
(Foto: Luka Tomac /CC BY-SA 2.0)
Nigeria, Shell und der Westen: eine unappetitliche Geschichte
Ein neuer Bericht von Amnesty enthüllt, dass der nigerianische Präsident Bola Tinubu Proteste gewaltsam unterdrückte und aussergerichtliche Morde verübte. Tinubu, ein überzeugter Verbündeter des Westens, schloss 2023 einen Milliardenvertrag mit den Ölgiganten Shell und Eni ab. Öl hin oder her: Hier wird auf jeden Fall kräftig eingefeuert.
von FELIX KUMPS, De Wereld Morgen
Die unschöne Geschichte von Shell in Nigeria reicht bis in die Kolonialzeit zurück. Wie andere afrikanische Kolonien war das Land eine Drehscheibe für Unternehmen aus dem «Mutterland». Die britische Eroberung Nigerias wurde von der Royal Niger Company (später Teil von Unilever) vorbereitet, einem Handelsunternehmen, das den Exportmarkt des Landes monopolisierte. Das Unternehmen verlangte von den örtlichen Händlern überhöhte Preise und Konditionen. Noch bevor Nigeria offiziell dem Britischen Empire angegliedert wurde, war die britische Allmacht über nigerianische Rohstoffe bereits eine Tatsache. Doch damals wurde mit Palmöl mehr verdient als mit der noch schmutzigeren Ölart, nach der Shell bereits fieberhaft suchte.
Eine dauerhafte Kolonisierung
Das änderte sich in den 1950er Jahren. Erstmals wurden im Nigerdelta ernsthafte Ölvorkommen entdeckt. Mit Unterstützung des Kolonialregimes setzte die Ausbeutung dieser Reserven durch britische Ölkonzerne ein. Shell und BP begannen 1958, am Vorabend der Dekolonisierung, mit der Ölförderung. Natürlich war es den Briten ein grosses Anliegen, dass ein unabhängiges Nigeria britische Einflusszone bleibt – oder anders gesagt, dass politische Unabhängigkeit nicht mit wirtschaftlicher Unabhängigkeit einhergehen würde. Auch die amerikanischen Konkurrenten profitierten davon, dass der nigerianische Ölsektor für westliche Betreiber offen blieb.
Und es gelang ihnen. Seit 1960 nimmt die Präsenz von Unternehmen wie Shell, BP, (Exxon)Mobil und Chevron kein Ende. Die Amerikaner eroberten einen immer grösseren Platz auf dem Markt, obwohl Shell weiterhin der dominierende Akteur blieb. Aber ob es die pro-britische Regierung kurz nach der Unabhängigkeit war, die Militärdiktaturen, die das Land von 1966 bis 1999 verwüsteten, oder die fragile Republik der letzten Jahrzehnte – ein Faktor war immer konstant: Es waren nie die Nigerianer, die die Früchte ernteten, welche der Reichtum ihres Bodens hervorbrachte. Shell und Co. verstanden es schon immer, einen Deal mit lokalen klientelistischen Eliten zu machen, die gerne die Tür für masslose Bohrungen öffneten. Das bedeutet auch, dass sich die Wirtschaft nie diversifiziert hat, sodass Öl und Gas heute 91,1 Prozent der Exporte ausmachen.
Während westliche Aktionäre im Schlaf reich werden, bleibt die Bevölkerung des Landes mit den zweitreichsten Öl-Vorkommen Afrikas weiterhin von Armut geplagt. «Die Wirtschaft» ist gewachsen, aber das macht sich vor allem bei einer kleinen oberen Schicht bemerkbar. Das Pro-Kopf-BIP war in den 1990er Jahren kaum höher als in den 1970er Jahren; es wuchs nach dem Sturz der Diktatur, hat sich aber seit 2014 bereits halbiert. 30,9 Prozent der 223,8 Millionen Nigerianer leben in extremer Armut und 63 Prozent leiden unter multidimensionaler Armut (in ländlichen Gebieten sogar bis zu 72 Prozent). Laut Oxfam leiden fünf Millionen Nigerianer an Hunger, während die fünf reichsten Männer des Landes zusammen 29,9 Milliarden Dollar besitzen, genug, um die extremste Armut zu beenden. 94 Prozent der nigerianischen Frauen – die die grosse Mehrheit der Landarbeiter ausmachen – sind Analphabetinnen.
