Das Konferenzpodium von links nach rechts: Wolf Linder, Georges Martin, Massimiliano Ay und Alberto Togni. Über Video war aus Japan Pascal Lottaz zugeschaltet.
Konferenz in Lausanne: «Die Neutralität verteidigen»
«Wenn die Neutralitätsinitiative scheitert, besteht ein konkretes Risiko, dass die Schweiz innerhalb weniger Jahre der Nato beitreten wird und unsere Wehrpflichtigen für Dritte in den Krieg geschickt werden.» Mit dieser ernsthaften Aussage brachte Botschafter Georges Martin das Konferenzthema in Lausanne auf den Punkt. Organisiert wurde die Veranstaltung am 15. Dezember 2024 von der Sektion Romandie der Kommunistischen Partei, unterstützt vom Verein «Nein zur EU – nein zur Nato».
red. In einer Videobotschaft zeigte sich Pascal Lottaz, online aus Japan zugeschaltet, erfreut über die Initiative der Kommunistischen Partei für diese Veranstaltung. Sie zeige, dass es auch auf der linken Seite Leute gibt, welche die Zeichen der Zeit erkannt haben und die Neutralität der Schweiz zu verteidigen bereit sind. Die Neutralitätsinitiative sieht er als konkretes Instrument, um zu verhindern, dass die Schweiz der Nato ausgeliefert wird. Es gelte, der Bevölkerung aufzuzeigen, dass Neutralität und eine Nato-Mitgliedschaft nicht kompatibel sein können. Zudem erweitert die Volksinitiative den Neutralitätsbegriff, indem sie über eine rein militärische Definition hinausgeht und ihn auf die wirtschaftliche Neutralität ausdehnt.
Ohne Neutralität verliert die Schweiz ihre Existenzberechtigung
Georges Martin, Staatssekretär im Ruhestand
«Wir leben in einer verrückten Zeit», betonte Botschafter Georges Martin. Sie erinnere ihn an den Gustave Flaubert zugeschriebenen Aphorismus «Wir tanzen nicht auf einem Vulkan, sondern auf dem Brett einer Latrine, das mir ziemlich morsch scheint.» Die politische Elite ist in grossen Teilen dem Bellizismus erlegen. Die Medien scheuen sich nicht einmal, den Atomkrieg zu banalisieren. Für Neutralität gibt es da keinen Platz mehr. Denn sie steht der von der Elite verfolgten Annäherung an die Nato im Wege. Die Zusammenarbeit mit der Nato geht schon längst weit über die Partnerschaft für Frieden (PfP), die ohnehin zur Partnerschaft für Krieg verkommen ist, hinaus. Es wird von «Interoperabilität» gesprochen, was nichts anderes heisst als: die Schweiz ist von der ersten Minute weg an einem Krieg der Nato beteiligt! Dabei stuft Martin, der vor seiner Pensionierung Stellvertretender Staatssekretär der Eidgenossenschaft war, die militärische Bedeutung der Schweiz für die Nato nicht sehr gross ein; sie stelle für den Nordatlantikpakt eher eine politische Trophäe dar, mehr noch als Schweden und Finnland.
Der Druck, den die Nato auf die Schweizer Politik und die Armee ausübt, ist gemäss Botschafter Martin massiv, was auch an der Haltung zum Atomwaffenverbotsvertrag abzulesen ist. Obwohl die schweizerische Diplomatie bei der Ausarbeitung des Vertrags eine aktive Rolle gespielt hatte, weigert sich der Bund beharrlich, ihn zu unterzeichnen: «Man darf nicht, weil es der Nato nicht gefällt, die die Schweiz unter ihrem Schirm haben möchte.» Diesem Wunsch nachzukommen beeilt sich der Bundesrat bekanntlich mit dem Beitritt zu Sky Shield. Die schleichende Zerstörung der Neutralität wird vom Mainstream konsequent ausgeblendet.
