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Einwohner von Donezk marschieren zum Gedenken an die Unabhängigkeitserklärung der Donezker Volksrepublik von der Ukraine, 11. Mai 2018. Foto: Sputnik/Igor Maslov.

Ukrainischer Kommunist Kowalewitsch: Ukraine ist zu einem privaten Söldnerunternehmen der NATO geworden

Orinoco Tribune, 19. Mai 2024

Caracas (OrinocoTribune.com) – «Die Ukraine ist zu einem privaten Söldnerunternehmen der NATO geworden, das nur noch existiert, um NATO-Gegner zu bekämpfen», sagte der ukrainische Kommunist und Journalist Dmitri Kowalewitsch in einem Interview mit Orinoco Tribune. «Ukrainische Parlamentsmitglieder sagen, dass ukrainische Soldaten für die heutige US-Hilfe künftig an weiteren Kriegen an der Seite der USA werden teilnehmen müssen. Kurz gesagt: Sie werden dorthin gehen, wohin das Pentagon sie schickt, um rebellierende Länder des globalen Südens zu unterdrücken.»

Laut Kowalewitsch kontrollieren die Vereinigten Staaten alle Entscheidungen in der Ukraine, nicht nur militärische, sondern auch wirtschaftliche. «Es ist nicht die ukrainische [militärische] Führung, die entscheidet, wo man vorrückt, was man untergräbt, was man beschiesst; die ukrainischen Soldaten handeln auf Anweisung westlicher Instrukteure», sagte er und bezog sich dabei auf die Aktionen der ukrainischen Streitkräfte.

«Auch militärisch ist das Land vollkommen abhängig von den Waffenlieferungen der NATO-Länder», fuhr er fort. «Ohne sie würde die ukrainische Armee nicht überleben. In der Tat betont die Russische Föderation in den Medien oft, dass sie gegen eine Stellvertreterarmee der NATO kämpft», wobei die Ukraine nur deren Fassade sei.

Zur ukrainischen Wirtschaft erklärte Kowalewitsch, dass sie «bis zum Hals beim IWF und anderen westlichen Gläubigern verschuldet ist. Das Land wird niemals in der Lage sein, diese Schulden zu begleichen. Der NATO-Generalsekretär [Jens Stoltenberg] hat kürzlich gesagt, dass es keinen Sinn ergibt, die Ukraine wieder aufzubauen, wenn sie nicht gewinnt».

Kowalewitsch wies auch darauf hin, dass aufgrund der drakonischen Wehrpflichtgesetze ein grosser Prozentsatz der ukrainischen Männer keiner regulären Arbeit nachgeht, da sie sonst eingezogen und an die Front geschickt würden. «Viele Menschen überleben nur dank inoffizieller Arbeit», sagte er.

Ausserdem bemühen sich viele Ukrainer in der Diaspora mit allen Mitteln darum, die ukrainische Staatsbürgerschaft und die Bindung an die Ukraine loszuwerden, «weil der gesellschaftliche Konsens nach dem Euromaidan-Putsch im Jahr 2014 gewaltsam gebrochen wurde», kommentierte er. «Das US-freundliche Konzept des neuen ukrainischen Staates ist so wenig tragfähig, dass es von den Ukrainern verlangt, ständig ihr Leben, ihre Gesundheit und ihr Eigentum zu opfern, ohne dafür eine Gegenleistung zu erhalten. Stattdessen werden im Rahmen des neoliberalen Kurses Sozialleistungen gekürzt sowie Krankenhäuser, Schulen und Unternehmen geschlossen.»

Dmitri Kowalewitsch ist ein ukrainischer Kommunist mit Wohnsitz in Kiew und Mitglied der kommunistischen Organisation Borotba, die in der Ukraine seit dem Euromaidan-Putsch von 2014 verboten ist. Er ist Sonderkorrespondent in der Ukraine für den Nachrichtensender Al-Mayadeen English. In einem kürzlich geführten Interview mit Orinoco Tribune sprach er über den Anstieg des extremen Nationalismus im Land, die Frage der Autonomie des Donbass und der Krim, die Instrumentalisierung der Ukraine als Stellvertreterin der NATO gegen Russland, die sozioökonomischen Verhältnisse in der Ukraine und andere Themen.


