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Zwei Artikel von Lenin über Klassenkämpfe in der Schweiz vor 100 Jahren

Bereits vor dem Ersten Weltkrieg, bei dessen Ausbruch 1914 die opportunistische II. Internationale sich demaskierte und zusammenbrach, spielte der Opportunismus sein Unwesen und wurde von den klassenbewussten Arbeitern scharf bekämpft. In der Prawda Nr. 63 erschien im Juli 1912 Lenins Artikel “IN DER SCHWEIZ”. Darin berichtet er über den Generalstreik in Zürich vom 12. Juli 1912. Ein weiterer Artikel unter demselben Titel wurde in der Ausgabe Nr. 105 veröffentlicht. Beide Berichte Lenins von den Klassenkämpfen unserer Vorfahren vor 100 Jahren werfen ein Licht auf die Bedeutung, die hierzulande der Kampf gegen den Opportunismus schon damals erreicht hatte. (4.11.2012/mh)


1. Artikel Lenins: IN DER SCHWEIZ

Die Schweiz wird von den dortigen Sozialisten eine “Republik der Lakaien” genannt. Das kleinbürgerliche Land, in dem einer der wichtigsten Erwerbszweige seit eh und je das Gastwirtsgewerbe war, hing allzusehr von den reichen Tagedieben ab, die für Sommerreisen ins Gebirge Millionen hinauswerfen. Der vor dem reichen Touristen katzbuckelnde kleine Unternehmer war bis vor kurzem der häufigste Typ des schweizerischen Bourgeois.

Jetzt ändert sich die Lage. In der Schweiz entwickelt sich eine Grossindustrie. Eine grosse Rolle spielt bei diesem industriellen Aufschwung die Ausnutzung der Wasserfälle und der Gebirgsflüsse für die direkte Gewinnung von elektrischer Energie. “Weisse Kohle” nennt man häufig diese Kraft des herabstürzenden Wassers, die der Industrie die Steinkohle ersetzt.

Die Industrialisierung der Schweiz, d. h. die Entwicklung einer einheimischen Industrie, einer Grossindustrie, machte der früheren Stagnation der Arbeiterbewegung ein Ende. Der Kampf zwischen Kapital und Arbeit verschärft sich. Der müde, spiesserische Geist, der früher oft in einigen Arbeiterbünden der Schweiz herrschte, schwindet, und an seine Stelle tritt die kämpferische Stimmung des klassenbewussten, organisierten Proletariats, das seine Kraft erkennt.

Die Arbeiter der Schweiz täuschen sich keineswegs darüber, dass ihre Republik eine bürgerliche Republik ist, die die gleiche Lohnsklaverei in Schutz nimmt, wie sie in ausnahmslos allen kapitalistischen Ländern besteht. Doch zugleich verstehen es die schweizerischen Arbeiter heute ausgezeichnet, die Freiheit ihrer republikanischen Einrichtungen für die Schulung und Organisierung der breiten Arbeitermassen auszunutzen.

Die Früchte dieser Arbeit traten bei dem Generalstreik in Zürich am 12. Juli (29. Juni a. St.) deutlich zutage.

Das war so. Die Maler und Schlosser von Zürich streikten schon mehrere Wochen, um eine Lohnerhöhung und eine Verkürzung der Arbeitszeit durchzusetzen. Die Unternehmer gerieten in Wut und beschlossen, den Widerstand der Streikenden zu brechen. Die Regierung der bürgerlichen Republik eilte den Kapitalisten, denen sie ihren Eifer beweisen wollte, zu Hilfe und begann, die streikenden Ausländer auszuweisen! (In der Schweiz arbeiten viele zugewanderte ausländische Arbeiter, besonders Italiener.) Aber dieser grobe Gewaltakt half nicht. Die Arbeiter hielten stand.

Daraufhin griffen die Kapitalisten zu folgender Methode. In Hamburg (Deutschland) existiert eine Firma Ludwig Koch, die sich besonders mit der Beschaffung von Streikbrechern befasst. Die Züricher Kapitalisten – Patrioten und Republikaner, Scherz beiseite! – liessen sich von dieser Firma Streikbrecher kommen, unter ihnen wissentlich allerlei kriminelle Typen, die in Deutschland wegen Kuppelei, Schlägerei usw. verurteilt worden waren. Diesen Vagabunden oder Lumpenproletariern gaben die Kapitalisten Revolver. Die frech gewordene Bande dieser Streikbrecher verteilte sich auf die Wirtshäuser im Arbeiterviertel und benahm sich unerhört rowdyhaft. Als sich die Arbeiter zusammenschlössen, um die Rowdys zu verjagen, erschoss einer von diesen einen streikenden Arbeiter.

