kommunisten.ch

kommunisten.ch

«Den Nationalstaat brauchen wir, um die dem Kapitalismus innewohnende inegalitäre Tendenz zu korrigieren»

Will Stratford, Mitglied der Platypus Affiliated Society, führte ein Gespräch Wolfgang Streeck, Autor mehrerer Bücher über die politische Ökonomie des Kapitalismus und derzeit emeritierter Direktor des Max-Planck-Instituts für Gesellschaftsforschung in Köln. Sie diskutierten eine Vielzahl aktueller Themen, mit denen die deutsche Linke konfrontiert ist. Eine längere, interessante Partie drehte sich gegen den Schluss um den Nationalstaat. Einigkeit bestand darin, dass die nationale Souveränität gegen die Tendenzen ihrer Auflösung durch das globale Finanzkapital verteidigt werden muss, so quasi als Kampfboden des Klassenkampfes. Zur These des «Absterbens» des proletarischen Staates nach der Beseitigung der kapitalistischen Klassengesellschaft nimmt Streeck dagegen eine revisionistische Position ein. Einen Weltstaat mit souveränen Bürgern kann er sich auch in einer klassenlosen Gesellschaft nicht vorstellen.

Will Stratford: Du hast als Universitätsstudent in den 1960er Jahren in Frankfurt Soziologie studiert, unter anderem bei Theodor Adorno. Wie war Adorno als Professor?

Wolfgang Streeck: Das deutsche System unterscheidet sich vom amerikanischen System. Adorno, wie ich ihn kennengelernt habe, war jemand, der zweimal in der Woche eine Vorlesung hielt, am Podium stand und in absolut druckfähigem Deutsch, ohne auch nur an einer Stelle zu zögern, über Dinge sprach, von denen ich sehr wenig verstanden hatte. Es gehörte damals nicht zum Ethos eines deutschen Professors, sich Sorgen zu machen, ob seine Studenten tatsächlich verstanden hatten, was er ihnen sagte. Darum hatten sie sich selbst zu kümmern.

Stratford: Würdest du sagen, dass Adorno oder der Rest der frühen Generation der Frankfurter Schule Einfluss auf dein Denken hatten?

Streeck: Absolut, ja. Das Studium dort hinterliess Interesse und Respekt für die klassische soziologische Theorie, überhaupt Theorien ganzer Gesellschaften, einschliesslich der marxistischen Theorie – ein wenig in Analogie zur Biologie ganzer Organismen (die in den 1960er Jahren zugunsten der Zellbiologie und Biochemie aus der Mode kam, genauso wie die Soziologie ganzer Gesellschaften in den 1980er Jahren zugunsten aller Arten von Mikrosoziologie aus der Mode kam). Ich muss in meinem Fall hinzufügen, dass ich ein zweites Bein hatte, das mir half, meine geistige Gesundheit zu retten. Ich war von frühester Jugend an in sozialdemokratischer Politik engagiert, schon als ich im Gymnasium war. Es war Teil meiner frühen Rebellion, dass ich mich nicht nur in den Kreisen meiner Schule, sondern auch in der örtlichen SPD bewegte. Später war Frankfurt ein Ort, an dem die SPD in den 1960er und 1970er Jahren links von der Bundespartei stand.

Zufällig war auch die Bundeszentrale der IG Metall, der mächtigen Metallarbeitergewerkschaft, die damals innerhalb des Deutschen Gewerkschafstbundes eine linke Position eingenommen hatte, in Frankfurt. Ich habe neben meinem Studium an der Universität Kurse an IG-Metall-Bildungszentren gegeben und war einer der Leiter der Jungsozialisten in Frankfurt. Dies wurde prägend für mein zukünftiges Leben. Ich hatte dieses Talent für oder zumindest die Liebe zur Wissenschaft, während ich gleichzeitig ein politischer Aktivist der sozialdemokratischen Linken war und gelegentlich wieder wurde, wenn auch mit wachsender Melancholie, da diese Art von «links sein» in der neoliberalen Ära zunehmend politisch marginalisiert wurde.

