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Dank dem britischen Wahlsystem fiel der Wahlsieg des neuen Premiers Keir Starmer, hier bei seiner ersten Rede vor Downing Street 10, in Mandaten deutlich aus. Gemessen an den Stimmen ergibt sich ein anderes Bild: Labour hat diesmal noch weniger Stimmen erhalten als bei der Wahlniederlage 2019.

Unter­haus­wahlen: Die Labour Party steht unter Druck von Links

Die Wahlen ins britische Unterhaus vom 4. Juli 2024 waren ein Wendepunkt. Zum ersten Mal eröffnet das Wahlresultat auf beiden Seiten des britischen Politikspektrums einen bedeutenden Raum. Nicht mehr aufgestellte Labour-Kandidaten haben als Unabhängige zum Teil spektakuläre Resultate erzielt und die offiziellen Labour-Kandidaten geschlagen. Kandidaten der Grünen, Unabhängige und der Workers Party sind nun in 57 Wahlkreisen die wichtigsten Herausforderer der Labour Party – eine Zeitbombe tickt unter der Mehrheit der neuen Regierung.

von RICHARD SANDERS1, 10. Juli 2024

Farages Reformpartei hat zwar nur fünf Sitze errungen, konnte jedoch 14,3 Prozent der abgegebenen Stimmen auf sich vereinen. Dies hat einige zu der Spekulation veranlasst, dass Grossbritannien nur noch ein paar Wahlgänge von Ergebnissen entfernt ist, wie man sie bereits in Italien und in den französischen Parlamentswahlen gesehen hat.

Der grösste Gewinner in Grossbritannien war jedoch die Linke. Die Grünen gewannen vier, während die unabhängigen Linken – darunter Jeremy Corbyn – fünf Sitze geholt haben. Zusammen mit George Galloways Workers Party erreichten sie fast 10 Prozent der Stimmen.

In Bristol Central hatte die Labour Party alles in die Waagschale geworfen – und das mit gutem Grund. Sie wurde dennoch vernichtend geschlagen. Die Schattenkulturministerin Thangam Debonnaire erhielt nur 33 Prozent der Stimmen, die Grünen 53 Prozent.

Wenn Bristol Central grün werden kann, warum dann nicht auch Bristol East, wo die Grünen schon jetzt 31 Prozent erhielten, Bristol North East, wo die Grünen 19 Prozent erhielten, Bristol North West, wo sie 17 Prozent erhielten, und Bristol South, wo sie 25 Prozent erhielten. Und wenn Bristol grün werden kann, warum dann nicht auch andere Städte?

Analysen zeigen, dass die Grünen 2019 nur in drei Wahlkreisen auf Platz zwei lagen. Heute sind es 40. In jedem einzelnen dieser Wahlkreise – 18 davon liegen in London – sind sie hinter Labour Zweiter.

Unabhängige oder Kandidaten der Workers Party liegen mittlerweile in 17 Wahlkreisen, die sich auf Gebiete mit hohem muslimischen Bevölkerungsanteil in Ost-London, Birmingham und Lancashire konzentrieren, hinter Labour auf dem zweiten Platz.

In vielen dieser Wahlen konnte sich Labour nur deshalb halten, weil sich die Stimmen der Opposition zwischen den Grünen und verschiedenen Unabhängigen aufteilten.

Das sind 57 Wahlkreise, in denen die Wähler nun wissen, dass eine Stimme für die Grünen oder einen Unabhängigen keine verlorene Stimme mehr sein muss, sondern echte Wirkung haben kann.

In fast allen dieser Wahlkreise ist die Konservative Partei irrelevant.

Hohler Sieg von Labour

Der Sieg der Labour Party auf nationaler Ebene war zwar deutlich, aber kaum nachhaltig. Eine vereinte Rechte wird zweifellos grosse Teile der Sitze in ländlichen und vorstädtischen Gebieten bei nächster Gelegenheit zurückgewinnen. Labour wird dann an zwei Fronten kämpfen müssen.

Bemerkenswert ist, dass dies völlig unnötig war.

Die Wahlstrategie der Labour-Partei, die sie im April 2023 in ihrem Dokument «Red Shift: Labour’s Path to Power» skizziert, basierte auf der Annahme, dass die sogenannte «aktivistische Linke» und die «zentristischen Liberalen» für Labour als gesetzt angesehen werden können. Ihre Stimmen waren in den städtischen Wahlbezirken in grosser Mehrheit. Der Schwerpunkt der Kampagne lag auf der «Patriotic Left» in den Midlands und den «unzufriedenen Vorstädtern».

Doch Labour vernachlässigte nicht nur seine traditionellen Wähler. Die überheblichen jungen Apparatschiks um Starmer taten ihr Möglichstes, um die Linke zu provozieren, zu verhöhnen und zu demütigen.

