Ein Reisebericht aus Venezuela
Das organisierte Volk oder: So funktioniert partizipative Demokratie
von Natalie Benelli
Tag 5: 15. April 2019 in Caracas
Die Schweizer Delegation besuchte am Montag, 15. April, die staatliche Elektrizitätsgesellschaft CORPOELEC in Chacao, die für die Verteilung der Elektrizität im Grossraum Caracas zuständig ist. Wegen der Osterwoche – semana santa – ist kaum jemand am Arbeiten, die meisten ArbeiterInnen sind heute auf dem Gelände, um ihre «caja CLAP» abzuholen – dazu später mehr. Wir erhalten eine Führung durch die Abteilung, die für die Stromzähler zuständig ist. Es sind verschiedene Modelle im Umlauf, darunter chinesische, argentinische, brasilianische Modelle sowie Stromzähler der Schweizer Firma Landis & Gyr. Im Moment werden vor allem neue Modelle an KundInnen abgegeben, da aufgrund der Sanktionen die Teile, Werkzeuge, Reinigungsmittel und Farbe fehlen, um die alten zu revidieren. Am 7. März 2019 und den darauffolgenden Tagen wurde das Stromnetz in Venezuela durch Sabotageakte angegriffen, grosse Teile von Caracas waren für Tage ohne Strom. Ohne Strom zu sein, heisst: kein Licht, kein Zugang zu Trinkwasser (zur Beförderung von Trinkwasser braucht es elektrische Pumpen), keine Möglichkeit, Kreditkarten zu benutzen, Geld abzuheben, Nachrichten zu sehen, Kommunikationstechnologie zu nutzen, kein Strom zur Betreibung von Spitälern, Produktionsstätten usw.
Die Belegschaft der CORPOELEC in Chacao arbeitete pausenlos, so dass die Elektrizität im ganzen Land nach 5 Tagen wiederhergestellt war. Die Bevölkerung blieb während der 5 Tage ruhig, es gab keine Plünderungen, keine Gewaltaktionen, kein Chaos, die es dem selbsternannten Guaidó ermöglicht hätten, sich als Retter der Nation aufzuspielen und die demokratisch gewählte Regierung abzusetzen. Dafür nutzte die organisierte Belegschaft der CORPOELEC die aussergewöhnliche Situation, um die Verwaltung der Mensa des Geländes in die eigenen Hände zu nehmen und von nun an in Selbstverwaltung zu betreiben. Während unseres Besuchs wurde in der Küche Poulet verarbeitet, Gemüse geschnitten und Fladenbrot aus Maismehl hergestellt. In den Räumlichkeiten der Mensa werden Vorträge zu Themen wie dem Sabotageakt gegen das Stromnetz, aber auch Geopolitik und Wirtschaft organisiert. In einem Treffen mit Mitgliedern der sozialistischen Arbeiterzentrale erfahren wir, dass Outsourcing, also die Vergabe von Arbeiten an Subunternehmen, die immer mit einer Spaltung der Belegschaft und einer Verschlechterung der Arbeitsbedingungen und den Löhnen einhergehen, in Venezuela gesetzlich verboten sind.
Nun zu den „cajas CLAP“ – den CLAP-Kisten. CLAP ist ein von der Regierung initiiertes Lebensmittelversorgungssystem, das die Verteilung von subventionierten Lebensmitteln einmal im Monat (manchmal sogar alle zwei Wochen) gegen einen sehr tiefen Preis an die Bevölkerung garantiert. Zurzeit werden rund 6 Millionen Familien in Venezuela – so gut wie die ganze Bevölkerung von 30 Millionen Personen – über dieses System mit Grundlebensmitteln wie Reis, Pasta, Öl, Linsen, Mehl, Zucker, Thon usw. versorgt – unabhängig ihrer politischen Ausrichtung und ihrer finanziellen Situation.
Die Lebensmittel werden hauptsächlich über zwei Wege verteilt: Die «CLAP obrero» werden den Werktätigen an ihren Arbeitsstellen verteilt, sei das z. B. im Elektrizitätswerk oder im Ministerium für auswärtige Angelegenheiten. Die «CLAP comunas» werden in den Quartieren durch die organisierte Bevölkerung verteilt. Wie das geht, konnten wir im Quartier Sucre mitverfolgen. Die CLAP-Kisten werden mit Lieferwagen in ein Lager geliefert, wo die Anzahl der Kisten abgezählt wird, die im Zielquartier verteilt werden – meistens um die 300/350 pro Verwaltungseinheit. Dann werden die Kisten in die Verteilerzentrale vor Ort gefahren, im Falle des Quartier Sucre ein Quartierzentrum. Dort werden die Kisten gemäss einer Liste, auf welcher alle Familien des Quartiers erfasst werden, verteilt. Die Bezahlung – rund 510 Bolivar bei einem aktuellen Mindestlohn von 18 000 Bolivar im Monat – erfolgt vorgängig. Die Bevölkerung ist in den ganzen Prozess eingebunden, sie macht ihn überhaupt möglich. Aufgaben werden an Verantwortliche verteilt, die dafür sorgen, dass alle Familien ihre Lebensmittel erhalten. Schwangere, ältere Menschen und Frauen mit kleinen Kindern erhalten ihre Lebensmittel zuerst.
