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Der ehemalige Präsident des Obersten Gerichtshofs Barak im International Convention Center in Jerusalem, 8. Dezember 2019. (Yonatan Sindel/Flash90)

Im Haag wird Aharon Barak Dr. Jekyll für Israels Mr. Hyde spielen

Als früherer Präsident des Obersten Gerichtshofs hatte Barak für die rechtliche Absicherung der israelischen Besatzung und für die Fassade der Demokratie gesorgt. Jetzt ist er zurück, um seine Arbeit fortzusetzen – am Internalen Gerichtshof im Haag bei der Behandlung des Antrags der Republik Südafrika für eine sofortige Aussetzung von Israels Angriff auf den Gazastreifen.

Von ORLY NOY1, Medium +972.

Die Ankündigung, dass Israel Aharon Barak, den renommierten ehemaligen Präsidenten des Obersten Gerichtshofs, als Mitglied des Internationalen Gerichtshofs (IGH) ausgewählt hat, der über einen bahnbrechenden Fall urteilt, in dem Israel des Völkermords beschuldigt wird, hat das Land in helle Aufregung versetzt. Barak wird Israels Vertreter in einem Gremium sein, das dringlich einberufen wurde, um Südafrikas Antrag für eine sofortige Aussetzung des israelischen Angriffs auf den Gazastreifen zu erörtern – ein Gremium, das aus den 15 ständigen Richtern des IGH sowie je einem aus Israel und aus Südafrika bestehen wird.

Barak wird seit langem von der israelischen Rechten geschmäht, weil er während seiner Amtszeit als Präsident des Obersten Gerichtshofs von 1995 bis 2006 verschiedene liberale Grundsätze in der Quasi-Verfassung des Staates verankert hat. Seine Fans indes können ihre Begeisterung kaum zügeln. «Das beste Gütesiegel. Israel hat niemanden, auf den es sich verlassen kann, ausser Aharon Barak,» sagte Yossi Verter, ein Kommentator der liberalen Zeitung Haaretz. Ähnlich äusserte sich die Bewegung für eine gute Regierung in Israel: «Richter Barak ist einer der grössten Juristen, die der Staat Israel je hervorgebracht hat, und seine Ernennung für dieses Amt ist eine Notwendigkeit.»

Auf den ersten Blick gibt die Nomination Baraks durch eine rechtsextreme Regierung Rätsel auf. Denn diese Regierung hat das vergangene Jahr damit verbracht, vieles von dem zu demontieren, wofür er stand. Israelischen Medienberichten zufolge war Barak nicht einmal Netanjahus erste Wahl für den Posten, was angesichts der Geschichte des bösen Blutes zwischen den beiden nicht überrascht.

Der ehemalige Präsident des Obersten Gerichtshofs Barak spricht auf einer Pressekonferenz am 3. November 2023 mit Familien, deren Angehörige am 7. Oktober vom palästinensischen Widerstand entführt worden sind. (Miriam Alster/FLASH90)

Dennoch ist es schwer, sich eine Person vorzustellen, die [aus Sicht der israelischen Regierung] besser für diese Rolle geeignet wäre. Nicht wegen Baraks juristischer Fähigkeiten, nicht wegen des internationalen Rufs, den er sich erworben hat, und auch nicht wegen der Tatsache, dass er den Holocaust überlebt hat – was denjenigen, die ihn nach Den Haag geschickt haben, nicht entgangen ist.

Vielmehr setzt Baraks neue Rolle die Mission fort, der er sein gesamtes Berufsleben gewidmet hat: der Legitimierung der Mehrheit der Verbrechen Israels bei gleichzeitiger Verteidigung der Fassade der «israelischen Demokratie». Barak ist schliesslich einer der bedeutendsten Autoren der Rechtsdoktrin, wonach Israel behaupten kann, eine Demokratie zu sein, während es eine endlose militärische Besatzung aufrechterhält und die Palästinenser systematisch ihrer Rechte, Würde, ihres Landes und Eigentums beraubt.

Einerseits hat das israelische Justizsystem unter Baraks Leitung die Grenzen seiner eigenen Autorität erheblich erweitert. Anderseits stand das Gericht fast immer auf der Seite der Positionen des israelischen Sicherheitsapparats. In Baraks eigenen Worten: «Alle Angelegenheiten der Westbank und des Gazastreifens sind justiziabel [d. h. können innerhalb des israelischen Justizsystems behandelt werden]. Militärische Angelegenheiten in den [besetzten] Gebieten sind justiziabel. Ob in Gaza der Strom abgeschaltet werden soll – vertretbar. Warum? Weil es internationales Recht gibt. Wenn die Abschaltung des Stroms in Gaza hier nicht gerechtfertigt ist, wird es in Den Haag gerechtfertigt sein. Dies ist in dieser Angelegenheit der Fall und ebenso in der Angelegenheit der Siedlungen.»