Die Geduld der Arbeiter war erschöpft. Der Mörder wurde verprügelt. Es wurde beschlossen, im Stadtrat von Zürich eine Anfrage über die Ausschreitungen der Rowdys einzubringen. Und als der Stadtrat die Kapitalisten in Schutz nahm und die Streikposten verbot, beschlossen die Arbeiter, mit einem vierundzwanzigstündigen Generalstreik zu protestieren.

Für den Streik sprachen sich einmütig alle Gewerkschaftsverbände aus. Nur die Buchdrucker machten eine traurige Ausnahme. Sie stimmten gegen den Streik, und die Versammlung der 425 Vertreter aller Arbeiterorganisationen von Zürich quittierte diesen Beschluss der Buchdrucker mit lauten “Pfui!”-Rufen. Der Streik wurde beschlossen, obwohl die Führer der politischen Organisationen dagegen waren (der alte Geist der verspiesserten, opportunistischen schweizerischen Führer!).

Die Arbeiter wussten, dass die Kapitalisten und die Verwaltung versuchen würden, den friedlichen Streik zum Scheitern zu bringen, und sie handelten daher nach der weisen Regel: “Wenn schon Krieg, dann wie im Krieg”. Im Krieg lässt man den Feind nicht wissen, wann der Angriff erfolgen wird. Die Arbeiter erklärten am Donnerstag, dass der Streik am Dienstag oder Mittwoch durchgeführt würde, setzten ihn aber in Wirklichkeit für Freitag fest. Die Kapitalisten und die Verwaltung wurden überrumpelt.

Der Streik gelang ausgezeichnet. Am frühen Morgen waren 30’000 Flugblätter in deutscher und italienischer Sprache verteilt worden. Etwa 2000 Streikende hielten die Strassenbahndepots besetzt. Alles stand still. Das Leben in der Stadt war erstorben. Der Freitag ist in Zürich Markttag, aber die Stadt lag wie tot. Der Genuss von Alkohol (aller alkoholischen Getränke) war vom Streikkomitee untersagt worden, und die Arbeiter hielten sich streng an diesen Beschluss.

Um 2 Uhr nachmittags fand eine imposante Massendemonstration statt. Nachdem die Reden gehalten waren, ging man friedlich und ohne Gesang auseinander.

Die Regierung und die Kapitalisten, die gehofft hatten, die Arbeiter zu Gewaltakten provozieren zu können, mussten ihren Misserfolg erkennen, und jetzt rasen sie vor Wut. Ein besonderer Erlass verbietet im ganzen Kanton Zürich nicht nur Streikposten, sondern auch Versammlungen im Freien und Demonstrationen. Die Polizei besetzte das Volkshaus in Zürich und verhaftete eine Reihe von Arbeiterführern. Die Kapitalisten verfügten, um sich für den Generalstreik zu rächen, eine dreitägige Aussperrung.

Die Arbeiter verhalten sich ruhig, sie halten den Boykott von Schnaps und Wein streng ein und sagen einander: “Warum sollten wir Arbeiter nicht drei Tage im Jahr feiern, wo doch die Reichen das ganze Jahr lang feiern.”

Prawda Nr. 63,
12. Juli 1912 (25. Juli neuen Kalenders)
Unterschrift: B. Sb.


2. Artikel Lenins: IN DER SCHWEIZ

In der “Prawda” Nr. 63 vom 12. Juli berichteten wir unseren Lesern von dem Generalstreik in Zürich am 29. Juni (12. Juli n. St.). Erinnern wir uns, dass der Streik gegen den Willen der Führer der politischen Organisationen beschlossen worden war. Die Versammlung der 425 Vertreter aller Arbeiterorganisationen von Zürich, die sich für den Streik ausgesprochen hatte, quittierte die Erklärung der Buchdrucker, die gegen den Streik waren, mit “Pfui”-Rufen.

Jetzt sind in der Presse Materialien erschienen, die diesen Opportunismus entlarven.