In der Verteidigung der Neutralität schöpft Botschafter Martin aus der Tatsache Hoffnung, dass heute die breite Bevölkerung – im Unterschied zu 1914 – alles andere als kriegsbegeistert ist. Der Tiefe Staat arbeite jedoch Tag und Nacht daran, dies zu ändern. Dem entgegenzuwirken, müsse jetzt die Zeit bis zur Abstimmung genutzt werden. Denn, anders als viele Abstimmungsvorlagen, sei die Neutralität eigentlich eine unkomplizierte Fragestellung. Dies gerade auch wegen der historischen Erfahrung, die unser Land damit gemacht hat. Mit der Neutralität geht es um Krieg oder Frieden. Will das Volk tatsächlich der irrlichternden Elite folgen und uns mit einer Annäherung an die Nato zur Zielscheibe machen? Die Neutralität muss Verfassungsrang erhalten, denn – so schloss der Diplomat seine Ausführungen – «ohne Neutralität würde die Schweiz ihre Existenzberechtigung verlieren oder zu einem Luxemburg der Alpen werden».
Neutralität auch im Wirtschaftskrieg
Wolf Linder, Politologe
Ein grosses Missverständnis stellt der Politologe Wolf Linder im Zusammenhang mit der Interpretation des Neutralitätsbegriffs fest. Neutralität ist keine moralische Kategorie, sondern rationale Kriegsvermeidung und dient als Basis für gute Dienste durch Vermittlung bei Konflikten. Da die Schweizerinnen und Schweizer zwar für Neutralität sind, in der Regel jedoch wenig darüber wissen, hat ein Komitee von Linken und Grünen zu einem Ja zur Neutralitätsinitiative aufgerufen. Das Argument, bisher sei es auch ganz gut ohne diese Verfassungsergänzung gegangen, lässt Linder nicht gelten. Denn auch in der Vergangenheit sei schon willkürlich mit dem Neutralitätsanspruch umgegangen worden. Und gerade die aktuelle Schweizer Regierung handle zunehmend im Widerspruch zur Neutralität der Schweiz, wie das unter anderem mit dem Format der gefloppten Bürgenstock-Konferenz offenkundig wurde. Die Veranstaltung habe der Glaubwürdigkeit schweizerischer Neutralitätspolitik ein denkbar schlechtes Zeugnis ausgestellt.
Einen grossen Pluspunkt sieht Linder in der Volksinitiative, weil sie Sanktionen nicht mehr erlaubt, sofern sie nicht von der UNO erlassen wurden. Sanktionen seien ein schlechtes Instrument, da in erster Linie die arme Bevölkerung darunter leidet. Sie verlängern Konflikte, statt sie zu beheben. Auch Linder lehnt die Annäherung an die Nato ab. Neutralität und Nato gehen nicht zusammen. Nur als glaubwürdiger neutraler Staat könne die Schweiz für den Weltfrieden eine Rolle spielen, die anderen Ländern nicht möglich ist. Diese Zukunft dürfe nicht verspielt werden.
Ein überparteilicher Kampf
Alberto Togni, Komitee Nein zur EU, nein zur Nato
Den Wandel der Welt von einer unipolaren zu einer multipolaren stellte Alberto Togni vom Komitee «Nein zur EU – nein zur Nato» an den Anfang seiner Ausführungen. In diesem Wandel könnte die Schweiz als neutrales Land eine aktive Rolle spielen. Ihre zentrale Lage in Europa prädestiniert sie dazu. Stattdessen gibt der Bundesrat laufend dem massiven Druck der Nato sowie der EU, die sich zunehmend militarisiert, nach. Die Beteiligung an der KFOR ist nicht einfach nur eine Entlastung der Nato; damit wird auch die Souveränität der Schweiz untergraben. Daher ist die Wahrung der Neutralität für die Schweiz nötiger denn je.
Schliesslich forderte Togni dazu auf, den Bestrebungen, die Neutralitätsinitiative in die rechtsextreme Ecke zu stellen, energisch entgegenzutreten. Die Volksinitiative ist überparteilich und wurde von Anfang an von Menschen, die sich zur Linken zählen, mitlanciert. Mit diesem Volksrecht artikulieren sich Menschen unterschiedlichster politischer Lager, die sich die Wahrung der Schweizer Neutralität zum Ziel gesetzt haben. Es gelte, politische Differenzen temporär zurückzustellen, um in einem gemeinsamen Kampf die Neutralität unseres Landes zu retten.
