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Chinas langer Marsch in die Moderne

China polarisiert. Grosses Staunen über die rasante Entwicklung der Volksrepublik einerseits – Misstrauen, Furcht und Vorurteile, auch als Folge der Verbreitung sinophober Narrative durch westliche Meinungsfabriken, anderseits. So oder so, der Wissensdurst, aber auch das Wissensdefizit über das Reich der Mitte ist gewaltig.

Eine empfehlenswerte Möglichkeit, daran zu arbeiten, ist das Buch «Chinas langer Marsch in die Moderne» von Beat Schneider20, als Taschenbuch im Verlag PapyRossa? erschienen. Denn der Autor hat sich mit dem Buch zur Aufgabe gemacht, den vielen zentralen Fragen zur Volksrepublik China nachzugehen. Die allerzentralste dabei ist wohl die, wie es das Riesenland schaffen konnte, in wenigen Jahrzehnten vom armen Entwicklungsland zur neuen Weltmacht aufzusteigen und dabei Hunderte Millionen seiner Einwohner der Armut zu entreissen.

Die Antwort ist nicht allzuschwer, wenn man sie in der Geschichte Chinas und seiner 5000-jährigen hochstehenden Zivilisation sucht, die einzig durch die westlichen Kolonisatoren im «Jahrhundert der Demütigung» barbarisch zerstört und fast zugrunde gerichtet wurde. Nur der Rückgriff auf diese Zivilisation, verbunden mit ausgeprägtem kollektiven Denken, das auf der konfuzianisch geprägten Kultur des Sowohl-als-Auch beruht und durch den Sozialismus abgesichert ist, machte das möglich. Schneider benutzt dazu die eindrückliche Metapher vom Schwungrad einer Maschine. Wie dieses nach dem Ausschalten des Motors noch lange weiter seine Umdrehungen macht, hatte sich das Schwungrad der alten chinesischen Kultur auch nach der Zerstörung der Gesellschaft durch die westlichen Kolonisatoren weiter gedreht. Nach der Revolution von 1949 brauchte man dem Schwung nur wieder neue Energie zukommen zu lassen, so dass damit das neue China in kurzer Zeit wieder aufgebaut werden konnte.

Beat Schneider weicht keiner Frage aus, auch nicht den Fragen nach Menschenrechten, die immer wieder aufs Tapet gebracht werden. Ist China wirklich auf dem Weg zum Sozialismus, und wieso reagieren viele westliche Linke mit Ignoranz? Was bedeutet überhaupt «Sozialismus chinesischer Prägung»? Wie emanzipieren sich die chinesischen Frauen? Menschenrechte, Uiguren und digitale Überwachung – wie berechtigt sind die Vorwürfe im Westen. Ist Xi Jinping wirklich ein zweiter Mao Zedong? China und der Westen – wer bedroht wen? Droht die Gegnerschaft der USA in einen heissen Krieg zu münden? Schneider erteilt seine Antworten aus einem konsequent nicht-eurozentrischen Blickwinkel, und sie widersprechen dem üblichen China-Bashing. Sie sind ohne Apologetik, beruhen auf historischen Tatsachen, auf Beobachtungen, kritisch-wissenschaftlichen Theorien und sind auf eine breite Quellenbasis gestützt.

20 Thesen

Der Autor hat seine Ausführungen in 20 «nicht-eurozentrische Thesen» gegliedert. Dies macht den Stoff sehr übersichtlich. Das Buch eignet sich so hervorragend als Nachlagwerk.

