
Für seine Zeit hätte Lenin nicht richtiger liegen können. Der Imperialismus war nicht einfach eine politische Massnahme (wie die Kautsky-Anhänger meinten), sondern eine integrale Entwicklung der kapitalistischen Lebenweise selbst. (Illustriert von Ali Al-Hadi Chmeis für Al Mayadeen English)
Warum Russland und China nicht imperialistisch sind: Eine marxistisch-leninistische Analyse der Entwicklung des Imperialismus seit 1917
Die westlichen Linken wenden Lenins Theorie falsch an, da der Imperialismus heute ausschliesslich durch den US-Hegemonismus verkörpert wird, während Russland und China als antiimperialistische Mächte dagegen Widerstand leisten.
von CARLOS L. GARRIDO1, 4. September 2025
Heute stufen viele Teile der westlichen «Linken» – von Trotzkisten über westliche «Marxisten» bis hin zu dogmatischen Marxisten-Leninisten – Russland und China als imperialistisch ein, wobei sie sich auf Kriterien stützen, die sie aus Lenins berühmtem Text «Der Imperialismus als höchstes Stadium des Kapitalismus» von 1917 abstrahieren. Dieser Klassifizierung – die ich nicht nur für falsch, sondern für verkehrt halte – liegt ein dogmatisches Verständnis von Lenins Ansichten zum Imperialismus zugrunde, wie ich im Folgenden darlegen werde.
Die Art und Weise, wie der Titel selbst übersetzt wurde, ist irreführend, denn sie suggeriert einen teleologischen Ton, der das Stadium des Kapitalismus, über das Lenin schreibt, als die letzte Form darstellt, die die kapitalistische Lebensweise annehmen wird. Das russische Original, Новейший, suggeriert jedoch anstelle des finalen oder letzten Stadiums das jüngste, d. h. das bisher am meisten fortgeschrittene Stadium des Kapitalismus. Während Lenin den Imperialismus als moribunden Kapitalismus verstand, was dem Zeitalter der Arbeiterklasse und der antikolonialen Revolution entsprach, deutet nichts in seinem Werk darauf hin, dass der Imperialismus selbst nicht in der Lage ist, sich weiterzuentwickeln.
Zu Lenins Zeiten wurde der Imperialismus als Monopolkapitalismus charakterisiert, in dem die Dominanz des Finanzkapitals hervortritt, in dem der Export von Kapital – anstelle von Waren (wie im Britischen Imperium) – im Vordergrund steht und in dem die Welt unter imperialistischen Grossmächten aufgeteilt wird, die um die Ausweitung ihrer Einflusssphären kämpfen. Diese Situation schuf fruchtbaren Boden für zwischenimperialistische Konflikte, bei denen verschiedene Grossmächte gegeneinander antraten und darum rangen, wie ihre imperiale Beute – d. h. ihre Kolonialisierung des globalen Südens – aufgeteilt werden sollte. Das Gemetzel des Ersten Weltkriegs war das unmittelbare Beispiel, das Lenin vor Augen hatte, denn es flogen noch die Kugeln, als er den Imperialismus schrieb.
Für seine Zeit hätte Lenin nicht richtiger liegen können. Der Imperialismus war nicht einfach eine politische Massnahme (wie die Kautsky-Anhänger meinten), sondern eine integrale Entwicklung der kapitalistischen Lebensweise selbst. Er führte nicht zum Frieden zwischen einem internationalen Kartell imperialistischer Grossmächte, die bei der Beherrschung und Ausplünderung der ganzen Welt geschickt zusammenarbeiteten. Es gab noch Beute zu holen, und obwohl der Kapitalismus in sein Monopolstadium eingetreten war, barg er in dessen embryonaler Form noch die Überreste des Wettbewerbs, d. h. des Wettstreits der Grossmächte um die Aufteilung der Welt.
