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Kanaky – oder die Ablehnung des französischen Kolonialismus

von SAÏD BOUAMAMA, 22. Mai 2024

Die Volksaufstände, welche die Kanaky seit zehn Tagen erschüttern, fallen nicht vom Himmel. Kanaky, von den französischen Kolonisatoren Nouvelle-Calédonie genannt, steht seit 1946 unter Kolonialherrschaft Frankreichs und strebt nach Unabhängigkeit. Seine Anhänger konnten beim bevorstehenden Referendum über den Status der Insel darauf hoffen. Dabei wurde jedoch nicht mit einer in Paris beschlossenen Gesetzesreform gerechnet. Diese zielt darauf ab, die künftigen Stimmen für die Unabhängigkeit zu schmälern. Es ist dieses neokoloniale, wirtschaftlich motivierte Gesetz, das Kanaky in Wut und den «Ausnahmezustand» gestürzt hat …

Das Blut fliesst wieder in Kanaky unter den Kugeln der französischen Soldaten und Gendarmen. Die Bilanz der Unterdrückung der Unabhängigkeitsdemonstrationen, die diese seit 1853 von Frankreich kolonisierte Insel seit dem 13. Mai erschüttern, ist schon jetzt schwerwiegend. So gibt es bereits mindestens sechs Tote, Hunderte Verletzte und mehr als 400 Festnahmen.

Die Tatsache, dass die französische Regierung den Ausnahmezustand und die Entsendung militärischer Verstärkungen in die Häfen von Kanaky und auf den Flughafen der Hauptstadt Nouméa ausgerufen hat, allein reicht aus, um den massiven Charakter der Revolte des Kanak-Volkes zu demonstrieren.

Ebenso zeugt die Entsendung der Spezialeinheiten der GIGN oder von RAID-Interventionseinheiten vom populären Ausmass der Bewegung. Die Schlussfolgerung ist naheliegend: in Kanaky ist es ein ganzes Volk, das seine Unabhängigkeit fordert und sich gegen den französischen Kolonialstaat auflehnt.

Pro-kolonialistische französische Medien

Die Berichterstattung der grossen französischen Medien ist nicht überraschend kontextfrei. Die historischen, wirtschaftlichen und politischen Hintergründe der Revolte werden insgesamt verschwiegen oder unterschlagen und machen einer endlosen Beschreibung der von den aufständischen Kanak begangenen Zerstörungen Platz.

Die meisten dieser Medien geben den französischen Kolonisten, die Paris um Hilfe rufen, reichlich Stimme, beschreiben die Proteste der Bevölkerung als barbarisch und blindlings gewalttätig. Und sie erklären, warum sich die französischen Siedler genötigt sehen, sich in Selbstverteidigungsmilizen zu organisieren.

Gleichzeitig blockiert die französische Regierung soziale Netzwerke und insbesondere Tik Tok. Es soll so verhindert werden, dass die Bevölkerung Zugang zu Szenen gewaltsamer Unterdrückung durch den französischen Staat erhält.

«Ausnahmezustand», Entsendung von Truppen, Zensur, Konstrukt eines widerständigen Volkes als barbarisch und blindlings gewalttätig usw., diese Dimensionen sind nicht unähnlich dem Vietnamkrieg oder dem Algerienkrieg, in dem dieselben Verfahren angewendet wurden, dieselben Leitmotive der Kriegspropaganda eingesetzt wurden, dieselben Dekontextualisierungen durchgeführt wurden.

Gesetz über «das Auftauen des Wahlkörpers»

Um die Gründe für die legitime Revolte des Kanak-Volkes zu verstehen, müssen daher unmittelbare und historische Kontexte berücksichtigt werden.