1. Kapitel
5000-jährige Zivilisation
These: Das 5000-jährige China ist eines der größten Phänomene der Geschichte

2. Kapitel
Sinophobie: Der westliche China-Komplex
These: China ist neben vielem anderen eine Projektionsfläche für westliche Probleme

3. Kapitel
Die Heterotopie China: Erkenntnisprobleme
These: China ist eine Kultur des Sowohl-als-auch

4. Kapitel
Sowohl Moderne als auch Tradition
These: China spielt auf beiden Klaviaturen, auf derjenigen der Moderne und derjenigen der Tradition

5. Kapitel
Die «Hundert Jahre der Demütigung»
These: Die «Hundert Jahre der Demütigung» waren eine historische Anomalie und sind tief ins kollektive Gedächtnis Chinas eingebrannt

6. Kapitel
Die antikoloniale Revolution und die VRCh
These: In China ist die antikoloniale Revolution gelungen, anders als in den meisten Ländern des Globalen Südens

7. Kapitel
Lehren aus den ersten Jahrzehnten
These: China hat aus den Fehlern der ersten Jahrzehnte gelernt, dass Sozialismus nicht gerechte Verteilung von Armut ist

8. Kapitel
Reform und Öffnung – Nachholende Entwicklung
These: Der Weg zum Sozialismus geht im Entwicklungsland China nur über eine nachholende Entwicklung der Produktivkräfte, und diese ist mit Risiken verbunden

9. Kapitel
China und die Frauen
These: Vom tiefgreifenden Wandel der «Reform und Öffnung» haben die chinesischen Frauen profitiert – Patriarchale Gesinnungen und Machtstrukturen bestehen dennoch weiter

10. Kapitel
Der Traum von Erneuerung und von einer modernen sozialistischen Nation
These: Die Ära Xi Jinping ist die dialektische Synthese aus der Ära Mao Zedong und der Ära Deng Xiaoping

11. Kapitel
Das größte Infrastrukturprojekt der Weltgeschichte
These: Die Neuen Seidenstraßen sind die Globalisierung made in China

12. Kapitel
Neue Weltmacht – Neue Weltordnung?
These: Der Aufstieg der neuen Weltmacht könnte zu einer neuen, multipolaren Weltordnung führen. Heute findet ein gefährlicher Zusammenbruch der Weltordnung statt

13. Kapitel
USA -China: Die Geschichte eines zunehmenden Konflikts
These: Das Verhältnis der USA zu China besteht aus Kooperation und gefährlicher Konfrontation

14. Kapitel
China und die Umwelt
These: China ist sowohl Umweltverschmutzer als auch auf dem Weg zum ökologischen Vorreiter

15. Kapitel
Westlicher Albtraum: Sozialismus und Kommunismus
These: Vom Kapitalismus gefürchtet, für die westliche Linke ein Problem: China auf dem Weg zum Sozialismus

16. Kapitel
Westlicher Albtraum: Demokratie und Menschenrechte
These: Es gibt weltweit verschiedene Modelle der Volksherrschaft, und die Menschenrechte sind unter anderem eine Frage der gesellschaftlichen Entwicklung

17. Kapitel
Westlicher Albtraum: Digitale Überwachung
These: Das chinesische Sozialkredit-System stellt für den Westen den Horror der Überwachung dar, in China gilt es als ein breit akzeptierter Fortschritt

18. Kapitel
Westlicher Albtraum: Der Uiguren-Konflikt
These: Der Uiguren-Konflikt – der uigurische Terrorismus/Dschihadismus wird meistens ausgeklammert – dient als Höhepunkt des westlichen China-Bashings

19. Kapitel
China und die Corona-Krise
These: Covid-19 hat den Graben zwischen dem Globalen Süden und dem Globalen Norden vertieft. Chinas Corona-Strategie hat das Land zu einem starken Partner des Südens gemacht

20. Kapitel
Die Thukydides-Falle und ein neuer Weltkrieg?
These: Ein Krieg der westlichen Mächte gegen China wäre der erste Weltkrieg der ehemaligen Kolonialmächte gegen die Emanzipation des Globalen Südens

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20 Beat Schneider, 1946, emeritierter Professor. Lehrte an der Hochschule der Künste Bern (HKB) und ist einer sozialgeschichtlich ausgerichteten Kultur- und Kunstgeschichte verpflichtet. Zahlreiche Bücher zur Kultur-, Kunst- und Designgeschichte.