Das vollständige Interview

1. Wie sehen Sie den Krieg in der Ukraine? Der russische Präsident Wladimir Putin hat ihn als «Bürgerkrieg» bezeichnet, da die «historischen Beziehungen» zwischen dem russischen und dem ukrainischen Volk über die nationalen Grenzen hinausgehen. Ist der Krieg wirklich so? Welche historischen Beziehungen bestehen zwischen den Völkern der beiden Länder, und wie haben sich die Ereignisse seit dem Euromaidan-Putsch von 2014 auf sie ausgewirkt?

In gewisser Weise handelt es sich um einen Bürgerkrieg, da sich die beiden Nationen sehr nahe stehen. Etwa die Hälfte der ukrainischen Bevölkerung ist russisch oder russischsprachig. In Russland sind die Ukrainer nach den Russen eine der grössten Bevölkerungsgruppen. In der russischen Regierung gibt es viele ethnische Ukrainer. Gleichzeitig gibt es viele ethnische Russen unter den ukrainischen Nationalisten, darunter Oleksandr Turtschynow, der 2014 nach dem Pro-USA-Putsch den Krieg gegen den Donbass begann, wodurch die Grundlage für die russische Operation im Jahr 2022 geschaffen wurde.

Ukrainische Bürger, die nach Russland ziehen, brauchen weder eine andere Sprache noch eine andere Kultur zu lernen. Das Gleiche gilt für russische Bürger, die in die Ukraine ziehen. In beiden Ländern stammen Millionen von Einwohnern aus gemischten Familien, und die Betonung der ukrainischen oder russischen Identität zeugt meistens nur von einem politischen Bekenntnis zu einer nationalistischen Ideologie.

Viele der russischen Generäle, die jetzt die Offensive in der Ukraine leiten, dienten früher in den ukrainischen Streitkräften (AFU), wurden in der Ukraine geboren und sind Ukrainer. Gleichzeitig werden die ukrainischen Streitkräfte von General Alexander Syrsky angeführt, der aus Russland stammt, wo seine Eltern leben, die die Russische Föderation unterstützen. Er beherrscht immer noch nicht die ukrainische Sprache, wie die meisten ukrainischen Führungskräfte, die den einfachen Bürgern Nationalismus verkaufen. In den 1980er Jahren nahm General Syrsky an Paraden auf dem Roten Platz in Moskau teil.

Traditionell wurden die Ereignisse in der Ukraine nach der Revolution von 1917 immer als Bürgerkrieg (1918–1920) interpretiert, an dem sich russische Monarchisten («Weisse»), ukrainische und russische Revolutionäre (Bolschewiki, Anarchisten, Sozialrevolutionäre) und ukrainische Nationalisten beteiligten.

Hinzu kommt, dass die ethnische Selbstidentifikation in der Ukraine nach dem Euromaidan zunehmend durch eine politische Identifikation ersetzt wurde, was die Bevölkerung weiter verwirrt. In unseren Massenmedien kann man beispielsweise folgende Schlagzeilen lesen: «Ukrainer wehren sich gegen Moskauer Päpste». Es geht um Angriffe von Nationalisten auf ukrainisch-orthodoxe Gläubige, von denen die meisten ebenfalls Ukrainer sind. Die so genannte «anti-ukrainische» Position besteht oft in der Kritik an der aktuellen Regierung. Ebenso können westliche Söldner zu «Ehren-Ukrainern» und pazifistische ethnische Ukrainer, die nicht kämpfen wollen, zu «Anti-Ukrainern» erklärt werden.