Es stellt sich heraus, dass die politischen Führer der schweizerischen Arbeiter in ihrem Opportunismus bis zu direktem Verrat an der Partei gegangen sind. Mit eben diesen scharfen, aber zutreffenden Worten kennzeichnen die besten Organe der schweizerischen und der deutschen Arbeiterpresse das Verhalten der Sozialdemokraten im Züricher Magistrat (Stadtrat). Der Züricher Stadtrat hatte, im Interesse der Kapitalisten, Streikposten verboten (woraufhin die Arbeiter beschlossen hatten, mit einem vierundzwanzigstündigen Generalstreik zu protestieren).

Der Magistrat von Zürich besteht aus neun Mitgliedern, von ihnen sind vier Sozialdemokraten: Erismann, Pflüger, Vogelsanger und Klöti.

Und jetzt wird bekannt, dass das Streikpostenverbot vom Stadtrat einstimmig angenommen worden war, dass also Erismann und seine drei sozialdemokratischen Kollegen dafür gestimmt haben!!! Der Regierungsrat des Kantons Zürich hatte vom Stadtrat das Verbot von Streikposten überhaupt verlangt, und die vier neunmalweisen Gründlinge(*), ich meine die Züricher Sozialdemokraten, stellten den “Vermittlungsantrag”, die Streikposten nur in der Umgebung der zwei bestreikten Schlossereien zu verbieten.

Natürlich war ein solches partielles Streikpostenverbot in der Praxis gerade das, was die Bourgeoisie gewollt hatte, und der Vorschlag der “Sozialdemokraten” (?!) wurde von der bürgerlichen Mehrheit des Stadtrats angenommen!

Mehr noch. Vor kurzem veröffentlichte der Stadtrat von Zürich einen Bericht über die mit dem Generalstreik in Zusammenhang stehenden Ereignisse. Die Kapitalisten verfügten, um sich für den Streik zu rächen, eine dreitägige Aussperrung. Der Stadtrat von Zürich beschloss einstimmig, also auch mit den Stimmen aller seiner vier sozialdemokratischen Mitglieder, zur Aufrechterhaltung der Ruhe und Ordnung die Polizeikräfte durch den Einsatz von Militär zu verstärken.

Aber auch das ist noch nicht alles. Rachedürstend beschloss der bürgerliche Stadtrat von Zürich die Massregelung einer Reihe von Angestellten und Arbeitern städtischer Unternehmungen, die am Streik teilgenommen hatten. 13 Arbeiter wurden entlassen, gegen 116 Disziplinarstrafen verhängt (Rückversetzung, Lohnabzug). Diese Beschlüsse fasste der Stadtrat ebenfalls einstimmig! mit den Stimmen Erismanns und von zwei seiner Kollegen.

Anders als Verrat an der Partei kann das Verhalten von Erismann und Co. nicht genannt werden.

Man braucht sich nicht zu wundem, dass die Anarchosyndikalisten in der Schweiz gewissen Erfolg haben, wenn sie vor den Arbeitern eine sozialistische Partei kritisieren müssen, die in ihren Reihen solche opportunistischen Verräter duldet. Der Verrat von Erismann und Co. ist gerade deshalb von grosser internationaler Bedeutung, weil er uns veranschaulicht, woher und auf welche Weise der Arbeiterbewegung die Gefahr innerer Zersetzung droht.

Erismann und Co. sind keineswegs gewöhnliche Überläufer in das Lager des Feindes, sie sind einfach friedliche Spiesser, Opportunisten, die sich an den parlamentarischen “Kleinkram” gewöhnt haben und mit konstitutionell-demokratischen Illusionen belastet sind. Als sich der Klassenkampf jäh zuspitzte, zerstoben mit einem Schlage die Illusionen von einer konstitutionellen “Ordnung” und einer “demokratischen Republik”, gerieten unsere Spiesser im Amte sozialdemokratischer Magistratsmitglieder in Verwirrung und glitten in den Sumpf ab.

Die klassenbewussten Arbeiter können an diesem traurigen Beispiel sehen, wohin die Verbreitung des Opportunismus in der Arbeiterpartei führen muss.

Prawda Nr. 105,
31. August 1912 (13. Sept. unseres Kalenders)
Unterschrift: P. P.
______

(*) “Der neunmalweise Gründling” – Titel eines Märchens des Satirikers M. J. Saltykow-Schtschedrin.


Quelle: W.I. Lenin Werke, Deutsche Ausgabe des Instituts für Marxismus-Leninismus beim ZK der SED, Berlin (Dietz) 1974, Band 18, Seiten 149-151 und S. 298-300).


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