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Der Generalstreik in Portugal

Von Marcel Hostettler

Der Generalstreik vom 30. Mai in Portugal wirft ein positives Schlaglicht sowohl auf den portugiesischen Gewerkschaftsbund (CGTP) als auch auf die Kommunistische Partei (PCP). Letztere verzeichnet seit Jahren Rekordzahlen beim Mitgliederzuwachs und gewinnt immer mehr Einfluss im Land.

In Portugal hat die amtlich zugegebene Arbeitslosenquote den Höchststand seit 20 Jahren erreicht. Nach aller Erfahrung behindert eine solche Lage und die damit verbundene gesteigerte Angst um den Arbeitsplatz die Entfaltung von Streikbewegungen. Zu der halben Million Arbeitslosen kommen etwa 1,3 Millionen Portugiesen hinzu, die in prekären Arbeitsverhältnissen beschäftigt sind und damit ohne weiteres vor die Türe gesetzt werden können.

Diese beiden Faktoren waren dem Allgemeinen Gewerkschaftsbund “Confederaçao Geral dos Trabalhadores Portugueses” (CGTP)-Intersindical natürlich im voraus bekannt. Sie hätten wohl mancher europäischer Gewerkschaft gereicht, um die Finger von einem Generalstreik zu lassen, erst recht von einem politischen Streik, dessen Forderungen erfahrungsgemäss nicht so leicht zu vermitteln sind wie bei einem Lohnstreik. Nicht so die CGTP: Sie zog aus den Schwierigkeiten den entgegengesetzten Schluss, dass nämlich der 24-stündige politische Generalstreik gegen Prekarisierung, Flexicurity, Arbeitslosigkeit und wachsende Ungleichheit als Warnung an die Regierung Sócrates umso nötiger ist, auch wenn die Voraussetzungen für eine 100-prozentige Streikquote in vielen Sektoren nicht vorhanden sind.

Zudem sehen die portugiesischen Genossen in der Steigerung der Kampferfahrung der Arbeitermassen ein Ziel, welches auch unter erschwerten Kampfbedingungen nicht vernachlässigt werden darf. Der Generalstreik vom vergangenen 30. Mai ist ein deutliches Zeichen der zunehmenden Empörung breiter Bevölkerungskreise gegen die neoliberale Politik der reaktionären SP-Regierung Sócrates. Nach Umfragen eines unabhängigen Instituts sprachen sich die Portugiesen zu 44 Prozent für den Arbeitskampf aus, während 40 Prozent dagegen votierten. Unter den Befürwortern finden sich auch 39 Prozent der SP-WählerInnen.

Historischer Kampftag

Innerhalb der Arbeiterklasse ist dieser historische Kampftag als Zeichen der Entschlossenheit und Kampfbereitschaft wachsender Teile der portugiesischen Proletarier zu würdigen. Ein solcher Kampftag entmutigt natürlich alle Pläne und Hoffnungen der Bourgeoisie, der Arbeiterklasse und ihren Klassenorganisationen das Rückgrat zu brechen. Indem die Arbeiter ihr Streikrecht zu Hunderttausenden ausübten, haben sie dieses Recht gegen alle Anfeindungen und Bedrohungen verteidigt, denen es auch in Portugal ausgesetzt ist. Es hat auch diesmal nicht an konkreten Drohungen und Einschüchterungsversuchen gegen Streikwillige gefehlt. Viele Transportbetriebe und andere öffentliche Betriebe liessen am Vortag des Streiks Namenslisten von Arbeitern verlesen, die zur Aufrechterhaltung eines Minimalservice abkommandiert wurden.

Diese “Nominierten” wurden über das betriebsübliche Mass hinaus unter gezielten Druck gesetzt. Viele haben die angedrohten Entlassungen und Disziplinarverfahren gefürchtet. Diese Vorgänge stellen einen krassen Bruch der portugiesischen Verfassung dar, welche das Streikrecht schützt. Als Verstoss gegen Verfassungsrechte werden auch die Behinderung von Betriebsversammlungen und der Polizeieinsatz gegen Streikposten kritisiert. Ebenso erstatteten die Gewerkschaften Anzeigen wegen Delikten gegen das Datenschutzrecht, nachdem einige Betriebe Listen zur Identifizierung von streikbereiten oder streikenden Arbeitern angelegt hatten, um ein Klima der Angst zu erzeugen. Die Gegenseite kündigte unterdessen Massregelungen gegen die “nominierten” Arbeiter an, welche sich massenweise ihrem Aufgebot widersetzt haben. So in der Metro von Lissabon, wo der Streikerfolg trotz aller Drohungen ein vollständiger war.