Kann in einem solchen Kontext wirklich gesagt werden, die Kolonisierung habe jemals aufgehört? Der nigerianische Schriftsteller und Sozialist Aj. Dagga Tolar fasst die Situation wie folgt zusammen:
«Die Tatsache, dass Nigeria die Heimat des reichsten Milliardärs des Kontinents und gleichzeitig die Armutshauptstadt der Welt ist, hängt mit dem Wachstum des Kapitalismus auf internationaler Ebene zusammen. Kolonialismus und Imperialismus auf dem afrikanischen Kontinent waren Versuche des europäischen Kapitals, Rohstoffe und Märkte zur Ausbeutung zu finden. Man würde erwarten, dass das Ende der Kolonialherrschaft auch das Ende dieser Situation bedeuten würde. Stattdessen hat sich eine lokale Elite als Vertreter des internationalen Kapitals durchgesetzt und die Kontrolle über die gesamte afrikanische Gesellschaft übernommen.»
1,5 Millionen Tonnen Öl im Nigerdelta
Nicht nur die Finanzen Nigerias leiden unter der Öltyrannei. Die Folgen der jahrzehntelangen Ölförderung für das Klima sind unabsehbar. Wer hat nicht schon einmal Bilder von zerstörten Flussbetten, ekelhaft glänzenden Ölsümpfen, in Erdöl watenden Dorfbewohnern und ertrinkenden Vögeln gesehen? Allein in den 20 Jahren zwischen 1976 und 1996 verursachte Shell Tausende von Ölunfällen im Nigerdelta, bei denen insgesamt zwischen 258 000 und 328 000 Tonnen Öl in die Natur gelangten. Die gigantischen Ölkatastrophen von 2001 und 2011 (Shell) sowie die von 1998 und 2010 (ExxonMobil) sind bekannt, doch die Website des Nigerian Oil Spill Monitor dokumentiert jedes Jahr Hunderte von Ölunfällen im Land. Es wird geschätzt, dass seit 1958 etwa 13 Millionen Barrel (1,5 Millionen Tonnen) Öl in das Nigerdelta gelangt sind.
Das bleibt, gelinde gesagt, nicht folgenlos. Die Lebenserwartung im Nigerdelta beträgt 41 Jahre (10 Jahre weniger als der Landesdurchschnitt). Hauterkrankungen, Atemwegserkrankungen, Nierenversagen, Osteoporose, Krebs und andere schwere Krankheiten sind an der Tagesordnung. Es gibt fast kein Trinkwasser und immer mehr Kinder in den verschmutzten Gebieten sind unterernährt .
Wenn die Bewohner des Deltas nicht sterben, weil das Öl ihre Körper angreift, dann sterben sie, weil ihr mageres Einkommen versiegt. Austretendes Öl – oft aufgrund vernachlässigter Pipelines – vergiftet Ackerland, Fischteiche und Mangrovenwälder. Ganze Dörfer wurden für unbewohnbar erklärt. Eric Dooh, ein örtlicher Arbeiter, der jahrelang zusehen musste, wie eine Ölpest sein Dorf zerstörte, ohne dass Aufräumarbeiten eingeleitet wurden, sagte: «Wir haben das Öl gegessen, getrunken und eingeatmet.»