Stratford: Während deiner Studienzeit warst du, auf dem Höhepunkt der Aktivitäten der Neuen Linken, um 1968 aktiv und hast 1969 das «Sozialistische Büro» mitbegründet, das die sozialistischen Kräfte in Westdeutschland zu vereinen suchte. Wie beurteilst du diese Tätigkeit rückblickend? Wie weit war die Neue Linke erfolgreich bzw. gescheitert?

Streeck: Als Student in Frankfurt warst du natürlich Teil der Neuen Linken, aber ich hatte auch meine Füsse in der Alten Linken. Ich hatte immer das Gefühl, dass die Linke ihre Beziehung – historisch und sozial – zur Arbeiterklasse, wie auch immer sie sich zusammensetzt, und zur Arbeiterbewegung nicht verlieren sollte. In der Sozialdemokratischen Partei unterstützten wir Willy Brandt, der 1969 Bundeskanzler wurde. Ich gehörte der demokratisch-sozialistischen Generation der 1970er Jahre an, als die europäische Sozialdemokratie auf dem Vormarsch war, mit Brandt in Westdeutschland, Olaf Palme in Schweden und Bruno Kreisky in Österreich.

In den 1970er Jahren, nachdem ich in Frankfurt Kritische Theorie studiert hatte, insbesondere bei Claus Offe, und im Hintergrund Jürgen Habermas – Adorno starb 1969 – dachte ich, ich sollte etwas über die technischen Fragen des Regierens einer Industriegesellschaft lernen. 1972 ging ich in die Vereinigten Staaten, um an der Columbia University zu studieren, insbesondere bei Amitai Etzioni in der Soziologieabteilung, der gerade ein Buch geschrieben hatte, das mich tief beeindruckte: «Die aktive Gesellschaft» (1968). Das Buch war ein Versuch, eine aktivistische, demokratisch-technokratische Perspektive auf die damalige Parsonssche Systemtheorie5 zu übertragen. Das Buch war bald vergessen, wenn auch nicht von mir. Ich interessierte mich weiterhin sowohl für grundlegende soziale Veränderungen von unten in modernen Gesellschaften als auch für die Regierbarkeit solcher Gesellschaften und ihren Wandel, eine unwahrscheinliche Kombination.

Stratford: Ich möchte deutlich voranschreiten und über neuere politische Phänomene sprechen, angefangen beim Neoliberalismus. In den Jahren nach der Grossen Rezession von 2008 und der darauf folgenden europäischen Schuldenkrise hast du dir als linker Kritiker der Europäischen Union einen Namen gemacht. Ihre Arbeit hat die Aufmerksamkeit auf die politischen Merkmale des Neoliberalismus gelenkt, wie die weit verbreitete Abwendung der Bürger vom aktiven Leben der politischen Parteien, den Rückgang der Gewerkschaften und der Streikaktivitäten auf der ganzen Welt und den Rückfall in identitäre Kulturkriege. Warum haben diese Aspekte den Kritikern des Neoliberalismus im Allgemeinen keine Rolle gespielt, und wie wurde die Linke in eine solche neoliberale Politik verwickelt?

Streeck: Der Neoliberalismus, sicherlich sein europäischer Zweig, war in erheblichem Masse ein Versuch sozialdemokratischer Parteien, auf eine Situation zu reagieren, in der das Kapital infolge der Internationalisierung der kapitalistischen Wirtschaft immer mächtiger geworden war. Anders als in den 1960er und 70er Jahren war das Kapital jetzt mobil, es konnte abwandern, was eine wichtige Bedrohung für die Sozialdemokratie darstellte, die ihre Politik auf einer nationalstaatlichen Fähigkeit aufgebaut hatten, das Kapital so regulieren zu können, dass es in ein egalitäres soziales Projekt passte.

Stratford: Es ist interessant, dass du die Handlungsfähigkeit der Sozialdemokratie in Zusammenhang mit der Einführung des Neoliberalismus bringst.

Streeck: Nehmen wir zum Beispiel Tony Blair und New Labour. Die 1970er und 1980er Jahre waren eine Zeit, in der das Kapital im permanenten Kampf um den Inhalt dessen, was Gesellschaftsvertrag zwischen Kapital und Gesellschaft genannt wurde, mächtiger geworden war. Das führte sozusagen zu sinkenden Preisen – das Kapital musste für die Kollaboration der Arbeiterklasse oder der Gesellschaft mit Profitmacherei oder Überschussproduktion bezahlen, wie Marx es nennt. In den Vereinigten Staaten gab es ab den 1970er Jahren keinen Anstieg der Reallöhne mehr, während die Ungleichheit in der Einkommens- und Vermögensverteilung oligarchische Dimensionen annahm.