Die vollständige Streikstatistik einschliesslich der Gesamtzahl der Streikenden lag bei Redaktionsschluss noch nicht vor. In den grossen Spitälern wurde der Streik weitestgehend befolgt. Der Verkehr über Land wurde schwer eingeschränkt, der öffentliche Nahverkehr brach zusammen. In der Umgebung von Lissabon, Porto und anderen Zentren waren damit auch die Arbeitswege in alle Richtungen blockiert. Müllabfuhr, öffentliche Dienste und Schulen waren im ganzen Land weitgehend ausser Betrieb.

Grösste Streikquote

Die allermeisten lokalen Verwaltungen blieben geschlossen; hierbei wurde die grösste je verzeichnete Streikquote von über 90 Prozent erreicht. Aus den grossen Industriebetrieben werden mehrheitlich hohe und vielerorts geschlossene Streikbeteiligungen gemeldet. Schwer betroffen waren zahlreiche Banken und Versicherungen. Nur ausnahmsweise lag die Beteiligung unter den Erwartungen. Wie nicht anders zu erwarten, spricht das Regierungslager von einem Misserfolg des Streiks. Ins gleiche Horn posaunt die regierungstreue Minderheitsgewerkschaft UGT. Diese Spalter hatten schon im Vorfeld versucht, den Streikaufruf totzuschweigen und ihre eigene Anhängerschaft von einer Streikbeteiligung abzuhalten. Trotzdem haben sich einige Teilverbände und UGT-Versammlungen für den Streik ausgesprochen.

Finanzminister Teixeira dos Santos versteifte sich auf die dümmliche Behauptung, nur 13 Prozent hätten gestreikt. Diese Darstellung wurde sogar von den regierungsabhängigen Medien bezweifelt, weil die gewaltige Bedeutung des Streiks vor aller Augen liegt. Ein Blick auf die Agenda erklärt, warum die Regierungsseite so eifrig mit erfundenen Zahlenbehauptungen hantiert. Portugal übernimmt im zweiten Halbjahr den EU-Vorsitz von der deutschen Bundeskanzlerin Merkel. Dem Regierungschef José Sócrates kommt daher der grossartige Streik so ungelegen wie eine schallende Ohrfeige.

Die EU-Gewaltigen haben allen Anlass zum Zweifel, ob der unpopuläre Sócrates nun der geeignete Mann sei, welcher der EU-Verfassung wieder auf die Beine helfen könnte. Dass die Arbeiter in Setúbal und eine Cooperativa Proletário Alentejana in Beja hundertprozentig mitmachen, bedarf keiner besonderen Erwähnung, denn in diesen roten Gegenden hatte der Generalstreik sein Heimspiel. Vom Standpunkt der Entwicklung der Klassenkämpfe ist als eines der wichtigsten Elemente dieses Kampfs vielmehr die Tatsache herauszuheben, dass der Streik auch in Landesgegenden und in solchen Betrieben Fuss fassen konnte, die man als ausgesprochen “schwieriges Gelände” bezeichnen muss. Darunter fallen Einkaufszentren, Call-Zentren, Reinigungsfirmen, Hotellerie und ähnliche Segmente. Dass der Streik dort überhaupt zustandekam, dass er zuweilen 50 und mehr Prozent der Belegschaft erfasste, und dass er selbst bei geringerer Beteiligung unbeirrt und trotz aller Drohungen durchgestanden werden konnte, zeugt von Mut, Entschlossenheit und persönlicher Opferbereitschaft. Mehrere grosse Call-Center wurden geschlossen bestreikt.

Vorbereitungskampagnen

Der Generalstreik vom 30. Mai ist nicht ein Vorgang, der sich bloss auf dieses Datum beschränken würde. Viele Tausende von Arbeitern waren bereits in die wochenlangen Vorbereitungskampagnen eingebunden. An vielen Betriebsversammlungen wurden solche politischen Fragen wie das EU-Grünbuch zur “Flexicurity” und dessen Umsetzung ins Landesrecht als “flexigurança” erstmals gründlich besprochen. In vielen Betrieben wurden die Personalforderungen zum ersten Mal zu Papier gebracht und diskutiert.

Die hier geleistete Pionierarbeit für künftige Kämpfe in den macdonaldisierten, bislang gewerkschaftlich schwach organisierten Sektoren kann in ihrem Wert nicht hoch genug eingeschätzt werden. Die CGTP geht gestärkt aus diesem Kampf hervor, auch wenn einige das nicht wahrhaben möchten, darunter die Führer des “Linksblocks”. Diese setzten sich vom Streik ab, stellten ihn als schweren Fehler hin und lasten seinen angeblichen Misserfolg den Kommunisten an.

