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Zensur und die Krise der bürgerlichen Legitimität

von CARLOS L. GARRIDO, 29. April 2024

Rede am Platypus 2024 International Convention panel zum Thema «Die Politik der Redefreiheit»

In seinen frühen Schriften gegen die Zensur vertrat Karl Marx die Auffassung, dass es nicht genüge, die Zensur nur deshalb zu kritisieren, weil sie eine Einschränkung unserer Freiheiten und Rechte darstelle. Viel wichtiger sei es, die Bedingungen für die Entstehung von Zensur kritisch zu hinterfragen. Zensur fällt natürlich nicht vom Himmel. Sie wird durch bestimmte Bedingungen hervorgerufen, die sie zu einer Notwendigkeit für die herrschende Ordnung machen.

In unserer Zeit, in der die Zensur zur Tagesordnung gehört und verschiedene Formen annimmt, müssen auch wir uns fragen: Welche Bedingungen machen diese Zensur notwendig? Es ist zwar wichtig, die Scheinheiligkeit der von der herrschenden kapitalistischen Klasse verkündeten Werte und deren Verletzung in der Realität anzuprangern, aber das allein reicht nicht aus, um zu verstehen, zu erklären, zu begreifen, warum die Zensur überhaupt so häufig praktiziert wird.

Wenn wir das schwindende Vertrauen in die herrschenden Institutionen, in die Medien (denen nur 11 Prozent der Bevölkerung vertrauen), in die Politiker usw. beobachten, ist es meines Erachtens klar, dass die herrschende Elite in einer Legitimationskrise steckt.

Die Zensur ist somit ein klares Ergebnis des Scheiterns der bürgerlichen Ideologie, deren hegemoniale Kontrolle über die spontanen Weltanschauungen der Menschenmassen nachlässt. Die von den herrschenden Institutionen der Kapitalistenklasse hervorgebrachten Erzählungen werden von der Masse nicht mehr unkritisch und spontan akzeptiert.

Die meisten normalen Amerikaner, insbesondere die Jugendlichen, verstehen intuitiv, dass die Medien und andere ideologische Apparate der herrschenden Klasse nicht dazu dienen, uns die Wahrheit zu sagen. Ganz im Gegenteil. Ihr einziger Zweck besteht darin, die Welt derart zu verzerren, dass wir sie durch die Erzählungen der herrschenden Elite erfassen können.

Um einen Fachbegriff der marxistischen Tradition zu verwenden, besteht ihr ganzer Zweck darin, systematisch eine Form von falschem Bewusstsein zu reproduzieren – ein Bewusstsein, das die Welt auf den Kopf stellt, basierend auf oberflächlichen, einseitigen Fakten, Verzerrungen und Lügen. Irgendwie ist Israel immer das Opfer, China die Imperialistin und Kuba der staatliche Sponsor von Terrorismus.

Das ist nicht einfach ein Problem der epistemischen Hygiene, wie es die Wissenschaftlerin Vannessa Wills formuliert hat, sondern eine objektive soziale Realität der kapitalistischen Lebensform. Es handelt sich um ein System, das, um sich selbst zu reproduzieren und die Einwilligung der Beherrschten zu gewinnen, erfordert, dass die Menschen die Welt in verkehrter Weise verstehen. Es handelt sich um eine Ordnung, die eine verfälschte Abbildung ihrer selbst in der Welt der Ideen erfordert, und nicht eine zutreffende, korrespondierende Reflexion.

Amerikaner aus der Arbeiterklasse und sogar einige Dissidenten aus privilegierteren Schichten beginnen, diese Realität intuitiv zu verstehen – auch wenn sie nicht, oder zumindest noch nicht, mit der Konkretheit und Systematik verstanden wird, die eine marxistische Weltanschauung vermitteln kann. Doch selbst diese spontanen und oft inkohärenten Formen des Dissenses werden von einer herrschenden Elite zensiert, die zu labil ist, um abweichende Meinungen zu den Hauptfragen des Imperiums zuzulassen. Sie bevorzugen und – offen gesagt – brauchen eine kompatible Form von Andersdenkenden (ob von rechts oder links), die zwar die Politiker, den Kapitalismus, «die Matrix» usw. kritisieren, sich aber in Fragen des Imperialismus treu an die Narrative der herrschenden Klasse halten.

