Bürgermeister Aryeh King monatelang Proteste vor dem UNRWA-Hauptquartier in Ostjerusalem an, die am 9. Mai in einem Brandanschlag gipfelten, den King zu wiederholen gelobte. Aufgrund dieser Schikanen sah sich das UNRWA gezwungen, seine Tätigkeit vorübergehend nach Amman und Ramallah zu verlagern, und wird möglicherweise nicht mehr zurückkehren können: Die israelische Landbehörde will das UNRWA endgültig aus Ostjerusalem vertreiben und das Gelände für den Siedlungsbau beschlagnahmen.
Im Gazastreifen ist der Angriff Israels auf das UNRWA jedoch am verheerendsten gewesen. Nach eigenen Angaben des Hilfswerks gab es seit Beginn des Krieges über 460 Angriffe auf UNRWA-Einrichtungen – Schulen, Büros, Kliniken. Mindestens 563 palästinensische Zivilisten wurden getötet und 1790 verletzt, während sie auf dem UNRWA-Gelände Schutz gesucht hatten, zusätzlich zu den 226 Todesopfern unter den UNRWA-Mitarbeitern selbst – die höchste Zahl in einem Konflikt in der Geschichte der UN. Der tödlichste Vorfall ereignete sich erst letzten Monat, in den letzten Tagen der Polio-Impfkampagne, als israelische Luftangriffe eine Schule im Flüchtlingslager Nuseirat trafen und sechs UNRWA-Mitarbeiter töteten.
Zynisch betrachtet ist die Gesetzesoffensive zur Abschaffung des UNRWA in den besetzten Gebieten lediglich eine Kodifizierung der bestehenden militärischen Praxis. Die vorgeschlagenen Gesetze verleihen der IDF vielleicht eine gewisse Legalität, die Infrastruktur und das Personal des UNRWA anzugreifen, aber das zionistische Militär hat sich auch ohne diese schon bisher nicht davon abhalten lassen.
Bei Tag impfen, bei Nacht töten
Die Grausamkeit von Israels mehrgleisigen Angriffen auf das UNRWA macht die erfolgreiche Abgabe von Polio-Impfstoffen umso bemerkenswerter. Während Israel dabei half, 1,2 Millionen Impfdosen in den Gazastreifen zu bringen, beschränkte es weiterhin die Einreise anderer humanitärer Hilfsgüter. Am 12. September, dem letzten Tag der Impfung, rechneten Hilfsorganisationen damit, dass im Laufe des Monats 1 Million Menschen im Gazastreifen Hunger leiden würden, während Refugees International vor der «ernsten Gefahr einer erneuten Hungersnot» im Gazastreifen warnte.
Palästinenser vor dem Ort eines israelischen Luftangriffs auf eine UNRWA-Schule im Lager Nuseirat im zentralen Gazastreifen, 15. Juli 2024. (Abed Rahim Khatib/Flash90)
Auch die Idee der «Polio-Pausen» hat etwas Brutales an sich – eine Art, zuzugeben, dass Israel weiterhin Palästinenser töten und verstümmeln kann, nur nicht an bestimmten Orten und zu bestimmten Zeiten.
Während der zehntägigen Impfkampagne unternahmen das UNRWA und andere Helfer grosse Anstrengungen, um zu verhindern, dass palästinensische Kinder unwiderruflich gelähmt werden, aber sie konnten nichts tun, um zu verhindern, dass dieselben Kinder durch israelische Bomben verstümmelt und behindert wurden – wie es zum Beispiel zwei palästinensischen Kleinkindern in Deir al-Balah nur wenige Minuten nach Ende der Impfpausen passierte. «Wo ist die Menschlichkeit, wenn man Kindern tagsüber einen Impfstoff gibt», fragte Ola al-Masri, eine palästinensische Mutter in Gaza, «und zulässt, dass sie nachts getötet werden?»
Akademiker argumentieren seit langem, dass humanitäre Akteure wie das UNRWA durch die Bereitstellung grundlegender Dienstleistungen für palästinensische Flüchtlinge ein gewisses Mass an Stabilität schaffen, das die Kosten der ständigen israelischen Besatzung senkt. In der Tat beruft sich das UNRWA in seiner derzeitigen Existenzkrise zunehmend auf die stabilisierende Wirkung seiner Programme, um die internationale Unterstützung für das Hilfswerk zu sichern. Bei seinen jüngsten öffentlichen Auftritten hat sich UNRWA-Generalkommissar Philippe Lazzarini bemüht, aufzuzeigen, wie Israel von der Präsenz des Hilfswerks profitiert; er hat insbesondere die Bildungsprogramme des UNRWA als Teil des Kampfes gegen die Hamas dargestellt, indem sie «Ressentiments, Rache und Extremismus» in künftigen Generationen verhindern.
Damit soll die lebenswichtige Bedeutung der Arbeit des UNRWA nicht in Abrede gestellt werden: Wenn es Israel gelingt, das Hilfswerk aus dem Gazastreifen und dem Westjordanland zu vertreiben, werden die Palästinenser auf jeden Fall noch mehr leiden. Die beunruhigende Realität ist jedoch, dass das UNRWA inzwischen so weit geschwächt ist, dass es den Palästinensern nur noch lebensrettende Hilfe leisten kann, wenn dies im Interesse Israels liegt. Im Effekt können die Bemühungen des UNRWA – die Polio-Impfkampagne ist ein Paradebeispiel dafür – Israel sogar indirekt dabei unterstützen, seinen völkermörderischen Krieg fortzusetzen.
Eines der Hauptargumente israelischer Sicherheitsbeamter gegen die Pläne der Regierung, das Hilfswerk aufzulösen, ist, dass die noch schlimmere humanitäre Katastrophe, die ohne das UNRWA einträte, «Israel dazu zwingen würde, seinen Kampf gegen die Hamas einzustellen». Ein Ausbruch der Kinderlähmung, der israelische Leben bedrohen und einen Sturm internationaler Empörung auslösen würde, könnte dies ebenfalls bewirken.
Im Mittelpunkt des israelischen Kreuzzugs gegen das UNRWA steht die Behauptung, dass die Organisation eine Tarnung für die Hamas sei und deshalb beide beseitigt werden müssten. Ironischerweise könnte das UNRWA, wenn es diesen Generalangriff überlebt, der Palästinensischen Autonomiebehörde im Westjordanland ähnlicher werden: zu einem blossen Subunternehmer Israels reduziert, der den Palästinensern grundlegende Dienstleistungen anbietet, aber letztlich gegenüber dem Besatzer rechenschaftspflichtig ist.
Mit seiner militärischen Eskalation im Libanon und dem Versprechen, Vergeltung gegen den Iran zu üben, scheint Israel jedoch darauf bedacht zu sein, viele langjährige Akteure in der Region zu zerschlagen – und es gibt keine Garantie, dass das UNRWA das Blutbad überleben wird. [Dem möchten wir die Frage anfügen: Aber wird der zionistische Staat, seine Gewaltorgie, verbunden mit Völkermord und Vertreibung, überleben?]
1 Jonathan Adler ist Redaktor beim israelischen alternativen +972 Magazine, stationiert in New York. Zuvor war er Stipendiat bei der Carnegie Endowment for International Peace, und seine Artikel wurden unter anderem im New Lines Magazine, Middle East Eye und Jadaliyya veröffentlicht. Man kann ihm auf X folgen über @JRAdler4.
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Der Text ist am 10. Oktober im israelischen Magazin +972 erschienen. Übersetzt mit Hilfe von DeepL.