Stratford: Du sprichst von der Verflechtung von Kapital und Arbeit, die der modernen kapitalistischen Gesellschaft innewohnt. Was ist mit der Linken und wie verhält sie sich dazu?

Streeck: Sozialdemokratische Parteien, die damit konfrontiert waren, mussten die Frage beantworten, wie sie in einer Welt regieren könnten, in der das Kapital viel mächtiger geworden war. Mit der neoliberalen Wende der Linken sollte versucht werden, mit dem neuen Druck auf die wirtschaftliche Wettbewerbsfähigkeit der nationalen Gesellschaften zu leben. Den traditionellen Wählern wurde öffentliche Unterstützung bei der Anpassung ihrer Lebensumstände an die Veränderungen versprochen. Die Gesellschaft insgesamt wurde gleichzeitig aufgefordert, mehr Verantwortung für ihre wirtschaftliche Situation zu übernehmen, beispielsweise durch Ausbildung und Umschulung. Der technokratische Teil der Sozialdemokratie verlagerte sich von der Frage «Wie können wir eine egalitäre Gesellschaft aufbauen?» zu «Wie können wir eine wettbewerbsfähige Gesellschaft aufbauen und damit unseren Wohlstand verteidigen?» Es stellte sich bald heraus, dass kapitalistische Wettbewerbsfähigkeit keinen egalitären Wohlstand hervorzubringen vermag, ihn nicht benötigte und ihm sogar feindlich gegenüberstand.

Stratford: War der Neoliberalismus selbst ein Produkt des Scheiterns der Linken und ihrer Vernachlässigung der Arbeiterklasse der Alten Linken?

Streeck: Das würde den sozialdemokratischen Parteien und Gewerkschaften der Zeit zu viel Handlungsfähigkeit zuschreiben. Sie beobachteten, dass in ihren Gesellschaften etwas los war, was einen wachsenden Druck aus der Wirtschaft auf das soziale Leben ausübte, um den wachsenden Anforderungen von Unternehmen – Firmen, Banken usw. – besser gerecht zu werden. Diese erwartete von der Gesellschaft, dass mehr zum Akkumulationsprozess beigetragen und alle verbleibenden sozialen Hindernisse für die kapitalistische Überschussproduktion beseitigt werden.

Stratford: Du sagst also, es ging mehr um objektive Bedingungen als um etwas, für das die Linke verantwortlich gemacht werden kann?

Streeck: Es ging darum, wie man die neue Situation interpretierte, die nicht leicht zu entschlüsseln war. Es war zum Beispiel in vielen Ländern festzustellen, dass sich der Rückgang der Zahl der Industriearbeitskräfte zu beschleunigen begann. Aber man konnte immer glauben oder sich glauben machen, dass dies nur für den Moment war, und nach einer Weile würde sich der Trend nur als konjunktureller Ausrutscher herausstellen. Man konnte auch sehen, dass Arbeitsplätze aller Art, auch im Dienstleistungssektor, ins Ausland verlagert wurden. Eine Zeit lang glaubten die Leute, einschliesslich mir, dass anspruchsvollere Produkte nur in Ländern mit einem hohen Qualifikationsniveau hergestellt werden könnten, so dass soziale Investitionen in die Qualifikation der Arbeitskräfte das Outsourcing stoppen oder verlangsamen würden. Es ist wichtig zu bedenken, dass die Politik auf einer kurzen Zeitskala funktioniert, während grosse soziale Veränderungen ein Prozess ist. Auf dem Weg dorthin kann man immer den Fehler machen zu denken, dass sich die Dinge nicht wirklich änderten und dass das, was geschah, nicht auf einem linearen Trend beruht, sondern auf einer zyklischen Bewegung, die mit der richtigen Politik letztendlich zu den Ausgangswerten zurückkehren würde.

Stratford: Vor einigen Jahren hast du dich der Bewegung Aufstehen angeschlossen, die 2018 gegründet wurde und von der damaligen Linken-Politikerin Sahra Wagenknecht angeführt wird. Was war Aufstehen und was ist damit passiert?

