«Die Neutralität ist Komplizin des Völkermords» klagt ein Graffiti an einem Gebäude der Stadtwerke von Lugano an. Ein führender Jungkommunist sieht das deutlich anders.
Gaza: Ist die Neutralität wirklich ein Feind der palästinensischen Sache?
von ADAM BARBATO-SHOUFANI, Generalsekretär der Kommunistischen Jugend der Schweiz1, 29. Juli 2025
Auf dem Portal TicinOnline wird in einem Artikel der Redaktion über ein Graffiti in Lugano die schweizerische Neutralität kritisiert. Diese sei − laut den Urhebern des Graffitis − mitschuldig am Genozid am palästinensischen Volk, den Israel seit fast zwei Jahren im Gazastreifen und darüber hinaus verübt. Der Artikel fuhr mit der Reaktion des Luganeser Stadtrats Lorenzo Quadri fort, der die Angelegenheit als «blossen Akt von Vandalismus» abtat.
Abgesehen von der Kritik des Lega-Stadtrats − sie unterbindet schon in ihrer Form jede Möglichkeit der Diskussion über ein Thema, das offensichtlich viele Menschen bewegt − möchte ich besonders betonen, dass die Linie, die von den Sprayern vertreten (und leider auch von gewissen politischen Kreisen in der Schweiz geteilt) wird, aus vielen Blickwinkeln unlogisch ist − auch wenn sie in edler Absicht geäussert sein mag.
Adam Barbato-Shoufani
Gemäss dieser Sichtweise stellt die Neutralität ein Hindernis für die Solidarität und Unterstützung dar, die unser Land der palästinensischen Bevölkerung und ihrem nationalen Befreiungskampf leisten sollte.
Diese These unterstellt somit, die Schweiz sei im israelisch-palästinensischen Konflikt tatsächlich neutral. Aber stimmt das? Welche Bedingungen müssten erfüllt sein, damit echte Neutralität vorliegt?
Erstens ist da die Frage der Anerkennung des Staates Palästina. Wenn man eine der beiden Konfliktparteien nicht anerkennt, unterstützt man automatisch die andere, da nur dieser das Existenzrecht und damit auch Handels- und Militärbeziehungen eingeräumt werden.
Zweitens geht es um die Beziehungen zu Israel: Ein grundlegendes Prinzip der Neutralität ist die Enthaltung von direkter oder indirekter Beteiligung an militärischen Handlungen eines kriegführenden Staates. Um wirklich neutral zu sein, müsste die Schweiz also Handels- und Militärabkommen mit Tel Aviv aussetzen.
Drittens betrifft es die Frage der Solidarität: Um tatsächlich neutral zu sein, müsste unsere Regierung sowohl mit der israelischen als auch mit der palästinensischen Bevölkerung solidarisch sein und ihre Worte im Verhältnis zu den zivilen Opfern und den Lebensbedingungen in beiden Ländern mit Bedacht wählen.
Wenn wir diese drei einfachen Bedingungen der Neutralität überprüfen und mit den Handlungen (oder besser gesagt Unterlassungen) der Schweizer Regierung in den letzten rund 22 Monaten vergleichen, wird leicht erkennbar, dass die Voraussetzungen für eine tatsächliche Neutralität im israelisch-palästinensischen Konflikt nicht nur nicht erfüllt sind, sondern dass die Unterstützung der Schweiz klar zugunsten der israelischen Regierung ausfällt.
Tatsächlich erkennt Bern den Staat Palästina nicht an und zeigt auch keine Absicht, dies zu tun; es will die militärische Zusammenarbeit mit Israel nicht aussetzen und schweigt zu den Gräueltaten, die das zionistische Regime in Tel Aviv im Gazastreifen und im Westjordanland verübt – im Gegensatz zu den klaren Verurteilungen vom 7. Oktober 2023 nach den Aktionen von Hamas. In diesem Zusammenhang sind die Aussagen unserer Regierung weder in Bezug auf die Zahl der zivilen Todesopfer (auf jeden israelischen Toten kommen fast zehn palästinensische) noch auf die Verhältnisse in den jeweiligen Gebieten in irgendeiner Weise ausgewogen.
Hier zeigt sich bereits ein zentraler Widerspruch in der Argumentation der Sprayer und ihrer Unterstützer: nämlich die Annahme überhaupt, der Grundsatz der Neutralität werde heute im Hinblick auf Gaza angewendet.
Zum Abschluss unserer Analyse ist es zudem wichtig, eine weitere Tatsache zu beachten: Die Bedingungen für echte Neutralität gegenüber diesem Genozid und die Forderungen jener, die diesen Genozid stoppen wollen, stimmen überein! Die Anerkennung Palästinas, die Aussetzung der militärischen Zusammenarbeit mit Israel und die internationale Solidarität sind Forderungen sowohl der Unterstützer der palästinensischen Sache als auch derjenigen, die an der Neutralität festhalten.
Ein Beweis dafür ist beispielsweise der von der Kommunistischen Partei vor einigen Wochen im Tessiner Grossen Rat eingebrachte Antrag, in dem alle drei Forderungen enthalten waren. Es handelte sich um einen Vorschlag einer der wenigen Parteien, die sich sowohl für die Neutralität einsetzen als auch an der Seite des palästinensischen Volkes stehen.
Denn – und hier spreche ich sowohl die Sprayer als auch ihre Anhänger an – die Neutralität ist nicht das Hindernis, sondern das Mittel, mit dem wir die palästinensische Sache wirklich unterstützen können! Wer zu kritisieren ist, sind vielmehr jene, die diese Neutralität verraten – zugunsten wirtschaftlicher Abkommen mit Israel; darunter diejenigen, die den Antrag der Kommunistischen Partei abgelehnt haben: Lega, SVP, FDP – aber nicht nur!
___
1 Die Kommunistische Jugend ist die Jugendorganisation der KP Schweiz