Diese Fragen des Imperialismus, die der aktuellen neoimperialistischen Phase des Kapitalismus entsprechen, sind die Achillesferse der heutigen Elite. Die überwiegende Mehrheit derjenigen, die in den letzten Jahren zensiert wurden, wurden gerade deshalb angegriffen und verleumdet, weil sie die imperialistischen Narrative in Frage stellten. Meines Wissens wurde niemand zensiert, weil er die Erhöhung des Mindestlohns, «Medicare» für alle oder Schuldenerlass forderte – so wichtig diese Themen für die grosse Mehrheit der amerikanischen Arbeiterklasse auch sein mögen.

Zensiert werden diejenigen Stimmen, die die imperialistischen Narrative zu Schlüsselthemen in Frage stellen, wie zum Beispiel zum Stellvertreterkrieg gegen Russland, zum Neuen Kalten Krieg gegen China, zu den einseitigen Zwangsmassnahmen gegen Venezuela, Kuba, Nicaragua und anderen Ländern und natürlich zum wichtigsten Thema unserer Zeit, dem Völkermord an den Palästinensern durch den faschistischen Staat Israel, dem kolonialen Aussenposten der USA in Westasien.

Ich spreche heute nicht als Aussenstehender, der sich einfach für Fragen der Zensur interessiert, sondern als Leiter eines Instituts, das in den letzten Jahren einen erbitterten Kampf gegen die Zensur führen musste.

Vor drei Jahren, als in Kuba die «Proteste» der farbigen «Revolution» vom 11. Juli stattfanden, nutzten wir den TikTok-Kanal unseres Instituts, um mit den imperialistischen Märchen aufzuräumen, die – wie immer – auf einen Regimewechsel abzielten. Damals hatten wir fast 300 000 Follower, und die von uns produzierten Videos erreichten Millionen von Menschen. Schon nach wenigen Videos, in denen wir die Situation erörterten, wurde unser Konto vorübergehend gesperrt – eine Situation, mit der wir den ganzen Sommer über konfrontiert waren. Wie so oft blieb ihnen, da sie uns auf argumentativer Ebene nicht schlagen konnten, nur die Zensur.

Wenige Monate später fand die spezielle Militäroperation statt, die eine neue Phase im Kampf des imperialistischen Westens gegen Russland darstellen sollte. Damals nutzten wir die TikTok-Plattform unseres Instituts, um gegen die imperialistischen Narrative der Nato vorzugehen, die Putin einfach als blutrünstigen Wahnsinnigen darstellen. Wir analysierten die SMO im Kontext der langen Geschichte der US/Nato-Expansion in Richtung Russland, des Krieges gegen die Menschen im Donbass seit 2014, der vom Westen geförderten Verbreitung des Nazi-Banderismus und dessen Einverleibung durch den ukrainischen Staat, sowie anderer Faktoren, die für die korrekte Beurteilung der Ereignisse im Februar 2022 notwendig sind – alles Faktoren, die in den Jahren zuvor von den imperialistischen Medien und verschiedenen US-Beamten selbst anerkannt wurden.

Weil wir diese Wahrheiten aufdeckten und das imperialistische Narrativ in Frage stellten, wurde unser Konto (das zu diesem Zeitpunkt fast 400 000 Follower hatte) dauerhaft gesperrt. Im darauffolgenden Jahr gründeten wir sieben neue Konten, von denen ein paar die 100 000-Follower-Grenze überschritten, nur um erneut gesperrt zu werden, sobald wir wieder in der Lage waren, Millionen zu erreichen.