Die KP bedauerte diese “sozialdemokratische Wendung” der Blockisten, welche der EU-Linkspartei angeschlossen sind. Objektiv ist dieser Streik aus der Notwendigkeit erwachsen, der gewaltigen Offensive der Regierung auf die Rechte der Arbeiterklasse zu begegnen. Der jüngste Generalstreik bildet den vorläufigen Höhepunkt in einem bemerkenswerten Aufschwung der Klassenkämpfe in Portugal. Die kommunistische Partei (PCP) verzeichnet seit Jahren Rekordzahlen an Neueintretenden. Dabei wächst der Anteil der Jungen überproportional stark an, und die Partei verbreitert ihre soziale Basis und regionale Verankerung auch ausserhalb der angestammten Gebiete. Noch nie in der Geschichte führte die PCP so viele Versammlungen und Aktionen durch wie 2006.

Im gleichen Jahr absolvierten 1700 Genossen die Kaderschulungskurse der Partei. Diese Saat scheint nun schon die ersten Früchte zu tragen. Mehr als 150.000 folgten im März dem Aufruf der PCP und der CGTP zur Manifestation des Massenprotestes gegen die neoliberale Regierungspolitik. Mit der Arbeitsniederlegung vom 30. Mai haben einige Hunderttausend zu einer noch schärferen Form des Protestes gegriffen. Als mächtige Warnung an die Adresse von Premier Sócrates bewertete der KP-Generalsekretär Jerónimo de Sousa den Streiktag. Der Metallarbeiter gilt nach Umfragen als derzeit populärster Politiker des Landes.

Der Weg Portugals

Man darf nicht vergessen, dass Portugal sich aus eigenen Kräften vom Faschismus befreit hat. Die Erfahrungen der faschistischen Repression, des Widerstandskampfs gegen das Regime und seine blutigen Kolonialkriege ebenso wie die revolutionären Kämpfe der 1970er Jahre sind hier bis heute in wacher Erinnerung. Nach dem Sturz des portugiesischen Faschismus im April 1974 schlug das Land eine zunehmend antiimperialistische, demokratische Richtung ein. Die portugiesische Revolution ist die bisher einzige sozialistische Revolution in NATO-Landen geblieben.

Ihre Ergebnisse wurden in der sozialistischen Verfassung von 1976 festgehalten. Unter dem gegebenen Kräfteverhältnis und besonders angesichts der revolutionären Stimmung der Massen und unter dem Druck der eigenen Basis zogen es unter anderen auch die Sozialisten vor, dieser Verfassung zuzustimmen. Im gleichen Jahr gelangte aber auch der Totengräber der portugiesischen Revolution an die Regierung, Mário Soares, der Vorsitzende der sozialistischen PS. Soares genoss im Land einige Popularität als Anwalt der Familie des Generals Humberto Delgado, der von der faschistischen Geheimpolizei PIDE umgebracht worden war. Die Jahrzehnte der Unterdrückung wissen allerdings nichts von dieser SP zu berichten, die erst 1973 mit deutschem Geld in Bad Godesberg gegründet wurde. Der antifaschistische Widerstand wurde jahrzehntelang von der KP angeführt. Als die Parteiorgane 1974 erstmals wieder legal zusammentreten konnten, pflegte man bei solchen Anlässen die insgesamt abgesessenen Gefängnisstrafen zu addieren: das Zentralkomitee hatte über 600 Jahre auf dem Buckel, so dass im Durchschnitt mehr als 10 abgesessene Jahre auf jeden anwesenden Genossen fielen. Die portugiesische Arbeiterklasse verfügt zweifellos über eine erfahrene und kampfgestählte Partei als allererste Voraussetzung für einen erfolgreichen Kampf. Zudem hat es diese Klasse bzw. ihre Partei verstanden, einen nachhaltigen ideologischen Einfluss auf halbproletarische und nichtproletarische Schichten der Bevölkerung wahrzunehmen. Auch im demokratischen Kleinbürgertum zu Stadt und Land und in unteren Teilen der nicht monopolisierten, nicht imperialistisch orientierten Bourgeoisie begreifen viele die wichtige Rolle der KP als patriotische und antifaschistische Hauptkraft und Garantin der demokratischen Verfassung.

__Quelle:__
Vorwärts – Die sozialistische Zeitung. Nr. 21/22, 63. Jg., 23. Juni 2007, S. 8

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