Ohne Neutralität keine souveräne Schweiz
Massimilano Ay, Politischer Sekretär des Partito Comunista
Massimiliano Ay, Politischer Sekretär der Kommunistischen Partei, würdigte das für die Neutralitätsbewegung unersetzliche Engagement von Botschafter Georges Martin. Stimmen aus der diplomatischen Welt seien in diesem Kampf sehr wertvoll. Ebenso bedeutend sei, dass Wolf Linder und Pascal Lottaz mit der Mobilisierung in der Linken und bei den Grünen für die Neutralitätsinitiative klar gemacht haben, dass die Initiative nicht in die rechte Ecke gerückt werden kann.
Ohne Neutralität, so Ay, gibt es für die Schweiz keine nationale Souveränität. Und ohne Souveränität kein Raum für sozialistische Reformen und schon gar keine Revolution. Ay zeigte sich überzeugt, dass die Neutralität auch insofern der einzige Weg ist, als sie unserem Land erlaubt, eine aktive Rolle in der neuen multipolaren Welt zu spielen. Auch wenn der Wandel von der unipolaren zur multipolaren Welt irreversibel ist, darf nicht ausser Acht gelassen werden, dass der Prozess mit einem Kriegsrisiko belastet ist. Und gerade da wäre eine Schweiz bitter nötig, die mithilfe einer glaubwürdigen Neutralitätspolitik wieder zur einer friedensfördernden Rolle zurückfindet.
Die Kommunistische Partei ist sich, so hielt ihr Sekretär fest, nicht zu schön, um in der zentralen Frage der Rettung der schweizerischen Neutralität auch mit politischen Gegnern zusammenzuarbeiten. Man müsse sich bewusst sein, dass innerhalb des Bürgertums und auch innerhalb der Armee Widersprüche vorhanden sind, die ausgenützt werden sollten. Zudem bietet es sich an, in der grossen sozialen Bewegung der Gewerkschaften darauf hinzuwirken, dass aktive Friedenspolitik wieder zu einem Thema wird. Die Kommunisten sollten auch in der Friedensbewegung ihre traditionelle Avantgardestellung verstärken. Es gelte, auf breiter Front Verbündete zu finden, um den Bellizismus und die Aufrüstung zu sabotieren, wo immer dies auch möglich sei. Friedenspolitik und Antifaschismus waren früher Kennzeichen linker Politik. Nachdem aber die gouvernementale «Linke» mit dem Ruf nach Waffenlieferungen in Kriegsgebiete und Sanktionen zur Unterstützung eines nazistisch dominierten Regimes jede Glaubwürdigkeit verloren hat, ist viel Platz frei geworden, den es auszufüllen gelte.
Sich nicht auseinanderdividieren lassen
In der regen Diskussion wurde mehrfach hervorgehoben, dass es darauf ankommt, längerfristig eine umfassende, überparteiliche Bewegung aufrecht zu erhalten und sich dabei nicht auseinanderdividieren zu lassen. Man dürfe sich nicht einschüchtern lassen. Es ist legitim und die natürlichste Sache, dass politische Differenzen vorübergehend zurückgestellt werden, um eine entscheidende nationale Frage über politische Grenzen hinaus gemeinsam anzugehen.
In der Armee, vor allem im unteren Kader und in der Truppe, dürften viele der Nato-Begeisterung der Armeeführung skeptisch gegenüber stehen. Dies müsste in der Kampagne für die Initiative ausgenutzt werden. Den Kopf müssten in einem Natoeinsatz schliesslich vor allem die Soldaten hinhalten. Vor dem Hintergrund, dass Krieg in der Schweiz eine abstrakte Grösse geworden ist, wird es wichtig sein, die Leute dafür zu sensibilisieren, vielleicht mit Zeugnissen von Menschen, die Krieg erlebt haben.
Schliesslich wurde auch noch darauf aufmerksam gemacht, dass zurzeit an den vielen Demonstrationen gegen den Völkermord in Gaza sehr viele junge Menschen teilnehmen, die damit vermutlich zu einem grossen Teil ihre allerersten Erfahrungen punkto politisches Engagement machen. Sie dürften offen sein für weitere Fragen zum Thema Krieg und Frieden und sollten für das Anliegen der Neutralitätsinitiative gewonnen werden.