Der Krieg war daher nicht nur eine Möglichkeit, sondern ein notwendiges Ergebnis dieses Konflikts. Er nahm zwei Formen an: 1) nationale Befreiungskriege, die sowohl Kriege der kolonisierten Völker gegen den Imperialismus als auch, nach der bolschewistischen Revolution, Kriege zwischen dem sozialistischen und dem kapitalistischen Block umfassten, und 2) Kriege zwischen imperialistischen Grossmächten, da der «Sieger» bei der globalen Aufteilung der kolonisierten Welt noch nicht feststand. Wenn Lenin von zwischenimperialistischen Konflikten spricht und von den entsprechenden Standpunkten, die die Arbeiter angesichts dieser Konflikte einnehmen sollten, spricht er innerhalb eines spezifischen Kontextes, der nicht vergessen werden darf.
Wie bei allen Dingen im Marxismus wird auch der marxistischen Analyse des Imperialismus das Leben entzogen, wenn sie auf die Schlussfolgerungen reduziert wird, zu denen Lenin in seinem spezifischen Kontext gelangt ist. Das Herz und die Seele des Marxismus sind nicht diese Schlussfolgerungen, sondern die Methode, die Weltanschauung, durch die alle Angelegenheiten zu verstehen sind. Für den Marxismus befindet sich die Welt in einem ständigen Wandel, der durch immanente Widersprüche angetrieben wird. Alle Dinge in dieser Welt sind miteinander verbunden und voneinander abhängig. Dem Marxismus zufolge kann nichts richtig verstanden werden, wenn von seinem Kontext abstrahiert wird, von der dynamischen Situation, in die es eingebettet ist, und von der Art und Weise, wie sich die Situation verändert und verändert wird durch das Wechselspiel zwischen den Widersprüchen, die die in Prozesse eingebetteten Entitäten hervorbringen, und solchen, die ihr Umfeld bestimmen.
Mit anderen Worten: Dogmatismus steht von seinem Wesen her im Widerspruch zum Marxismus. Kontextuelle Aussagen von Marx, Engels oder Lenin als sakrosankt zu betrachten und sie dann auf Kontexte zu übertragen, die von neuen, verfeinerten Widersprüchen und Beziehungen geprägt sind, bedeutet, sich an der unmarxistischsten Form des Denkens zu beteiligen – nämlich im Rahmen dessen zu denken, was ich als Reinheitsfetisch bezeichnet habe, d. h. durch die Idealisierung eines abstrakten, reinen Ideals, das aus dem Kontext, in dem es entwickelt wurde, herausgelöst und über die Realität selbst gestellt wird.
Das ist genau das, was die westlichen «Linken» tun, wenn sie das heutige Russland oder China als «imperialistisch» einstufen. Entsprechend wird so etwas wie die spezielle Militäroperation – die in Wirklichkeit durch und durch antiimperialistisch ist – als «zwischenimperialistischer» Konflikt betrachtet. Wie kommt eine derartige Umkehrung der Welt zustande? Durch Dogmatismus, d. h. indem die berühmten fünf «Merkmale», die Lenin dem Imperialismus seiner Zeit zuschrieb, abstrahiert und auf Russland oder China übertragen werden. Das ist ein durch und durch fetischistisches Denken, denn es behandelt diese Merkmale auf eine verdinglichte Art und Weise, die ihnen eigene Qualitäten verleiht, losgelöst von den Beziehungen, die ihnen zugrunde liegen, und von dem grösseren System, das diese Beziehungen hervorbringt. Lenin «definierte» den Imperialismus nicht durch diese Merkmale, sondern analysierte – durch einen Aufstieg vom Abstrakten zum Konkreten – das imperialistische System, das die jüngste Phase des Kapitalismus darstellte, die er beobachten konnte, und in der diese Merkmale spezifische Funktionen zur Reproduktion des Systems als Ganzes erhielten. Es sind nicht diese fünf Merkmale, die den Imperialismus ausmachen, es ist das System als Ganzes, das die Bedeutung dieser Merkmale für seine Reproduktion bestimmt.