Es ist undenkbar, dass die Dinge, mit denen Shell und ExxonMobil in Nigeria durchkommen, auf westlichem Boden jemals toleriert würden. Aber die Ölkonzerne selbst sind nicht so besorgt über ihre verrotteten Pipelines. Im Jahr 2010 erzählte der Dorfvorsteher einer durch die jüngste Ölkatastrophe völlig zerstörten Gemeinde, dass Shell sofort über das Leck informiert worden sei, das Unternehmen jedoch sechs Monate zuwartete, bevor es Massnahmen ergriffen habe. Shell schiebt regelmässig die gesamte Verantwortung auf lokale Saboteure und Ölzapfer. Das Unternehmen hat wiederholt über Säuberungs- und Sanierungsmassnahmen gelogen, die in Wirklichkeit nicht stattgefunden haben. Shell kann sich in Nigeria – angesichts der laxen Umweltgesetzgebung, der weit verbreiteten Korruption und der eigenen Lobbymacht – sicher sein, dass es keine rechtliche Verantwortung für die Verschmutzung übernehmen muss.
Ken Saro-Wiwa: von Shell hingerichtet
Nicht jeder schaut tatenlos zu. Die Ogoni und Iko, ethnische Gruppen im Nigerdelta, hatten genug von der Zerstörung und Verwüstung ihres Lebensraums im Dienste westlicher Milliardäre. Während der Jahrzehnte der Militärdiktatur organisierten ihre Gemeinden friedliche Proteste und sammelten Petitionen gegen Shell und Co. 1987 schickte das Militärregime Paramilitärs zu einer solchen friedlichen Demonstration. Sie zerstörten 40 Häuser und machten 350 Familien obdachlos.
Im Schoss dieser Protestbewegung entstand 1990 die Bewegung für das Überleben des Ogoni-Volkes (MOSOP). MOSOP zielte sowohl auf die Ausbeutung und Verschmutzung der Natur als auch auf die Ausplünderung der lokalen Bevölkerung ab. Die Bewegung, die die Tradition des gewaltlosen Protests aufnahm, sah sich bald noch härteren Repressionen ausgesetzt als frühere Demonstrationen. Tausende Ogoni wurden ermordet, vergewaltigt, verhaftet oder misshandelt. Der Widerstand führte jedoch dazu, dass Shell 1993 beschloss, Ogoniland zu verlassen.
Das Aushängeschild von MOSOP war Ken Saro-Wiwa, Aktivist und gefeierter Fernsehmacher, der in den 1980er Jahren die äusserst beliebte Sitcom Basi and Company geschrieben und produziert hatte. In dieser Sendung persiflierte er die Korruption der nigerianischen Elite. Ab 1990 widmete er sich voll und ganz den sozialen und ökologischen Kämpfen – eine Entscheidung, die er mit dem Leben bezahlen sollte. Nach mehreren Festnahmen wurden Saro-Wiwa und acht Mitstreiter (zusammen bekannt als die Ogoni Nine) von einem Sondergericht des Militärs wegen falscher Mordvorwürfe zum Tode verurteilt. Die Aktivisten wurden am 10. November 1995 gehängt.
Untersuchungen haben gezeigt, dass Shell an der Hinrichtung der Ogoni Nine beteiligt war. In einem Amnesty-Bericht aus dem Jahr 2017 wird beschrieben, wie Shell Nigeria bei privaten Treffen mit dem Militärdiktator Abacha dazu drängte, gegen Aktivisten vorzugehen. Bereits 1993 kam es zu einer tödlichen Schiesserei, als Shell das Regime aufforderte, die Armee gegen Demonstranten einzusetzen. Durchgesicherte Dokumente belegen, dass das Unternehmen sogar aktiv an der Planung von Razzien gegen Dörfer beteiligt war, die einer rebellischen Haltung gegenüber der Ölförderung verdächtigt wurden.
Die Verhaftung und Hinrichtung der Ogoni Nine folgte einem Aufruf des Unternehmens, hart gegen «das Problem der Ogonis und Ken Saro-Wiwa» vorzugehen. Personen, die im Prozess gegen Saro-Wiwa aussagten, gaben später zu, dass sie vom Anwalt des Ölkonzerns mit Geld und Jobangeboten bei Shell im Austausch für falsche Aussagen bestochen worden seien. Sechs Tage nach den Hinrichtungen verkündete Shell zufrieden, dass es 4,5 Milliarden US-Dollar in ein neues Gasprojekt investieren werde.