Gleichzeitig gibt die Ukraine ihren Anspruch auf den Namen Rus, der sich auf Russland und Weissrussland bezieht, nicht auf; sie betrachtet einfach Kiew und nicht Moskau als das Zentrum der Rus. Die ukrainischen Nationalisten halten Russland selbst für das «falsche», «asiatische» Russland, dem sie das «europäische» Russland, d. h. die Ukraine, gegenüberstellen.

2. Die Volksrepubliken Donezk und Lugansk haben kürzlich das 10-Jahr-Jubiläum ihrer Unabhängigkeit/Abspaltung von der Ukraine gefeiert. Bei verschiedenen Gelegenheiten haben Sie gesagt, dass die Menschen in diesen Regionen Autonomie wollten, aber keine «Separatisten» seien. Welche Art von Autonomie wollten sie, und warum haben sie sich schliesslich abgespalten?

Vor zehn Jahren wurden in den Regionen des Donbass Referenden abgehalten, da zwei Monate zuvor der aus Donezk stammende ukrainische Präsident Viktor Janukowitsch durch den Maidan-Putsch in Kiew gestürzt worden war. Die Reaktion auf diesen Putsch war im Donbass äusserst negativ. Bereits während der Maidan-Periode (2013–2014) kam es in Kiew zu Ausschreitungen zwischen Maidan- und Anti-Maidan-Demonstranten (Letztere stammten hauptsächlich aus dem Donbass, der Krim, Odessa und Charkiw). Diese Konfrontation bildete die Grundlage für die weitere Entwicklung des Konflikts.

Dieses Video vom 13. März 2014 zeigt den massiven Widerstand der Bewohner von Donezk gegen Gruppen ukrainischer Nationalisten (darunter Ultra-Fussballfans). Letztere kamen, um die prosowjetische Stimmung zu unterdrücken und das Lenin-Denkmal in Donezk zu zerstören, wie sie es zuvor in Kiew getan hatten.

Da radikale Nationalisten auf dem Maidan die wichtigste Triebkraft waren, wussten die Bewohner der Südostukraine, dass sie durch einen Staatsstreich einige Rechte verlieren würden (ihre sprachlichen, kulturellen und wirtschaftlichen Rechte).

Deshalb forderte der Donbass (Kurzform für Donezbecken) zunächst nur Autonomie, Selbstverwaltung, das Recht, selbst zu entscheiden, welche Sprache gesprochen und welche Helden verehrt werden. Die Kundgebungen für die Autonomie im Donbass begannen in der Nähe der Denkmäler von Wladimir Lenin, die die Nationalisten während des Maidan gewaltsam zu zerstören suchten. Aus der Bewachung der Lenin-Denkmäler rund um die Uhr entwickelten sich später Bürgerwehrgruppen, die sich gegen die Nationalisten zur Wehr setzten.

Die Autonomie des Donbass wurde sogar in den Minsker Vereinbarungen festgelegt, die bis Februar 2022 in Kraft waren. Man ging also davon aus, dass der Donbass zur Ukraine zurückkehren würde, sofern die Ukraine seine Autonomie garantierte. Die ukrainischen Behörden waren jedoch aus zwei Gründen nicht dazu bereit: 1. Den ukrainischen Nationalisten war es wichtig, die Aufstände im Donbass gewaltsam zu unterdrücken, um den Tod ihrer nationalistischen Freunde zu rächen; 2. Der Westen, der die neue ukrainische Regierung finanzierte, wollte die Spannungen an der Grenze zur Russischen Föderation dauerhaft aufrechterhalten und vorzugsweise einen Massenexodus von Millionen von Menschen aus dem Donbass in die Russische Föderation herbeiführen, um dort eine gesellschaftliche Krise zu erzeugen.

3. In Ihrem letzten Monatsbericht über den Ukrainekonflikt erwähnten Sie, dass sich die Krim seit den 1990er Jahren autonom regiert und die Kontrolle der ukrainischen Regierung dort immer schwach war. Davon hört man heute nichts mehr. Könnten Sie erläutern, was diese Autonomie für die Krim bedeutete und ob sie wesentlich dazu beitrug, dass sich die Halbinsel im März 2014 per Referendum wieder Russland anschloss?