Wenn westliche «Linke» versuchen, Merkmale in den internationalen Beziehungen Russlands oder Chinas aufzulisten, um sie den fünf Merkmalen Lenins zuzuordnen, werden die Verhältnisse der Effektivität oder Indizes der Effektivität (wie Althusser sie nannte), mit denen Lenin operierte, umgedreht. Anstatt dem System als Ganzem den Vorrang vor bestimmten Merkmalen einzuräumen, die es zu seiner Reproduktion verwendet, werden die Merkmale selbst als primär betrachtet, d. h. als das, was das System ausmacht. Dasselbe Problem des abstrakt-universellen Denkens tritt bei denjenigen auf, die Märkte mit dem Kapitalismus gleichsetzen. Anstatt Märkte als eine universelle institutionelle Form zu betrachten, die je nach dem besonderen sozialen System, in das sie eingebettet ist, unterschiedlich funktioniert (d. h. sie als konkret oder universell verwurzelt zu verstehen), wird eine institutionelle Form von einem grösseren sozialen System abstrahiert, um dann auf raffinierte Weise das eine in das andere zu verwandeln. Das ist nicht viel anders, als wenn man sagt, ein Kloster sei ein Nachtclub, nur weil es dort Musik gibt.
Die wirkliche Frage, die von den Dogmatikern der westlichen «Linken» nie gestellt wird, ist die Frage, die sich jeder tatsächliche Marxist-Leninist immer wieder stellen muss: Wie hat sich die Welt weiterentwickelt, und wie muss sich dementsprechend unser theoretischer Apparat weiterentwickeln, um sie zu begreifen.
Meines Erachtens erfährt das imperialistische Stadium, das Lenin 1917 richtig einschätzte, in den Nachkriegsjahren mit der Entwicklung des Bretton-Woods-Systems eine teilweise qualitative Weiterentwicklung. Das heisst nicht, dass Lenin «falsch» lag, es bedeutet lediglich, dass sein Untersuchungsgegenstand – den er zu seiner Zeit richtig einschätzte – eine Entwicklung durchlaufen hat, die jede Person, die der gleichen marxistischen Weltanschauung verpflichtet ist, dazu zwingt, ihr Verständnis des Imperialismus entsprechend zu verfeinern. Bretton Woods verwandelt den Imperialismus von einem internationalen in ein globales Phänomen, das nicht mehr durch imperialistische Grossmächte verkörpert wird, sondern durch globale Finanzinstitutionen (den IWF und die Weltbank), die von den USA kontrolliert werden und in ihrem Kern auf die Dollar-Hegemonie ausgerichtet sind.
Mit Bretton Woods und dann mit Nixons Abkehr vom Goldstandard 1971 wurde Imperialismus zum Synonym für die Unipolarität und den Hegemonismus der USA. Das bedeutet, dass sich die Dominanz des Finanzwesens, über die Lenin schrieb, zu einem US-dominierten globalen Finanzsystem verschärft hat. Ob wir diesen Übergang nun Superimperialismus nennen wollen – wie Michael Hudson es tut – oder etwas anderes, ist weitgehend irrelevant. Entscheidend ist, dass sich der Kapitalismus zu einer höheren Stufe entwickelt hat, dass der Imperialismus, von dem Lenin schrieb, nicht mehr die «jüngste» Stufe des Kapitalismus ist, dass er – durch seine immanente dialektische Entwicklung – einer neuen Form gewichen ist, die durch eine Vertiefung seiner charakteristischen Grundlage im Finanzkapital gekennzeichnet ist. Wir befinden uns endlich in der Ära des kapitalistischen Imperialismus, die Marx im dritten Band des Kapitals vorausgesagt hat, in der sich die herrschende Akkumulationslogik vollständig von M-C-M’ zu M-M’, d.h. vom produktiven Kapital zum zinstragenden, parasitären Finanzkapital gewandelt hat.
Heute wird der Löwenanteil der vom imperialistischen System erzielten Profite durch Schulden und Zinsen akkumuliert. Die USA können ohne die üblichen Einschränkungen, denen andere Nationen ausgesetzt sind, ständig Defizite verzeichnen und den Rest der Welt effektiv dazu bringen, die Militärausgaben und Auslandsinvestitionen der USA zu finanzieren. Statt die USA zu schwächen, binden die Defizite die Finanzsysteme anderer Länder an den Dollar und stärken so die geopolitische und wirtschaftliche Vorherrschaft der USA. Die USA können in weniger als einer Sekunde mehr Geld drucken, als jedes andere Land in einer Spanne von Jahren durch reale Investitionen in Arbeit, Ressourcen und Zeit produzieren kann. Das ist der Imperialismus von heute. Sein Grundgerüst sind die globalen Finanzinstitutionen wie der IWF und die Weltbank, Institutionen, die – in letzter Instanz – nur von den USA kontrolliert werden. Weder China noch Russland könnten diese globalen Finanzapparate nutzen, um ihre sogenannten «imperialen» Interessen durchzusetzen. Im Gegenteil, diese Institutionen werden von den USA oft als Waffe gegen sie und ihre Verbündeten eingesetzt.