Streeck: Es ist interessant, daran zurückzudenken, weil es zeigt, wie schnell die Dinge gegangen sind. Damals dachten wir, dass es in jeder dieser Parteien – der SPD, der Linken und den Grünen – eine Linke – entweder Kern oder Rand – gab und dass sie ein parteiübergreifendes Bündnis mit einem gemeinsamen Programm bilden könnten, das eine kommende Mitte-Links-Regierung nicht ausser Kraft setzen könnte. Die Idee war, eine zukünftige Mitte-Links-Regierung durch konzertierte Aktionen der linken Elemente der drei Parteien nach links zu rücken.

Stratford: Das beschreibt es rein als eine Art Konsolidierung, aber ich verstehe es so, dass es auch auf eine Art Fokussierung abzielte. Die Bewegung fiel auf für ihre Kritik an der Political Correctness, und eines ihrer Ziele war es, einen Teil derjenigen zurückzugewinnen, die in die Wählerschaft der AfD abgewandert waren. Kannst du mehr über diese Strategie sagen?

Streeck: Ich denke, es war uns klar, wie es heute ist, dass unter diesen 10 bis 15% der deutschen Wähler, die die AfD wählen – heute vielleicht sogar 20% —, diejenigen sind, die sich mit Sachverhalten beschäftigen, um die sich auch Wähler der Linken kümmern. Aber sie werden von den politischen Parteien, wie sie jetzt existieren, nicht erreicht. Für uns war es wichtig für die Demokratie, sie nicht in eine braune Ecke abdriften zu lassen. Unter Teilen der Linken hiess und heisst der Slogan «Nazis raus». Wir haben uns gefragt, wo das «raus» denn sein soll. Ohne dass ihnen die Staatsbürgerschaft entzogen würde oder ein Bürgerkrieg ausbräche, würden sie weiterhin in der deutschen Politik präsent sein. Was würden wir tun, wenn sie 30% der Stimmen erhalten würden?

Hinzu kam das bis heute bestehende Problem, dass sich die Parteien der Mitte stillschweigend mit der AfD arrangiert hatten, indem sie sie instrumentalisierten, um öffentliche Debatten abzuschotten. Themen, die von der AfD angesprochen wurden, wurden sofort zum Tabu erklärt, nur weil es die AfD war, die sie angesprochen hatte. Fragen wie: «Was ist unsere Einwanderungspolitik?» und «In welchen Bereichen sollte die Europäische Union das Recht haben, sich über die deutsche Nationalpolitik hinwegzusetzen?» konnten so von der Regierung und den Mainstream-Medien aus dem öffentlichen Diskurs verbannt werden.

Stratford: Das klingt sehr danach, wie die Demokratische Partei in den USA gegen den Anti-Trumpismus kämpft, anstatt Lösungen für viele der legitimen Probleme anzubieten, die Trump aufgeworfen hat – dysfunktionale Einwanderung, Arbeitsplatzverlust, krieslüsterne Aussenpolitik, tiefer Staat usw.

Streeck: Da spreche ich zum Beispiel mit Freunden in den Gewerkschaften, und nach einer Weile, wenn Diskussionen beginnen, erzählen sie, dass sie zum Beispiel am Vortag an einer Konferenz von Gewerkschaftsdelegierten in Ostdeutschland teilgenommen haben. Dabei zeigen sie sich schockiert, dass so viele unter ihren Kollegen, Genossen, Brüdern und Schwestern behaupten würden, die einzige Partei, die sie wirklich ernst nehme, sei die AfD. Man fragte sich, was dagegen zu tun ist. Sollte es nicht eine demokratische Organisation geben, die diese Interessen aufgreifen und sie dadurch aus den schmutzigen Ecken unseres politischen Systems herausholen könnte? Oder war dies eine Zeit, um die Bürgerkriege der 1920er Jahre zu wiederholen, in der Hoffnung, dass diesmal, anders als damals, wir gewinnen würden?