Im Jahr 1954 schenkte Nikita Chruschtschow der Ukraine die Krim als Zeichen der Freundschaft zwischen dem ukrainischen und dem russischen Volk anlässlich des 300. Jahrestages der Unterzeichnung eines Vertrages über die Abtretung bestimmter Gebiete der heutigen Ukraine vom Königreich Polen an das Königreich Russland im Jahr 1654 (was das Ergebnis eines langen Bauern- und Religionskrieges war).

Der Übergang zur Ukrainischen Sozialistischen Sowjetrepublik hatte für die Krim jedoch bis 1991 keine faktischen Konsequenzen. Nach dem Zusammenbruch der UdSSR führte die Krim, deren ukrainischer Bevölkerungsanteil schon immer gering war, ein Referendum durch über die Einführung eines autonomen Status als separater Teil der UdSSR. Die Ukraine (damals noch Teil der UdSSR) anerkannte den autonomen Status der Krim. In diesem Status wurde die Krim bald auch Teil der Ukraine.

Bis 2014 war die Macht der Ukraine auf der Halbinsel tatsächlich schwach. Andererseits erhielt die Krim vom Zentrum (Kiew) praktisch keine Unterstützung, was dazu führte, dass die Infrastruktur und die Denkmäler auf der Krim (wie auch in der gesamten Ukraine) allmählich zerfielen.

Nach 2014 verlagerte sich durch die Abspaltung der Krim und der Donbass-Republiken sowie durch die Migration Hunderttausender Menschen aus anderen Regionen das politische Gleichgewicht in der Ukraine – im verbleibenden Teil konnten Nationalisten und Befürworter der NATO und der EU mindestens die Hälfte der Stimmen auf sich vereinen. Die ukrainischen Nationalisten haben seitdem wiederholt erklärt, dass sie nur die Territorien wollen, aber nicht die Menschen, die dort leben. Diese in den Medien geäusserte Haltung verstärkte den Widerstand der Bewohner der betreffenden Regionen umso mehr.

Nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion verschärften sich die regionalen Gegensätze in allen ehemaligen Sowjetrepubliken, auch als Folge des sich verschlechternden Lebensstandards und der daraus resultierenden verstärkten internen Konkurrenz.

4. Was Referenden anbelangt, so traten die Republiken Donezk und Lugansk im September 2022 durch ein Referendum der Russischen Föderation bei. Nach Aussagen der Bewohner des Donbass, die während der Abstimmung mit der Presse sprachen, war das jedoch nicht das erste Referendum in der Region. Wenn dem so ist, wann haben die vorherigen Referenden stattgefunden und worum ging es dabei: Autonomie oder Abspaltung?

Das erste Referendum im Donbass wurde 1994 gleichzeitig mit den Parlamentswahlen in der Ukraine abgehalten: Die Hauptfrage war die Anerkennung der Ukraine als Föderation, was eine gewisse Autonomie der Provinzen bedeutete (wie in der Russischen Föderation, Deutschland, den USA, Indien, Brasilien usw.).

Die Bewohner der Regionen Donezk und Lugansk stimmten damals auch für die Anerkennung der russischen Sprache als zweite Staatssprache und für die Stärkung der wirtschaftlichen Beziehungen zu Russland (Russland war Hauptabnehmer der von Unternehmen im Donbass hergestellten Produkte). Die überwältigende Mehrheit befürwortete damals die Föderation, eine zweite Staatssprache und engere Beziehungen zu Russland.

Im Jahr 2014 fanden zwei Referenden statt – in den Regionen Donezk und Lugansk. Das Referendum umfasste eine einzige Frage in zwei Sprachen (Russisch und Ukrainisch): «Unterstützen Sie den Akt der staatlichen Selbstverwaltung (‹samostoyatel’nost›) der Volksrepublik Donezk/Lugansk?». Es wurden zwei Optionen angeboten: «Ja» und «Nein».