Während der Anschläge auf die Stromversorgung im März wurde das System CLAP dazu benutzt, die Bevölkerung mit Trinkwasser zu versorgen. Die Regierung schickte Zisternenwagen in die Quartiere, die Bevölkerung organisierte und sicherte die Verteilung des Trinkwassers an die Menschen im Quartier.
Die Lebensmittel für die CLAP-Kisten werden vor allem aus Mexiko importiert und zum Teil illegal nach Kolumbien und Brasilien geschmuggelt, um dort zu den üblichen Marktpreisen verkauft zu werden. Seit die Regierung Präsident Maduros Ende Februar die Grenzen zu Kolumbien und Brasilien schliessen liess – unter anderem aufgrund der Bedrohung durch kolumbianische und brasilianische paramilitärische Truppen, die nur darauf warten, in Venezuela einzumarschieren – und keine Lebensmittel und Benzin mehr in diese Länder geschmuggelt werden können, konnte die Preisinflation in Venezuela eingedämmt werden. Allerdings haben sich die Lebensbedingungen für die Grenzbevölkerung in den Ortschaften auf der kolumbianischen und brasilianischen Seite mit der Grenzschliessung massiv verschärft, da diese Ortschaften zu einem grossen Teil von den illegalen «Importen» von Lebensmitteln und Benzin aus Venezuela abhängig sind. Die wahre «humanitäre Krise» besteht in den Grenzstädten in Kolumbien und Brasilien. Die Organisation und Selbstverwaltung der Bevölkerung wird auch im Projekt Amatina deutlich.
Amatina ist ein Wohnungskomplex auf einem enteigneten Stück Land, das dem privaten Grossunternehmen Polar gehörte, ein Lebensmittelgrossverteiler, der einen Grossteil der Lebensmittelimporte und -verteilung in Venezuela kontrolliert und aktiv an der künstlichen Verknappung von Lebensmitteln beteiligt ist, mit dem Ziel, die Bevölkerung gegen die Regierung aufzubringen. Amatina wird seit 2013 mit Hilfe der finanziellen Unterstützung der Regierung im Rahmen der Gran Mision Vivienda von den BewohnerInnen – rund 130 Familien – gebaut und betrieben. Die Menschen, die sich rund ums das Projekt Amatina organisiert haben, gehören zu der Bevölkerungsschicht, die vorher obdachlos waren, in den Barrios an den Hügeln von Caracas lebten (siehe Bericht 1. Tag) oder durch Unwetter und Bergstürze ihr Zuhause verloren. Amatina betreibt eine eigene Bäckerei, in der zu nicht inflationären Preisen Backwaren verkauft werden. 12 Personen arbeiten hier gegen Lohn, sechs in der Morgenschicht, 6 in der Nachmittagsschicht. Im Garten, der zum Komplex gehört, werden Gemüse und Arzneipflanzen angebaut. Es gibt einen Kinderhort. Der Gemeinschaftsraum und das Lokal für den Radiosender sind noch im Bau. Die Wohnungen sind modern und grosszügig ausgemessen. Wir sprechen mit ein paar Frauen, die offensichtlich stolz darauf sind, ihre Wohnungen mit ihren eigenen Händen und ohne Hilfe von Privatunternehmen gebaut zu haben. Freiwillige aus andere Organisationen helfen bei den Arbeiten und es gibt Hilfe von internationalen Brigaden.
Am Abend findet eine Versammlung der Jugend von Amatina statt. Das politische Bewusstsein der Jugendlichen hier ist unglaublich gross. Sie kennen die Geschichte der spanischen Kolonialisierung Lateinamerikas und der Unabhängigkeitskriege Venezuelas. Sie sind bestens über die aktuelle Situation informiert und sind stolz, ein Teil des Wiederstandes gegen das US-Imperium zu sein. Als wir ihnen erzählen, dass die Medien in der Schweiz berichten, in Venezuela herrschten Hunger, Chaos und ein brutaler Diktator, der sein Volk unterdrückt, verstehen sie die Welt nicht mehr.
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