Stratford: Es gibt viele isolierte Linke in den USA, die das grösste Problem heute darin sehen, dass die Demokratische Partei jede mögliche Dynamik beim Aufbau einer sozialistischen Linken im Würgegriff hält. Innerhalb der Democratic Socialists of America (DSA) scheint es eine langjährige, aber wachsende Krise zwischen einer Minderheit zu geben, die einen vollständigen Bruch mit den Demokraten fordert, und einer Mehrheit, die sich dagegen wehrt. Siehst du eine ähnliche Situation in Deutschland? War «Aufstehen» letzten Endes eine Bewegung zum Aufbau einer unabhängigen sozialistischen Partei?

Streeck: Erstens hatte die SPD kein Monopol mehr auf die Linke [wie es nach dem Verbot der KPD im Jahr 1956 der Fall war]. Es gab jetzt Die Linke, die für die SPD eine Zeit lang die gleiche Rolle spielte, die die AfD jetzt für den Rest der Gesellschaft spielt. Wenn irgendjemand in der SPD vorgeschlagen hat, dass wir zusammen mit der Linken eine Regierung bilden könnten, waren er oder sie sofort tot. Es war ein Tabu. Du solltest nicht darüber reden. Aufstehen war ein Versuch, die – wie wir dachten – wirklich vorhandenen Möglichkeiten zur Überwindung dieser Kluft aufzuzeigen und von dort aus in den linken Flügel der Grünen auszudehnen. Es war nicht beabsichtigt, eine neue Partei zu gründen. Es war ein Versuch, einen Kern linker Verbündeter aus drei Parteien aufzubauen.

Stratford: Die DSA könnte dasselbe sagen, und sie ist auch keine Partei.

Streeck: Wenn du linke Politik wiederbeleben willst, was ohnehin ein sehr schwieriges Projekt ist, indem du eine Partei gründest, die behauptet, dass wir innerhalb der nächsten 10 Jahre den Sozialismus haben werden, wenn sie nur gewählt würde – das ist ein Rezept für eine Katastrophe. Wie ein Programm für eine linke Partei heute aussehen könnte, ist schwer zu sagen. Zum Beispiel ein Programm in einem Sozialstaat, der Deutschland im Gegensatz zum Vereinigten Königreich in gewissem Masse immer noch ist? Da die Linke diese Frage überhaupt nicht stellt – weil sie Angst hat, dass ihre Partei daran zerbricht –, fordert sie fast nur höhere Sozialleistungen und dergleichen. Aber auf diesem Gebiet ist Hubertus Heil von der SPD, der in der gegenwärtigen Regierung Arbeitsminister ist, schwer zu überbieten, weil er im Gegensatz zu Die Linke in der Lage ist, echte Gesetze zu verabschieden, anstatt nur Forderungen zu stellen und Versprechungen zu machen.

Stratford: Einige glauben, dass der gesamte neosozialdemokratische Moment in den späten 2010er Jahren – Sanders in den USA, Corbyn in Grossbritannien, Mélenchons La France Insoumise in Frankreich und Die Linke in Deutschland – nur Nostalgie für den nationalen Wohlfahrtsstaat der fordistischen Ära war, typisch für den Ruf nach einem «neuen Deal». Was denkst du? Wies die neosozialdemokratische Wende rückwärts zum präneoliberalen Kapitalismus oder vorwärts zum Postneoliberalismus?

Streeck: Wir hofften, dass es nach vorne weisen würde, aber es würde einige ernsthafte Überlegungen darüber erfordern, wie diese Politik aussehen könnte. Es würde neue Beteiligungsmuster beinhalten, mit Schwerpunkt auf kollektivem Konsum und kollektiven Gütern in Bildung, Verkehr, Gesundheitswesen, all diesen Bereichen, die unter neoliberaler Sparpolitik gelitten haben. Regionalisierung, mehr Macht für die Menschen vor Ort, Betonung des Gemeinwohls anstelle nationaler Almosen von 200 Euro für alle, neue Formen von Kollektiveigentum und Selbstverwaltung, Förderung von Genossenschaften usw. In gewisser Weise wären diese forderungen eine Rückkehr zu älteren Vorstellungen davon, wie das Leben im Sozialismus aussehen würde, mit einem Schwerpunkt auf der sozialen Untermauerung des individuellen Lebens. Auf der politischen Makroebene würde dies die grundlegende Frage der öffentlichen Finanzen betreffen, wie man die kollektiven Notwendigkeiten eines guten Lebens in einer modernen zeitgenössischen Gesellschaft finanziert.