Der in der Frage verwendete Begriff «samostoyatel’nost» kann sowohl volle staatliche Souveränität als auch Autonomie/Selbstverwaltung innerhalb einer staatlichen Einheit bedeuten. Russland empfahl damals, das Referendum zu verschieben, um die Situation nicht zu erschweren, aber es wurde trotzdem abgehalten.

Das nächste Referendum fand im Jahr 2022 statt und betraf den Beitritt zur Russischen Föderation, aber als autonome Republiken (DVR und LVR), die alle Eigenschaften von Republiken beibehalten.

Mit anderen Worten: Die nationalistische Politik der Ukraine hat Föderalisierung schon seit langem mit «Separatismus» gleichgesetzt und Autonomieforderungen zugunsten der staatlichen Einheit unterdrückt, während die Russische Föderation die in ihrem Staatsgebiet befindlichen autonomen Republiken mit all deren nationalen Sprachen, kulturellen Eigenheiten und wirtschaftlichen Bindungen respektvoll behandelt.

Eine föderalistische Struktur der Ukraine mit ihrer sprachlichen und kulturellen Vielfalt würde verhindern, dass die Ukraine nach dem Staatsstreich eine Kehrtwende in Richtung NATO vollzieht und die Beziehungen zu Russland, China und dem Iran abbricht. Vielfalt und föderalistische Struktur erschweren eine scharfe Wende.

5. Dieses Jahr ist der 10. Jahrestag des Euromaidan-Putsches. Wie erinnert man sich in der Ukraine an diesen «Meilenstein» – sowohl auf Seiten der Regierung als auch auf Seiten der Bevölkerung?

Unter Kriegsrecht sind in der Ukraine alle Massenversammlungen verboten, da sie als unsicher gelten. Obwohl radikale Nationalisten regelmässig ihre Aufmärsche organisieren, werden sie nicht angetastet, da sie die wichtigste Stütze der Regierung bilden. Aber an diesen Tagen gab es keine nennenswerten Ereignisse. In der Ukraine richtet sich die ganze Aufmerksamkeit auf die Ereignisse an der Front, die Masseneinberufung und die Appelle an die USA und die EU, mehr Geld zu geben. Die Ereignisse des Maidan sind dabei in den Hintergrund gerückt, und die Strafverfahren aus der Maidan-Zeit bleiben in jahrelangen Gerichtsprozessen stecken.

Die ukrainischen Medien und Beamten versuchen täglich, die müde Bevölkerung mit emotionalen Appellen und hysterischen Verlautbarungen so stark zu erregen, dass die normalen Menschen eher abschalten, die Medien nicht mehr beachten und sogar vergessen, was vor einem Jahr passiert ist, ganz zu schweigen vom Euromaidan.

Doch sobald es Ukrainern gelingt, aus ihrem Heimatland zu fliehen, hören sie in der Regel auf, sich für das Land zu interessieren. Eine kürzlich durchgeführte Umfrage ergab beispielsweise, dass die Hälfte der in Deutschland, Polen und der Tschechischen Republik lebenden Ukrainer kein Interesse an den Ereignissen in der Ukraine hat und nicht plant, jemals dorthin zurückzukehren.

Man kann gewissermassen sagen, dass es für Millionen ukrainischer Bürgerinnen und Bürger sogar zu einer Obsession geworden ist, die ukrainische Staatsbürgerschaft und die Bindung an den aktuellen ukrainischen Staat loszuwerden. Das liegt daran, dass der gesellschaftliche Konsens im Jahr 2014 nach dem Euromaidan-Putsch gewaltsam gebrochen wurde. Die meisten Ukrainer wollten einfach nur leben, arbeiten und weniger vom Staat schikaniert werden. Das US-amerikanische Konzept des neuen ukrainischen Staates (nach dem Euromaidan) ist so wenig tragfähig, dass es von den Ukrainern verlangt, ständig ihr Leben, ihre Gesundheit und ihr Eigentum zu opfern, ohne dafür eine Gegenleistung zu erhalten. Stattdessen werden im Rahmen des neoliberalen Kurses Sozialleistungen gekürzt sowie Krankenhäuser, Schulen und Unternehmen geschlossen.