Wie die Recherchen von Alan MacLeod zeigten, zwang die Biden-Administration in dem Jahr, in dem die Zensur gegen das Institut begann, ByteDance (das chinesische Unternehmen mit den menschenfreundlichen Algorithmen, die unser Wachstum ermöglichten), die Verwaltung seiner US-Server an das in Texas ansässige Unternehmen Oracle zu übergeben, ein Unternehmen mit engen Beziehungen zur CIA. In MacLeods Bericht wurde aufgedeckt, dass Oracle eine ganze Reihe ehemaliger Mitarbeiter des US-Aussenministeriums und des Geheimdienstes eingestellt hatte, um die Inhalte von TikTok zu verwalten, sowie einige Führungskräfte der Nato. TikTok gab an, 320 000 «russische Konten» gelöscht zu haben, darunter viele Konten amerikanischer Sozialisten, die nie in irgendeiner Weise mit Russland in Verbindung gebracht wurden, wie zum Beispiel das Konto unseres Instituts.

Die Zensur, mit der wir konfrontiert waren, beschränkte sich jedoch bei weitem nicht auf TikTok (eine App, die, obwohl sie vom Aussenministerium verwaltet wird, nicht in der Lage war, die abweichenden Haltungen der Jugendlichen zum Thema Imperialismus vollständig zu kontrollieren – der eigentliche Grund, warum sie die App verbieten wollen, und warum wir, obgleich wir mehr als sieben Mal gesperrt wurden, in der Lage waren, ein neues Konto einzurichten mit weit mehr als 200 000 Followern und mit Millionen von Aufrufen zu verschiedenen Videos).

Mitte Februar dieses Jahres, als wir über den Tod des vom Westen geliebten rechtsextremen Rassisten Nawalny berichteten, erhielten wir die Meldung, dass unser YouTube-Kanal demonetarisiert wurde. YouTube war eine der wichtigsten Einnahmequellen für das Institut. In unseren Live-Übertragungen konnten die Zuschauer spenden und Fragen stellen. Das war natürlich eine spezielle Form der Zensur – ein Angriff auf die finanzielle Grundlage, die es uns ermöglicht, diese Arbeit zu leisten.

Das ist nur die Spitze des Eisbergs der Zensurattacken, denen wir und viele andere ausgesetzt sind, wenn unsere Argumente nicht nur das vorherrschende Narrativ in Frage stellen, sondern dabei auch noch Hunderttausende und manchmal Millionen von Menschen erreichen.

In meinen jüngsten Schriften habe ich darzulegen versucht, dass die sozialen Medien zu einem der wichtigsten ideologischen Schlachtfelder geworden sind, auf denen der Krieg der Positionen, d. h. der Krieg der Ideen um die Herzen und Köpfe der Menschen, ausgetragen werden muss. Es ist ein Raum, in dem die Menschen 3 bis 4 Stunden pro Tag verbringen, und der von zentraler Bedeutung ist für die spontane Entwicklung der Ansichten, die die Menschen zu relevanten politischen Themen vertreten. Trotz seines tubulären Charakters und des Durchsickerns abweichender Meinungen, die hier und da auftauchen, ist er für die herrschende Klasse zum wichtigsten Instrument der Narrativkontrolle geworden – ein Raum, in dem sie ihre Narrative verstärkt (mal direkt, mal indirekt durch Bots) und die abweichenden Narrative zum Schweigen bringen kann (wiederum mal direkt durch die Sperrung des Kontos, mal indirekt durch Demonetarisierung und mal heimtückischer durch die Drosselung der Reichweite [«Shadowbans»], wie es bei verschiedenen Leitern unseres Instituts vorgekommen ist).