Jetzt entdeckt Barak, dass die juristische Rüstung, für die er so hart gearbeitet hat, um Israels Verbrechen zu schützen, möglicherweise nicht ausreicht – und er selbst wird jetzt in Den Haag dafür kämpfen müssen.

Die Illusion dieser Rechtslehre wurde durch zwei der Konzepte ermöglicht, mit denen Barak am stärksten identifiziert wird: Alles ist justiziabel und verhältnismässig. Zum Beispiel legalisierte der Oberste Gerichtshof unter seiner Führung die Trennmauer in den besetzten Gebieten, «balancierte» die Entscheidung jedoch im Namen der heiligen Verhältnismässigkeit aus, indem er entschied, dass die Streckenführung geändert werden muss, um nicht eine Handvoll palästinensischer Dörfer vom Rest der Westbank abzuschneiden.

Ein Abschnitt der israelischen Trennmauer, die Land in den Bezirken Bethlehem und Jerusalem annektiert, Beit Jala, besetztes Westjordanland, 6. April 2019. (Anne Paq/Activestills)

In ähnlicher Weise stellte Barak sicher, dass das Urteil des Obersten Gerichtshofs zu Jami’at Iscan – das der israelischen Armee erlaubte, palästinensisches Land für den Bau von Autobahnen im Westjordanland zu enteignen – so präsentiert wurde, als ob es den Bewohnern der besetzten Gebiete zugute käme, denn «eine langfristige Militärherrschaft könnte sonst zu einer Stagnation in der Entwicklung der lokalen Bevölkerung und der Region führen».

Obwohl er den Abriss palästinensischer Häuser zu Strafzwecken für «unangemessen» und nutzlos hielt, entschied er, dass er als Richter in dieser Angelegenheit keinen Ermessensspielraum habe, und ergriff keine Massnahmen, um diese Politik zu stoppen. Dieser Ansatz gipfelte in Baraks endgültigem Urteil, das die Politik der Armee der «gezielten Tötungen» – also aussergerichtlicher Hinrichtungen – faktisch legalisierte, jedoch mit dem Vorbehalt, dass «Beschränkungen und Begrenzungen für die gezielten Tötungen festgelegt werden müssen, damit jeder Fall für sich untersucht wird».

Als Reaktion auf diese Entscheidung schrieb die Rechtswissenschaftlerin Suzie Navot: «Angeblich wird das Urteil es schwierig machen, Terroristen ins Visier zu nehmen … Aber das ist nur angeblich so. Denn in der Praxis treffen die Sicherheitskräfte auch heute noch Entscheidungen über gezielte Tötungen auf der Grundlage ähnlicher Überlegungen wie im Urteil dargelegt. Vermutlich wird sich an der Realität nicht viel ändern.»

Mit diesen Worten legte Navot – unterstützend – den Finger auf Baraks doppelte Fata Morgana, deren Wesen und Zweck sie wie folgt erklärt: «Das Urteil über gezielte Tötungen wurde nicht nur für die Armee geschrieben. Es ist vielleicht eines der wichtigsten juristischen Dokumente, die in Israel aus der Perspektive der Hasbara [Öffentlichkeitsarbeit] verfasst wurden. Es ähnelt im Wesentlichen anderen Entscheidungen von Aharon Barak, insbesondere in Bezug auf die Trennmauer. Urteile, die nach aussen gerichtet sind – für die internationale Gemeinschaft, die Israels Vorgehen in den [besetzten] Gebieten überprüft. Das Schlusswort des ehemaligen Präsidenten Barak ist eine einfühlsame Erklärung zur Verteidigung der unmöglichen Situation Israels und seines ständigen Kampfes gegen den Terror.»

Es stellte sich heraus, dass dies nicht der letzte Fazit des Richters war. Der 87-Jährige hat sich freiwillig gemeldet, den Mantel von Dr. Jekyll anzuziehen, um die Verbrechen von Mr. Hyde – einem Körper im Dienste der israelischen Hasbara – ein weiteres Mal zu legitimieren.
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1 Orly Noy ist Redaktorin bei Local Call, politische Aktivistin und Übersetzerin von Lyrik und Prosa aus dem Persischen ins Hebräisch. Sie ist Vorsitzende des Vorstands von B’Tselem und Aktivistin in der politischen Partei Balad. In ihren Texten befasst sie sich mit den Grenzen, die ihre Identität als Mizrachi, Linke, Frau, zeitweilige Migrantin, die in einer ewigen Einwandererin lebt, und dem ständigen Dialog zwischen ihnen.
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Dieser Artikel ist zuerst auf Hebräisch im israelischen Medium «Local Call» erschienen und wurde am 10. Januar 2024 vom +972-Magazin auf Englisch übernommen. Im +972-Text können auch die Links auf die Quellen verfolgt werden.