Mit einem solchen Verständnis davon, wie sich der Kapitalismus zu einer höheren Stufe des Superimperialismus entwickelt hat, und folglich auch davon, wie der Imperialismus heute tatsächlich funktioniert, ist es absurd, von russischem, chinesischem oder irgendeiner anderen Art von Imperialismus zu sprechen, der kein US-Imperialismus ist (zu dem natürlich auch seine Marionetten in Europa und das zionistische Gebilde gehören). Imperialismus ist heute nichts anderes als der Hegemonismus und die unipolare Macht der USA. Es gibt keine Möglichkeit mehr für einen «zwischenimperialistischen» Konflikt. Der Krieg findet heute zwischen dem US-Imperium und dessen Lakaien einerseits und dem – ideologisch, politisch und wirtschaftlich heterogenen – antiimperialistischen Block andererseits statt.
Das US-dominierte kapitalistisch-imperialistische Weltsystem situiert Russland und China nicht als imperialistische Mächte, sondern als antiimperialistische Grossmächte (eine Kategorie, die Hugo Chavez vor langer Zeit entwickelt hat). Die russische SMO, die Weigerung Chinas, sich dem imperialen Druck der USA zu beugen, die Achse des Widerstands in Westasien, all dies (und vieles mehr) sind Koordinatenpunkte, an denen sich die Widersprüche in der Welt – zwischen dem imperialen Block der USA und den heterogenen antiimperialistischen Staaten des Globalen Südens – entzünden. Heute entwickelt sich der Planet als Ganzes auf der Grundlage der sich entfaltenden Widersprüche des Kampfes zwischen dem US-Imperialismus und dem globalen Antiimperialismus.
Russland und China sind also keineswegs imperialistisch, sondern stehen im Gegenteil an vorderster Front der antiimperialistischen Kämpfe. Genauso wie wir nicht neutral bleiben können, wenn es darum geht, wie sich der Klassenkampf innerhalb der Nation zwischen Kapitalisten und Arbeitern gestaltet, d. h. genauso wie wir alle mit der Frage von Florence Reece (die von Pete Seeger popularisiert wurde) rechnen müssen: «Auf welcher Seite stehst du?» – so stehen wir auch global vor der gleichen Frage: «Auf welcher Seite stehst du … bist du auf der Seite des US-Imperialismus oder auf der Seite der heterogenen und unreinen Ansammlung von Staaten, die gegen ihn kämpfen?» Es gibt keine dritte Alternative. So wie die kleinbürgerliche Position, den Klassenkampf zwischen Arbeitern und Kapitalisten abzulehnen, eine indirekte Art ist, den Hauptaspekt dieses Widerspruchs zu unterstützen, d. h. die Kapitalisten, so ist heute der westliche «linke» Diskurs über den russischen und chinesischen Imperialismus lediglich eine andere Form, das grösste Übel auf diesem Planeten – das herrschende Weltsystem, den hegemonialen US-Imperialismus – objektiv zu unterstützen.
1 Carlos L. Garrido ist ein kubanisch-amerikanischer Philosophieprofessor. Er ist Direktor des Midwestern Marx Institute und Bildungsminister der Amerikanischen Kommunistischen Partei. Er ist Autor zahlreicher Bücher, darunter The Purity Fetish and the Crisis of Western Marxism (2023), Why We Need American Marxism, Marxism and the Dialectical Materialist Worldview (2022) und die demnächst erscheinenden Bücher On Losurdo’s Western Marxism (2025) und Hegel, Marxism, and Dialectics (2025). Er hat für Dutzende von wissenschaftlichen und populären Publikationen auf der ganzen Welt geschrieben und betreibt verschiedene Live-Sendungen für das Midwestern Marx Institute YouTube. Abonnieren Sie seinen Substack: Philosophy in Crisis.
Quelle: Al Mayadeen. Übersetzt mit Hilfe von DeepL.