Es ist die Aufgabe der Marxisten, das Aufkommen dieser Zensur in den Kontext der gegenwärtigen Legitimitäts- und Imperialismuskrise zu stellen. Wenn wir den Krieg der Positionen gewinnen wollen, ist es auch unsere Aufgabe, die Kluft zwischen den hochtrabend verkündeten Werten der herrschenden Klasse (die grösstenteils vom gesunden Menschenverstand des Volkes akzeptiert werden) und der durch die Ordnung dieser Klasse geschaffenen Realität zu unseren Gunsten zu nutzen. Die Tatsache, dass die Elite einerseits das Recht auf freie Meinungsäusserung, Medienfreiheit usw. proklamiert, anderseits aber alle Stimmen zensiert, die das herrschende Narrativ in Frage stellen (insbesondere wenn es um Krieg und Frieden geht), ist ein objektiver Widerspruch, den wir dem amerikanischen Volk erklären und zu unserem Vorteil ausnutzen müssen. Wir müssen die Menschen dabei unterstützen, ihre abweichenden Meinungen, die sie bereits vertreten, in eine kohärente Form zu bringen – wir müssen ihnen helfen, zu verstehen, warum wir der herrschenden Klasse und ihren Institutionen misstrauen und sie in Frage stellen sollten.

Lenins Frage – Freiheit (oder Redefreiheit) für wen und wozu? – muss immer wieder gestellt werden. Freiheit, sei es Redefreiheit oder irgendeine andere Freiheit, ist eine Abstraktion, die einen verdeckten Klasseninhalt aufweist. Redefreiheit für die Elite ist die Freiheit ihrer Rede, ihre Freiheit, die Realität zu verzerren und uns in Unwissenheit zu halten, als Rädchen einer Maschine, die ihnen gehört, von der sie profitieren und die sie weiterhin am Laufen zu halten hoffen.

Redefreiheit für uns, die überwältigende Mehrheit der Menschen, ist grundlegend verwurzelt in der Fähigkeit, die Wahrheit über die Herrschenden auszusprechen und die Erzählungen derjenigen in Frage zu stellen, die sich unter dem Deckmantel der «Bekämpfung von Desinformation» verstecken, während sie selbst die grössten Lügner, Verführer und Desinformierer sind.

Das erfordert, dass wir uns gegen jede Art von Zensur wenden, und zwar nicht nur dann, wenn die Betroffenen bereits unsere marxistische Weltanschauung vertreten. Jeder, der das Imperium in Frage stellt, sollte in seinem Recht auf freie Meinungsäusserung und Medienfreiheit geschützt werden, unabhängig davon, wie anachronistisch seine Ansichten auch sein mögen. Als Marxisten, d. h. als die ultimativen Feinde der herrschenden Ordnung, können wir es nicht gutheissen, wenn der Staat bei Fragen des Imperiums gegen Andersdenkende vorgeht, selbst wenn wir jenseits dieser Fragen einige Ansichten dieser Dissidenten verabscheuen.

In unserer Zeit der offenkundigen Zensur sollten wir Marxisten das Recht auf freie Meinungsäusserung verteidigen, das uns durch die bürgerliche Verfassung zugestanden wird – auch wenn wir in der Lage sind, die systemischen Zusammenhänge zu verstehen und anderen zu erklären, warum die herrschende kapitalistische Klasse in Krisenzeiten immer gegen die demokratischen Rechte verstossen muss, die sie bei ihrem Auftritt auf der Bühne der Geschichte selbst proklamiert hat.

Vollständige Podiumsdiskussion hier anschauen:


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Carlos L. Garrido ist ein kubanisch-amerikanischer Philosophiedozent an der Universität von Southern Illinois, Carbondale. Er ist Direktor des Midwestern Marx Institute und Autor von The Purity Fetish and the Crisis of Western Marxism (2023), Marxism and the Dialectical Materialist Worldview (2022) und dem demnächst erscheinenden Hegel, Marxism, and Dialectics (2024). Er hat für Dutzende von wissenschaftlichen und populären Publikationen rund um die Welt geschrieben und betreibt mehrere Live-Sendungen für das Midwestern Marx Institute YouTube. Sie können seinen Substack Philosophy in Crisis HIER abonnieren.

Englischer Originaltext auf der Plattform des Midwestern Marx Institute. Übersetzt mit Hilfe von DeepL