In Bezug auf die Aktualität hat die derzeitige legitime Revolte des Kanak-Volkes ihren Ursprung in der Abstimmung in der Nacht vom 14. auf den 15. Mai in der französischen Nationalversammlung über ein Gesetz über das «Auftauen des Wahlkörpers» [«le dégel du corps électoral»]. Ziel dieses Gesetzes ist es, europäischen Siedlern, die nicht im Kanak-Territorium geboren wurden, das Wahlrecht für das Referendum zu gewähren, das über die Selbstbestimmung der Insel durchgeführt werden soll.

Vor dem Erlass dieses Gesetzes, das nichts anderes als ein Versuch darstellt, die Aufrechterhaltung der Kolonialisierung gewaltsam durchzusetzen, konnten nur Personen, die vor dem Datum der Unterzeichnung der Nouméa-Abkommen im Jahr 1998 in den Wählerverzeichnissen eingetragen waren, sowie ihre Nachkommen beim Selbstbestimmungsreferendum mitstimmen.

Es geht also darum, jede Möglichkeit der rechtlichen Unabhängigkeit zu verhindern, indem das Volk der Kanak in seinem eigenen Land im Wahlkörper in die Minderheit versetzt wird. Eine solche Praxis kommt der Logik des grossen progressiven Dramatikers Bertolt Brecht zu, der sagte: «Da das Volk gegen die Regierung stimmt, muss man das Volk auflösen und ersetzen.»

Angesichts dieser institutionellen und rechtlichen Gewalt hatten und haben die Kanak nur eine Wahl: entweder ihr Recht auf Unabhängigkeit aufzugeben oder sich aufzulehnen. Hier haben wir eine neue Bestätigung der Notwendigkeit, Legitimität und Legalität nicht zu verwechseln. Die Sklaverei war früher legal, aber nie legitim, die Apartheid war legal, aber immer illegitim.

Das Volk der Kanak akzeptierte nie die Kolonisierung seines Landes, die wie alle blutigen Siedlungskolonisationen war. Eine UNESCO-Publikation erinnert wie folgt daran, ich zitiere: «Die Hauptinsel Neukaledoniens zählte im Jahr 1800 mindestens hunderttausend Einwohner, ein Jahrhundert später gibt es nur noch ein Drittel. »

Langer Kampf um Unabhängigkeit

Die Revolten der Kanak in den Jahren 1878 und 1917 gegen diese Kolonisation wurden im Blut unterdrückt. Der Ethnologe Jean Guiart erinnert daher daran, dass 1878 «für jedes Ohrenpaar eines angeblich getöteten Rebellen ein Kopfgeld gegeben wurde. Da die Soldaten begannen, Frauen- und Kinderohren abzuliefern, wurde beschlossen, dass die Köpfe mitgebracht werden müssen, um eine bessere Kontrolle zu haben.» In Bezug auf den Aufstand von 1917 fährt er fort: «1917, bei der letzten Rebellion, Betrug die Prämie 20 Francs für einen gefangenen und 25 Francs für einen toten Melanesier!».

Der Letzte Aufstand im Jahr 1988 endete mit dem Massaker in der Höhle von Ouvéa, bei dem 19 Kanak-Kämpfer und zwei französische Soldaten ums Leben kamen.

Trotz dieser brutalen Repression hatte die Volksmobilisierung die französische Regierung gezwungen, die Matignon-Abkommen zu unterzeichnen, die ein Selbstbestimmungsreferendum vorsahen. Es ist dieses Referendum, das der französische Staat mit seinem Gesetz des «Auftauens des Wahlkörpers» definitiv zu verfälschen versucht.

Während die Kanaky von den Vereinten Nationen 1946 in die Liste der zu entkolonialisierenden Gebiete aufgenommen wurde und Frankreich jährlich wegen seiner Weigerung, das Selbstbestimmungsrecht des Kanak-Volkes zu respektieren, an den Pranger gestellt wird, versucht der französische Staat mit diesem neuen Kolonialmanöver, die Aussicht auf ein unabhängiges Kanaky endgültig zu begraben.