6. Am 2. Mai 2024 jährte sich das Massaker im Gewerkschaftshaus von Odessa zum zehnten Mal. Wie ist die aktuelle Lage in Odessa, das einen grossen russischen Bevölkerungsanteil hat? Gibt es eine Pro-Autonomie-Bewegung in Odessa und in anderen Regionen der Ukraine mit russischer Bevölkerungsmehrheit?

Seit 2014 sind viele Einwohner von Odessa in die Russische Föderation migriert. Im Donbass bildeten sie sogar das Rückgrat einiger bewaffneter Formationen der Republiken. Allgemein haben in den letzten Jahren Tausende von Menschen die Ukraine aus verschiedenen Gründen verlassen, sowohl aus politischen als auch aus wirtschaftlichen Gründen. In Odessa gibt es jetzt, mehr als überall sonst in der Ukraine, eine Zwangsrekrutierung – jeden Tag werden Männer auf der Strasse aufgegriffen und zwangsweise an die Front geschickt. Tausende von Männern fliehen täglich durch die Region Odessa nach Moldawien und Rumänien, so dass entlang der Grenze Hunderte von verlassenen Autos zu finden sind. Die ukrainischen Behörden heben nun entlang der Grenze Gräben aus und errichten Reihen von Stacheldrahtzäunen, um die Männer an der Flucht zu hindern, da es im Land fast niemanden mehr gibt, der kämpfen kann.

Russische und ukrainische Medien berichten gelegentlich über Sabotageakte an Eisenbahnen, die den Partisanen von Odessa zugeschrieben werden, aber ich kann das nicht belegen. In den Jahren der Unterdrückung und des rechtsextremen Terrors wurde jede noch vorhandene Oppositionsbewegung in der Ukraine tief in den Untergrund getrieben.

Die ukrainischen Sicherheitsdienste kreieren auch regelmässig «Köder» – vorgetäuschte Widerstandsgruppen, deren Aufgabe es ist, illoyale Bürger zu identifizieren.

Andererseits gibt es jetzt sowohl in Russland als auch in der EU Millionen von ukrainischen Bürgern in der Diaspora – Einwohner von Odessa, Kiew, Charkiw, Lemberg –, ehemalige Fahrer, die das Land für humanitäre Lieferungen verlassen und nie mehr zurückkehren, ehemalige Polizisten, übergelaufene Militärangehörige und einfache Bauern. Wenn wir die älteren Menschen ausklammern, die in der Regel nicht migrieren wollen, so gibt es heute mehr Ukrainer ausserhalb der Ukraine als innerhalb.

7. Wie ist die Situation der Menschen in der Ukraine, wie gestaltet sich ihr tägliches Leben? Was ist die vorherrschende Meinung gegenüber der Regierung des Landes, wie gross ist der Rückhalt, den Selenskyj noch hat?

Jeder Krieg bringt immer eine kleine Gruppe von Menschen mit sich, die von ihm profitieren, indem sie humanitäre Güter, Waffen und ausländische Hilfe stehlen. So hat sich ein kleiner Teil der ukrainischen Bevölkerung, der der Elite nahe steht, erheblich bereichert. In keinem anderen europäischen Land kann man an einem Tag so viele teure Autos sehen wie in Kiew. Für diese Bevölkerungsgruppe ist es wichtig, dass der Krieg ewig dauert.