Dass dem amtierenden Bürgermeister Jamie Driscoll im Nordosten im Juni 2023 die Kandidatur für ein neues Mandat verwehrt wurde, war ein früher Hinweis auf die Machenschaften der Apparatschiks. Ihren Höhepunkt fanden sie in der grundlosen Demütigung gegenüber Faiza Shaheen. Nachdem die Wissenschaftlerin und in England geborene Tochter von Einwanderern bei den Parlamentswahlen von 2019 hinter dem langjährigen konservativen Amtsinhaber den zweiten Platz ergattern konnte, wurde sie 2022 von der Lokalsektion Labours erneut als Wahlkreiskandidatin aufgestellt. Als nun aber die kürzlichen Wahlen ausgeschrieben wurden, setzte ihr die Clique aus Starmers Hauptquartier eine andere Kandidatin vor die Nase, obwohl Shaheen in ihrem Wahlkreis Chingford und Woodford Green mit dem Wahlkampf längst begonnen hatte.

Der Umgang mit schwarzen und muslimischen Parteimitgliedern war so krass , dass man sich manchmal des Eindrucks nicht erwehren kann, die Partei sei geradezu auf die Stimmen rassistischer Wähler aus.

Nach 2019, als der Parteivorsitz von Corbyn an Starmer überging, war die Linke am Boden und demoralisiert; man hatte wenig Lust auf einen Guerillakrieg gegen die neue Führung. Die Brutalität, mit der Corbyn und seine Anhänger behandelt wurden, hatte einen demonstrativen Charakter. Ziel war es, sich bei den einfachen Wählern beliebt zu machen, von denen die Strategen offensichtlich glaubten, dass sie die Linke genauso verabscheuen wie sie selbst.

Die nackten Zahlen beweisen nun auf dramatische Weise, dass sie Unrecht haben.

Schrumpfende Mehrheiten

Bei den Unterhauswahlen 2019 hatte Labour unter Jeremy Corbyn eine heftige Niederlage erlitten. 2017 hatte Labour mit ihm noch fast 13 Millionen Stimmen erhalten. Aber selbst beim Misserfolg von 2019 hatte er für Labour über 10 Millionen Stimmen geholt – verglichen mit nur 9,7 Millionen Stimmen für Starmers Labour dieses Mal, allerdings bei einer deutlich geringeren Wahlbeteiligung.

Als Starmer 2019 unter Corbyns Führung antrat, erhielt er in seinem eigenen Wahlkreis 36 641 Stimmen. Dieses Mal sank seine Stimmenzahl auf 18 884. Im benachbarten Wahlkreis Islington North erhielt Jeremy Corbyn als Unabhängiger 24 120 Stimmen.

Es mag jetzt wie ein Traum klingen, das zu sagen. Aber Starmers überaus beeindruckender unabhängiger Wahlkreisgegner, der ehemalige ANC-Abgeordnete Andrew Feinstein, könnte ihn beim nächsten Mal möglicherweise besiegen, wenn er eine Wahlverbindung mit den Grünen erreichen kann.

Wes Streeting, heute Gesundheitsminister und möglicher Nachfolger Starmers, konnte sich nur knapp gegen Leanne Mohamad – eine junge britisch-palästinensische Frau – durchsetzen und ist äusserst angeschlagen.

Und Faiza Shaheen, die als Unabhängige in Chingford und Woodford Green antrat, lag weniger als 100 Stimmen hinter dem Labour-Kandidaten zurück, wodurch sich die Stimmen teilten und dem erzkonservativen Iain Duncan Smith ermöglichte, seinen Sitz zu behalten.

Die Labour-Partei wird bei der Analyse dieser Misserfolge wohl auf Gaza als einmaligen Faktor verweisen, begleitet von offen rassistischen Unterstellungen, und die durch dieses Thema mobilisierten Stimmen stigmatisieren. Doch Gaza hat dazu beigetragen, eine breitere Unzufriedenheit und Entfremdung zu wecken.

Es gibt nur eine Bevölkerungsgruppe, die zweifellos dem Selbstbild der Labour-Rechten als die Erfolgreichen im Land zustimmt – die führende Journalistenkaste der nationalen Medien in London. Sie und das politische Establishment der Mitte bilden einen kuscheligen Klub, gefährlich weit vom brodelnden Kessel wütender Wählerschichten entfernt.

Die britische Politik und der britische Journalismus brauchen dringend einen Generationswechsel.
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1 Richard Sanders ist Filmemacher, Journalist und Autor. Er war Produzent des zweiten Films der Labour Files-Reihe von Al Jazeera, der sich mit der Antisemitismuskrise beschäftigte. Der Text wurde, um einige Informationen ergänzt, aus Declassified UK übernommen. Übersetzt mit Hilfe des Webbrowsers Chromium.