Wirtschaftliche und strategische Herausforderungen

Diese kolonialistische Hartnäckigkeit hat Ihren Ursprung in den wirtschaftlichen und geostrategischen Herausforderungen, die für Paris von grosser Bedeutung sind. Auf wirtschaftlicher Ebene findet man zunächst die Frage des Nickels, die der Historiker Vincent Adumié wie folgt zusammenfasst: «Neukaledonien ist Reich an Nickelressourcen […]: 10 Prozent der Fläche des Territoriums enthalten 20 Prozent der weltweit nachgewiesenen Nickelreserven, oder sogar 40 Prozent nach den optimistischsten Schätzungen. Die Insel ist also «ein Nickelblock»: 7,5 Millionen Tonnen Roherz werden jedes Jahr abgebaut und 45 000 Tonnen Ferro-Nickel verarbeitet, 9% der Produktion des Planeten, was dem 5. Platz der Welt entspricht.

Zu dieser Herausforderung kommt die «ausschliessliche Wirtschaftszone» hinzu, d. h. die Meereszone, über die Frankreich aufgrund seines Besitzes der Kanaky rechtlich verfügt. Mit einer Fläche von 18 500 Quadratkilometern verfügt die Kanaky rechtlich über ein Meeresgebiet von 1 740 000 Quadratkilometern.

Der Untergrund dieses Gebiets wird in einem Vermerk des Overseas Emission Institute (IEOM) wie folgt beschrieben: «Der Meeresuntergrund Neukaledoniens weist wie der von Wallis oder Papua-Neuguinea eine Reihe von Gebieten auf, in denen seltene Metalle, Kobalt und Mangan in Form von polymetallischen Knötchen, Verkrustungen oder hydrothermalen Sulfidablagerungen vorkommen. Laut den Meeresgeologen der DIMENC lassen mehrere Elemente auf ein mögliches Vorhandensein von Kohlenwasserstoffen im kaledonischen Meeresuntergrund schliessen.»

Zu diesen wirtschaftlichen Herausforderungen kommt die geostrategische Herausforderung im Zusammenhang mit dem asiatisch-pazifischen Raum hinzu, in dem sich ein erheblicher Teil des Wettbewerbs zwischen China und den Vereinigten Staaten abspielt. Im zentralen Widerspruch unserer Welt zwischen einem amerikanischen Hegemonismus, der versucht, sich mit allen Mitteln zu erhalten, und einem wachsenden Streben nach einer multipolaren Welt nimmt die Kanaky einen besonderen Platz in der westlichen Strategie der Eindämmung und Einkreisung Chinas ein. Es ist eine Karte, die der französische Imperialismus zusammen mit seinem US-Verbündeten ziehen will im Feilschen um seinen Platz im imperialistischen Weltsystem.

Diese geostrategische Bedeutung wurde weiter gestärkt seit Paris in Westafrika erhebliche Rückschläge erlitten hat, der zweiten wichtigen Säule in der internationalen Stellung des französischen Imperialismus. Mit der gewaltsamen Machterhaltung in Kanaky klammert sich Frankreich an seinen Platz unter den Mächtigen, auf eine Schlüsselrolle in einer zukünftigen westlichen Konfrontation mit China hoffend.

Gestern wie heute, in Kanaky wie anderswo, ist der einzige Grund für die Kolonialisierung der Profit und die geostrategischen Möglichkeiten, diesen zu maximieren. Unabhängig von ihrer rechtlichen Tarnung und dem Inhalt der Propagandareden ist diese Kolonialisierung – im gestrigen Algerien oder Kongo wie im heutigen Kanaky – ein Verbrechen gegen die Menschlichkeit.
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Von Saïd Bouamama, dem Autor dieses Artikels, liegt ein Buch mit dem Titel «L’œuvre négative du colonialisme français en Kanaky; une tentative de génocide par substitution» vor. Mehr Infos dazu gibt es auf seinem Blog.
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Der Text ist am 22. Mai 2024 auf Investig’action publiziert worden. Übersetzt mit Hilfe von Yandex Translate und DeepL Translator.