Die in der Ukraine verbliebene Bevölkerung ist gespalten in die Kämpfenden und Angehörigen der Toten und Verwundeten auf der einen Seite und diejenigen, die vom Krieg nicht betroffen sind. Die Behörden manipulieren die Bevölkerung gekonnt, indem sie eine Gruppe gegen die andere ausspielen. Das wird als «Gerechtigkeit» dargestellt. Die ukrainischen Behörden wollen den Menschen weismachen, dass, wenn ein Teil der Bevölkerung gelitten hat, auch alle anderen leiden müssen. Solche Manipulationen helfen ihnen, die Unzufriedenheit im Volk von sich selbst abzulenken und insbesondere von ihrer Korruption.

Natürlich ist der Lebensstandard in der Ukraine deutlich gesunken, obwohl sie bereits das ärmste Land Europas war und mit dem benachbarten Moldawien um diesen Titel konkurrierte. Ukrainische Binnenvertriebene erhielten bis vor kurzem 50 Dollar pro Monat, mussten aber 40 Dollar für Licht und Wasser in den Unterkünften für Vertriebene bezahlen. In diesem Frühling wurden ihnen auch die 50 Dollar gestrichen. Die Behörden begründen die Kürzung der Zahlungen und die Schliessung von Krankenhäusern und Schulen mit militärischen Erfordernissen. Andererseits lebt die ukrainische Wirtschaft ausschliesslich von Auslandskrediten aus westlichen Ländern, die vergeben werden, damit Kiew frühere Kredite teilweise zurückzahlen kann.

Ukrainische Männer können jetzt nicht mehr ins Ausland gehen, aber sie können auch keine legale Arbeit aufnehmen (wenn sie es doch tun, werden sie sofort in die Armee eingezogen). Viele Menschen überleben nur dank inoffizieller Arbeit.

Meinungen zu Selenskyj persönlich und anderen ukrainischen Politikern sind schwer zu ermitteln, da die Menschen sich nicht trauen, Fragen zu beantworten. Die sozialen Dienste in der Ukraine richten sich ausschliesslich an die Vertreter der Behörden. Kürzlich ergab beispielsweise eine Umfrage des Internationalen Instituts für Soziologie in Kiew, dass die überwältigende Mehrheit der Ukrainer bereit ist, eine Erhöhung der Strompreise zu akzeptieren, obwohl die Menschen bereits Milliarden für Stromrechnungen schulden. Das zeigt nur, dass die Umfragen gefälscht sind. Die Leute haben Angst, in der Öffentlichkeit über politische und militärische Fragen zu diskutieren, und die ukrainischen Sicherheitsdienste schüchtern sie zusätzlich ein, indem sie täglich sogar Kinder festnehmen, die sich in irgendeiner Weise negativ über Selenskyj oder die NATO geäussert haben.

8. Was glauben Sie, warum die Selenskyj-Regierung Zivilisten nicht nur im Donbass, sondern auch in den russischen Grenzgebieten Belgorod, Kursk und Brjansk angreift, während die ukrainischen Streitkräfte auf dem Schlachtfeld kontinuierlich verlieren?

Das Angriffsziel der gesamten Operation – des Sturzes der ukrainischen Regierung im Jahr 2014 und des anschliessenden Krieges gegen den Donbass – ist nicht die Ukraine, sondern Russland. Der Westen legt Wert darauf, Unzufriedenheit, einen Putsch oder soziale Spannungen innerhalb der Russischen Föderation zu provozieren. Die ukrainischen Angriffe sind selbstmörderisch, aber es ist nicht das ukrainische Kommando, das entscheidet, wo man vorrückt, was man untergräbt, was man beschiesst. Die ukrainischen Soldaten handeln auf Anweisung westlicher Instrukteure.

Ukrainische Parlamentsmitglieder sagen sogar, dass ukrainische Soldaten für die heutige US-Hilfe künftig an weiteren Kriegen an der Seite der USA werden teilnehmen müssen. Kurz gesagt: Sie werden dorthin gehen, wohin das Pentagon sie schickt, um Widerstandsbewegungen in den Ländern des globalen Südens zu unterdrücken.