Stratford: Vor einem Jahr, kurz nach Beginn des andauernden Krieges in der Ukraine, schriebst du einen Artikel in New Left Review, in dem du die unkontrollierte Eskalation des Krieges durch westliche «Experten» angeprangert hattest2. Wie hat der Krieg in der Ukraine dazu beigetragen, die Loyalität Europas zur Nato zu sichern, und was sind die Gefahren davon?

Streeck: Insbesondere nach dem Ende der sozialistischen Staatengemeinschaft, aber auch bis in den Kalten Krieg zurückreichend, war die Frage immer, inwieweit können europäische Staaten für ihre eigene Sicherheit sorgen, ohne dass die USA über sie herrschen und ihnen sagen, wer ihre Freunde und Feinde sind und was sie mit ihnen und über sie tun sollen? Nehmen wir zum Beispiel Willy Brandts Politik der Détente, die von Nixon und Kissinger mit grossem Misstrauen betrachtet wurde. Ähnlich war es, als Deutschland und Frankreich sich 2003 weigerten, an der Expedition in den Irak teilzunehmen, wobei Schröder und Chirac die Einladung ablehnten, der «Koalition der Willigen» beizutreten, oder Merkel und Sarkozy 2008 gegen den Beitritt der Ukraine zur Nato.

Es hat aufgrund von zwei Faktoren, die immer noch sehr wirksam sind, nicht zu viel geführt. Zum einen könnte das europäische Streben nach «strategischer Souveränität», wie es manchmal genannt wird, nur erfolgreich sein, wenn Deutschland und Frankreich eine gemeinsame Position finden. Aber das war und ist schwierig, weil die beiden Länder unterschiedliche Interessen haben: Deutschland als [bis vor kurzem] Exportweltmeister und Frankreich mit seiner Atomkraft. Das andere ist, dass Deutschland, das selbst keine Atommacht ist, die grösste Konzentration von amerikanischem Militär ausserhalb der USA beherbergt, mit 38 000 amerikanischen Soldaten mit 25 000 Familienmitgliedern und viel militärischer Ausrüstung, einschliesslich Atomwaffen, die im ganzen Land stationiert sind.

Stratford: Was ist mit der Linken in Deutschland? Wie reagiert sie auf den Krieg in der Ukraine?

Streeck: Was ich bei der Generation beobachte, die politisch die Zügel in der Hand hält, insbesondere bei ihrem grünen Teil, ist eine weit verbreitete manichäische Weltanschauung: Es gibt Gut und Böse, wir sind auf der Seite des Guten, und das Böse muss auf jeden Fall bekämpft werden, weil es uns sonst überrollt. Das heutige Übel findet sich sowohl international, von Russland über China bis zum Iran, als auch national, zum Beispiel in Form der Feinde von LGBT+ – im neuen politischen Weltbild alles «Faschisten». National und international erfordert dies einen permanenten Krieg gegen den Faschismus. Dies lässt keine grossen Kompromisse zu.

Rückblickend auf die Friedensbemühungen des Kalten Krieges in den 1970er Jahren gab es die Vorstellung, dass es auf der Welt verschiedene Staaten mit unterschiedlichen Gesellschaftsordnungen gibt, zwischen denen es ein Gleichgewicht von Macht und Interessen und damit Frieden geben könnte. Es gab in diesem Weltbild auch eine Dritte Welt, die legitimerweise ausserhalb der Konfrontation zwischen liberaler Demokratie und sozialistischen Staaten bleiben würde. Man könnte ein System der internationalen Sicherheit haben oder darauf hoffen, das dieses von den Vereinten Nationen verwaltet wird. In dem, was heute als globaler Kampf zwischen Demokratie und Autoritarismus bezeichnet wird, läuft es aber auf die brutale Idee hinaus, dass es vor allem auf militärische Überlegenheit ankommt – zum Beispiel auf die bizarre Idee der derzeitigen deutschen Aussenministerin Annalena Baerbock, die vorschlug, dass wegen der Behandlung von Frauen im Iran das Abkommen mit dem Iran über die nukleare Nichtverbreitung nicht erneuert werden sollte, um den Iran zu bestrafen. Frieden als Belohnung für Tugend, nicht als Schutz vor Krieg(!).

