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Ukraine beauftragt Pflichtanwalt für Stalin: Ein anachronistischer Prozess

sinistra. Die Ukraine will Josef Stalin zum zweiten Mal posthum den Prozess machen. Ein Pflichtanwalt wurde dem Angeklagten auch schon zur Seite gestellt. Das erinnert NIL MALYGUINE1 an einen Vorfall im Rom des 9. Jahrhunderts!

Dschugaschwili wird aus dem Priesterseminar ausgewiesen Den jungen Dschugaschwili focht es wenig an, als er in Tiflis aus politischen Gründen aus dem Seminar geworfen wurde, noch weniger wird er sich 70 Jahre nach seinem Tod um eine Prozessfarce scheren.

Auf der berühmten Leichensynode, die 897 in Rom stattfand, ordnete Papst Stephan VI. die Exhumierung seines Vorgängers, Papst Formosus, an. Der verwesende Leichnam des Formosus wurde aus dem Grab gezogen, vor Gericht gestellt, verurteilt und schliesslich in den Tiber geworfen. Papst Formosus kümmerte dies wahrscheinlich nicht mehr gross, aber dieser Schwindel hatte ernste Konsequenzen für seine Schöpfer. Wenige Monate später führte die Empörung des Volkes zur Verhaftung von Stephan VI., der in der Engelsburg hingerichtet wurde…

Zum Glück sind Stalins Überreste sicher in der Nekropole des Kremls untergebracht, sonst könnten die Nazis in Kiew versucht sein, sie vor Gericht zu zerren und dann in den Dnjepr zu werfen. Das ist nicht der Anfang eines Witzes: In der Ukraine wird tatsächlich ein Prozess gegen Stalin vorbereitet. Die Angelegenheit ist so ernst, dass dem verstorbenen Staatschef der UdSSR vor einigen Tagen ein Anwalt zugeteilt wurde. Der Anwalt wurde von Amts wegen zugeteilt, weil Stalin in Anbetracht der Situation nicht in der Lage ist, selbst einen auszuwählen. Sein Name ist Andrei Domansky, und er hat bereits angekündigt, dass sein Mandant unschuldig ist, bis der Prozess das Gegenteil beweist. Kurzum, das antisowjetische Delirium, das in der Ukraine in den 1990er Jahren begann und sich nach 2014 mit dem Maidan-Nazi-Putsch weiter ausbreitete, hat nun neue Rekorde der Absurdität erreicht. Wahrscheinlich ist die Tatsache, dass ein TV-Komiker im Präsidium sitzt (Vladimir Zelensky), nicht hilfreich.

Nationale Identität und Geschichtsrevisionismus

All dies würde selbst in einer schwarzhumorigen Komödie keinen Sinn ergeben. Dennoch müssen wir uns bemühen, zu verstehen, was hier geschieht. Seit dem Moment, in dem sie mit dem Zusammenbruch der Sowjetunion ihre Unabhängigkeit erlangte, ist die Ukraine verzweifelt auf der Suche nach einer nationalen Identität. Das ist keine leichte Aufgabe, da es nie einen richtig «ukrainischen» Staat gegeben hat und das Schicksal der Region immer mit dem der russischen Zivilisation und ihrer Nachbarreiche verbunden war. Der älteste «russische» Staat in der Geschichte war in der Tat die Kiewer Rus’. Im Jahr 988 unserer Zeitrechnung konvertierte der Kiewer Fürst Wladimir I. sein Königreich zum byzantinischen Christentum. Dieses Königreich, dessen Territorium sich vom Schwarzen Meer bis zum Weissen Meer erstreckte und dessen Hauptstadt mit der heutigen Hauptstadt der Ukraine zusammenfiel, nannte sich Rus.

Im Laufe der Jahre haben viele Historiker versucht, wider besseres Wissen eine historische Vergangenheit der Region zu schaffen, die «ukrainisch» statt «russisch» war, und sind dabei oft zu komischen und grotesken Ergebnissen gekommen. Einige Erfindungen waren so unglücklich, dass sie zu einem Mythos wurden, wie zum Beispiel die der «alten Ukrainer» oder «Proto-Ukrainer», die angeblich die Region bewohnten. Der grösstenteils vom Westen genährte ukrainische Nationalismus der letzten Jahrzehnte trägt einen stark antirussischen Charakter und zielt auf die Formulierung einer von Russland getrennten ukrainischen Identität ab, was in Anbetracht des zuvor Gesagten unweigerlich zu beschämenden Versuchen des Geschichts­revisionismus führt. Die Vorstellung der heutigen Nationalisten von der Ukraine lässt sich als «Nicht-Russland» zusammenfassen. Sie machen die Opposition zu Russland zum wichtigsten Eckpfeiler der gesamten Identitätsstruktur. Die logische Schlussfolgerung dieses Weges ist der Bürgerkrieg, der im Zuge des Nazi-Putsches 2014 vom Zaume gerissen wurde.