Tatsächlich ist die Ukraine zu einem privaten Söldnerunternehmen der NATO geworden, das nur noch existiert, um NATO-Gegner zu bekämpfen.

9. Wie stark ist der Einfluss der USA/NATO in der Ukraine spürbar – im Krieg wie auch in der Wirtschaft und im politischen Leben des Landes?

Die ukrainische Wirtschaft ist ruiniert, und das Land ist bis zum Hals beim IWF und anderen westlichen Gläubigern verschuldet. Die Ukraine wird niemals in der Lage sein, diese Schulden zu begleichen. Der NATO-Generalsekretär hat kürzlich gesagt, dass es keinen Sinn ergibt, die Ukraine wieder aufzubauen, wenn sie nicht gewinnt. Auch militärisch ist das Land vollkommen abhängig von den Waffenlieferungen der NATO-Länder. Ohne sie würde die ukrainische Armee nicht überleben. In der Tat betont die Russische Föderation in den Medien oft, dass sie gegen eine Stellvertreterarmee der NATO kämpft und somit den NATO-Block als solchen demilitarisiert. In der Ukraine kämpfen mehrere tausend Söldner aus NATO-Ländern. Es gibt auch einige Söldner aus Kolumbien, die im Neonazi-Batallion Carpathian Sich mitkämpfen.

Zudem treffen die ukrainischen Behörden alle wirtschaftlichen Entscheidungen auf Anraten der Botschaften westlicher Länder (vor allem der USA und Grossbritanniens, die übrigen NATO-Länder haben keinen Einfluss) – von der Höhe der Wassertarife bis zur Kürzung der Leistungen für Verwundete. Den Ukrainern wird erklärt, dass sie nicht in der Lage sind, sich zu weigern. Kurz gesagt: Wenn die Vereinigten Staaten ihnen ein Darlehen gewähren, werden sie die Gehälter der ukrainischen Lehrer in diesem Monat bezahlen; wenn nicht, werden sie ihnen keine Löhne zahlen oder ihnen raten, zu kündigen.

10. Wie stellen Sie sich das Ende des Krieges vor? Glauben Sie, dass die Ukraine zusätzlich zu den vier Oblasten, die bereits seit September 2022 zu Russland gehören, weitere Gebiete verlieren wird? Besteht die Möglichkeit, dass die NATO vollständig in den Krieg verwickelt wird und dass sogar die «nukleare Option» zum Einsatz kommt?

Ja, ich vermute, dass die Ukraine weitere Gebiete verlieren wird, obwohl ich glaube, dass sie als ein Staat mit exorbitanten Auslandschulden weiterbestehen wird. Putin sprach kürzlich von einer Pufferzone («Cordon sanitaire»), um die russischen Gebiete vor Beschuss und Invasion zu schützen, gefolgt von einer neuen Offensive in der Region Charkow im Mai 2024. Ich glaube nicht, dass die NATO als Block einen direkten Angriff auf ein nuklear bewaffnetes Land wagen wird, aber wenn ihr die ukrainischen Truppen ausgehen, werden vielleicht zusätzliche Truppen aus osteuropäischen Ländern und anderen US-Satelliten in die Ukraine entsandt. Was für den Westen auf dem Spiel steht, ist letztlich die Bewahrung seiner globalen Hegemonie und die Fähigkeit, den Ländern des globalen Südens seine Bedingungen zu diktieren.
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Sonderbeitrag für Orinoco Tribune von Saheli Chowdhury.

Saheli Chowdhury kommt aus Westbengalen, Indien, studiert Physik und schreibt aus Leidenschaft. Sie interessiert sich für Geschichte und Massenbewegungen auf der ganzen Welt, insbesondere im globalen Süden. Sie ist Mitarbeiterin von Orinoco Tribune.

Englischer Originaltext. Übersetzt mit Hilfe von DeepL.