Stratford: Du hast kürzlich in Berlin einen Vortrag über die Rückkehr zum Nationalstaat gehalten3.

Streeck: Was ich gesagt habe ist, dass von einer «Rückkehr» keine Rede sein kann, weil der Nationalstaat ja noch existiert.

Stratford: Nichtsdestotrotz scheint es in Ihrer Einschätzung der gegenwärtigen Sackgasse eine Spannung zwischen Notwendigkeit und Möglichkeit zu geben. Ich verstehe dich so, dass die Verdrängung der nationalen Souveränität durch das globale Finanzkapital in der neoliberalen Ära unzeitig war. Eine Möglichkeit, dies zu interpretieren, ist der historische Kampf für den Sozialismus unter marxistischer Führung, der gerade das Absterben des Nationalstaates im Sozialismus sah. Die Sozialisten begriffen die Notwendigkeit der nationalen Demokratie dialektisch, um sie zu verwirklichen und damit zu negieren. Anderseits wird deine Aussage so interpretiert, dass die Möglichkeit, den Nationalstaat zu überwinden, eine unmögliche Vorstellung ist. Ist das nicht einfach politischer Pessimismus? Wie kann man sich den gegenwärtigen Notwendigkeiten stellen, ohne die zukünftigen Möglichkeiten völlig aufzugeben?

Streeck: Pessimismus kann in unserer Zeit Realismus sein. Aber natürlich muss man mehr als Realismus bieten. Für mich, wenn ich als Sozialist über so etwas wie wirtschaftliche Selbstverwaltung nachdenke, über Politik, die Märkte kontrolliert, anstatt Märkte die Politik, über den Aufbau von Gesellschaften auf starken kollektiven Gütern, wo ist der institutionelle Rahmen, innerhalb dessen das getan werden kann? Wenn man sich nach historischen Beispielen umschaut, war es den skandinavischen Staaten eine Zeit lang gelungen, ein starkes Gefühl nationaler Souveränität und Volksgemeinschaft mit dem Versuch zu verbinden, egalitäre Gesellschaften aufzubauen. Eine solche Kombination mag unter veränderten Umständen das sein, wonach man streben könnte.

Stratford: Die Kernleserschaft von Platypus Review besteht aus Universitätsstudenten und jungen Intellektuellen, die von der Grösse der historischen Linken inspiriert sind, von den bürgerlichen Revolutionären bis zu den organisierten Marxisten, die es sich zur Aufgabe gemacht haben, die Geschichte voranzutreiben, indem sie immer neue Ebenen der menschlichen Freiheit und Zivilisation erreicht haben. Für viele dieser Leser bleiben die heutigen skandinavischen Wohlfahrtsstaaten weit hinter den Versprechen der Linken des 19. Jahrhunderts zurück. Was würdest du ihnen sagen? Ist es für sie vergeblich, Hoffnung aus einer historischen Tradition zu finden, die heute nicht mehr eindeutig aktiv ist?

Streeck: Utopien sind immer in Bewegung. Es kann nicht die gleiche Utopie in der Mitte des 19. Jahrhunderts sein wie zu Beginn des 21. Jahrhunderts. Zum Beispiel haben sich moderne Gesellschaften in den letzten 200 Jahren in Richtung Individualismus und Forderungen nach individueller Autonomie entwickelt, die neue Formen der sozialen Integration und Solidarität erfordern, die wir noch finden müssen, wenn wir nicht in einer Ayn Rand ähnlichen Gesellschaft des rücksichtslosen Libertarismus enden wollen. Der Kollektivismus, nach dem die frühsozialistische Tradition suchte, scheint heute weder möglich noch vielleicht wünschenswert zu sein. Was immer noch gilt, ist Marxens Diktum in Grundrisse (1858): «Der Mensch ist insofern ein politisches Tier, als er sich nur in einer Gesellschaft vereinzeln kann». Der neoliberale Kapitalismus ist keine Gesellschaft, die menschliche Vielfalt in soziale Solidarität integrieren kann.

Stratford: Forderst du einen Rückzug vom Internationalismus der historischen Linken in die nationalstaatliche Politik?