Russland wird von der offiziellen Ideologie als historischer Unterdrücker beschrieben, und mit besonderer Leidenschaft wird die Erzählung von der «schrecklichen Sowjetherrschaft» gepflegt. Im Übrigen ist eine solche Haltung in den meisten Ländern des ehemaligen Sowjetblocks üblich geworden, obwohl die Auflösung der UdSSR fast überall zu einem brüsken Rückgang der Lebensqualität geführt hatte. Diese Justizfarce gegen den verstorbenen Stalin steht genau im Kontext der sich wiederholenden antisowjetischen Propaganda, die surreale und groteske Züge annimmt. Bereits 2010 wurde mit einer ähnlichen Justizfarce Stalin als Verantwortlicher für den Holodomor verurteilt. Bei dieser Gelegenheit hatte Stalin nicht einmal den Luxus eines Anwalts. Holodomor nennt man in der Ukraine die Hungersnot, die die UdSSR in den Jahren 1932 bis 1933 heimgesucht hatte und die von heutigen Geschichtsrevisionisten als Völkermord bezeichnet wird, da sie angeblich von der sowjetischen Regierung künstlich provoziert wurde, um ethnische Ukrainer auszurotten. Unnötig zu sagen, dass kein Historiker mit einem Funken intellektueller Redlichkeit mit dieser Interpretation der Fakten einverstanden sein kann.

Stalin verurteilen, wieder einmal…

Diesmal jedoch ist das Stalin angelastete Verbrechen die Deportation der Krimtataren im Jahr 1944. Dies war zweifellos rückblicken eine letztlich ungerechte Entscheidung, die unzähliges Leid verursachte. Aber schon 1967 wurde die Deportation der Tataren von der sowjetischen Regierung verurteilt, die sie 1989 offiziell als Verbrechen anerkannte. Es gab keinen Grund für eine neue Verurteilung, und zwar in solch propagandistischer und theatralischer Form. Genauso wie es keine Notwendigkeit für Prozesse gegen Menschen gibt, die vor über einem halben Jahrhundert gestorben und begraben wurden. Zudem werden diese Ereignisse aus ihrem historischen Kontext herausgelöst, nämlich den Jahren des Zweiten Weltkriegs und den unmittelbar darauf folgenden, als die Zwangsumsiedlung ganzer Bevölkerungen Praxis war, um ethnische Konflikte zu vermeiden. Das geschah zum Beispiel mit der Deportation von Deutschen aus Ostpreussen und anderen Regionen nach Kriegsende.

Aber die antisowjetische Hysterie muss ständig gepflegt werden, sonst könnten die jungen Leute, die in den Schulen so konsequent einer Gehirnwäsche unterzogen werden, den Worten ihrer Grosseltern zu viel Glauben schenken, die sagen, dass alles in allem das Leben unter den Sowjets besser war. Ja, denn die demografischen Daten sprechen für sich. Die Bevölkerung der Ukraine wuchs vom Ende des Zweiten Weltkriegs bis 1991, unter einem halben Jahrhundert «sowjetischer Herrschaft», um fast 20 Millionen und erreichte eine Gesamtzahl von 52 Millionen. Heute hat das Land laut dem von der CIA herausgegebenen The World Factbook nur noch 43. Das ist die Folge der immer währenden Wirtschaftskrise, die viele zur Auswanderung treibt, des katastrophalen Rückgangs der Geburtenrate und der ebenso katastrophalen Abnahme der Lebenserwartung sowie der galoppierenden Ausbreitung von Krankheiten wie AIDS und Tuberkulose. Um es einfach auszudrücken: Die Lebensqualität der Ukrainer ist mit dem Zusammenbruch der UdSSR stark gesunken.

Jetzt ist endlich klar, was es mit dem späten Stalin auf sich hat. Um von einer tragischen Gegenwart ohne Zukunft abzulenken, muss man ständig wiederholen, wie «schrecklich» die Vergangenheit war, und hoffen, dass die Menschen, die sich noch daran erinnern, schnell sterben. Dann wird niemand mehr in der Lage sein, das offizielle Narrativ in Frage zu stellen. Wenn die jungen Leute entdecken würden, dass die «Sowjetherrschaft» tatsächlich die beste Periode in der Geschichte des ukrainischen Volkes war, würde es unmöglich werden, dieses «Nicht-Russland» aufrechtzuerhalten, das dem atlantischen Imperialismus dient.

Stalin, wie Papst Formosus vor einem Jahrtausend, schert sich einen Dreck um den Prozess gegen ihn. Immerhin ist das, was er für die Ukraine getan hat, vor Ort noch deutlich sichtbar. Zum Beispiel das Wasserkraftwerk am Dnepr, das heute noch in Betrieb ist. Stattdessen werden die Eskapaden derjenigen, die die Ukraine heute regieren, einfach zu historischen Anekdoten werden, genau wie die Synode der Leiche.
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Dieser Artikel ist erstmals am 2. Januar 2021 in sinistra.ch veröffentlicht worden.

1 Nil Malyguine, geboren 1997, ist Student der Geschichte an der Universität Padua. Er interessiert sich besonders für die Geschichte Russlands und der Sowjetunion. Seit 2020 ist er Mitglied der Kommunistischen Jugend Schweiz.

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