Streeck: Nein, ich nenne es kein Rückzug. Ich nenne es den Aufbau regierbarer Einheiten in einer globalen Ordnung, die demokratisch und nicht technokratisch oder marktwirtschaftlich sein soll. Demokratie betrachte ich vor allem als institutionalisierte Chance für eine politische Gesellschaft, die dem Kapitalismus innewohnende inegalitäre Tendenz zu korrigieren. Technokratie, Bürokratie und Marktwirtschaft können diese Korrektur nicht leisten; ohne diese Korrektur werden Gesellschaften jedoch zu Jagdgründen für die Starken, mit den Schwachen als Beute.

Stratford: Siehst du Demokratie im Nationalstaat als kurzfristige Notwendigkeit, bis sich in Zukunft radikalere Möglichkeiten eröffnen?

Streeck: Ich kann mir keine Weltregierung oder einen Weltstaat vorstellen, der demokratisch wäre oder zusammenhalten könnte, ohne sich auf militärische Gewalt verlassen zu müssen. Was die kurz- und langfristigen und «radikalen Möglichkeiten in der Zukunft» anbelangt, schien der klassische Sozialismus zu glauben, dass nach der Abschaffung des Kapitalismus auch der kapitalistisch-bürgerliche Staat und die Politik im Allgemeinen abgeschafft und durch eine «rationale Verwaltung» ersetzt werden könnten. Das würde heute Technokratie heissen. Warum braucht es ohne Klassenkonflikt Staaten als Orte politischer Herrschaft, d. h. politischer Machtausübung? Das kann man sich fragen oder auch nicht. In diesem Licht scheint klar zu sein, dass die neoliberale Globalisierung oder der Globalismus ein Versuch ist, den Staat vor der Abschaffung des Kapitalismus abzuschaffen und den demokratischen Staat durch «Global Governance» zu ersetzen. Dies würde dem endgültigen Sieg des Kapitalismus über die Demokratie gleichkommen.

Stratford: Mit anderen Worten, das ursprüngliche marxistische Ziel der Überwindung des Staates liegt nicht mehr auf dem Tisch?

Streeck: Ich bin kein Kellner im Restaurant der Geschichte, noch bin ich ein Kunde, der Bestellungen aufgeben kann. Geschichte ist sowieso kein Restaurant; tatsächlich ist sie ein Schlachtfeld. In bescheidenem Sinne postuliere ich, dass Staatsbürgerschaft eine zentrale zivilisatorische Errungenschaft der Moderne ist, die untrennbar mit so etwas wie Staatsgewalt verbunden ist: der Fähigkeit, eine unterscheidbare soziale Gemeinschaft auf territorialer Basis zu regieren. Es gibt keine Staatsbürgerschaft oder Staatsbürgerschaftsrechte ausserhalb von Staaten. Staatenlose Gesellschaften in der modernen Welt sind Gesellschaften mit gescheiterten Staaten; sie werden von lokalem und globalem Kriegsherrentum regiert, wie Länder in Mittelamerika, Irak, Libyen, Syrien, Jemen. Das Leben in gescheiterten Staaten ist «schlimm, brutal und kurz», ausser für diejenigen mit den Waffen und den Bankkonten der Wall Street, um die bewaffneten Männer zu bezahlen. Nicht alle Staaten sind demokratisch; weit gefehlt. Aber die einzige soziale Einheit, die demokratisiert werden kann durch und zum Wohle ihrer Mitglieder, die als Bürger dazu ermächtigt sind, ist der Nationalstaat.
___

1 Benannt nach dem amerikanischen Soziologen Talcott Parsons.

2 Wolfgang Streek, «Fog of War», Rezension in Sidecar (1. März 2022), online verfügbar (englisch).

3 Wolfgang Streeck, «Zurück zum Nationalstaat?» bei Helle Panke e. V., Berlin (2. März 2023), online verfügbar.
___

Die Platypus Affiliated Society.* Die im Dezember 2006 gegründete Platypus Affiliated Society organisiert Lesegruppen, öffentliche Foren, Forschung und Journalismus, die sich auf Probleme und Aufgaben beziehen, welche als Erbe der «alten» (1920er bis 1930er Jahre), «neuen» (1960er bis 1970er Jahre) und postpolitischen (1980er bis 90er Jahre) Linken für die emanzipatorische Politik von heute dienen können.