Ken Saro-Wiwas Familie versuchte jahrelang, Shell vor Gericht zu bringen. Im Jahr 2009 einigte sich das Unternehmen schliesslich mit ihr auf 15,5 Millionen US-Dollar. Shell-Sprecher behaupteten weiterhin, sie hätten nichts mit den Hinrichtungen zu tun und nannten die Einigung eine «humanitäre Geste».
Es ist gut zu erkennen, dass multinationale Konzerne wie Shell sich im Süden nicht bloss unverantwortlich verhalten. Sie sind nicht passiv oder distanziert; sie finanzieren gezielt Todesschwadronen, um Aktivisten, Gewerkschaftsmitglieder und andere Unruhestifter zu eliminieren, die ihre Gewinnmargen gefährden.
Der Korruptionsfall: viel Korruption, wenig Fall
Blicken wir zurück auf das Jahr 2011, ein Jahr, in dem Shell Nigeria wieder einmal eine wunderbare Zurschaustellung von Arroganz an den Tag legte. Shell wollte mit dem italienischen Ölkonzern ENI einen Deal zur Übernahme des lukrativen Ölblocks OPL 245 abschliessen. Die Unternehmen zahlten 1,3 Milliarden US-Dollar an Dan Etete, den ehemaligen Ölminister unter der Militärdiktatur, der in Nigeria wegen Geldwäsche verurteilt wurde. Der größte Teil dieses Geldes verschwand in den Taschen von Etete und anderen Politikern. Die Hälfte des Betrags wurde sogar in Bargeld umgewandelt, um ihn auszahlen zu können. Die NGO Global Witness spielte eine entscheidende Rolle bei der Aufdeckung des Bestechungsfalls.
Warum musste Shell einen Politiker für ein Projekt bestechen, das ohnehin auf dem Tisch lag? Global Witness fand heraus, dass die Bedingungen des Vertrags von 2011 der nigerianischen Regierung 6 Milliarden Dollar weniger einbrachten, als im ursprünglichen Vertrag (2003) für OPL 245 vorgesehen war. Mit anderen Worten: Shell zahlte viel Geld an einen verurteilten Geldwäscher, um eine Summe aus der Staatskasse abzuschöpfen, die doppelt so hoch war wie der Gesundheits- und Bildungshaushalt des Landes zusammen.
Diesmal schien es Shell jedoch mit seiner gut geschmierten Hand übertrieben zu haben. Zum Zeitpunkt des Deals wurde Nigeria von Präsident Goodluck Jonathan regiert, der einen Teil des Bestechungsgeldes selbst angenommen haben soll. Sein Nachfolger war jedoch mit der Bestechungsaktion weniger zufrieden und forderte eine gerichtliche Untersuchung der beiden Unternehmen. Italien folgte diesem Beispiel: Shell und ENI wurden vor einem Mailänder Gericht angeklagt.
Im Jahr 2017 gab Shell die Bestechung zu. Doch 2021 wurden beide Unternehmen in Mailand mangels Beweisen freigesprochen. Diese waren zwar reichlich vorhanden, aber die italienischen Richter akzeptierten nur Videoaufnahmen und legten damit die Latte sehr hoch. Der Freispruch löste einen Sturm der Kritik aus. Korruptionswächter haben darauf hingewiesen, dass ENI im Rahmen des Prozesses privilegierten Zugang erhalten habe, um hochrangige EU-Beamte für mehr Investitionen in fossile Brennstoffe zu gewinnen.
Der Prozess ist abgeschlossen, aber Shell hat noch einen zweiten Grund, vor Freude zu springen. Im Jahr 2023 wurde Bola Tinubu als Präsident vereidigt. Letzterer macht keinen Hehl aus seinem Ehrgeiz, die Beziehungen zum Westen sowohl politisch als auch wirtschaftlich zu stärken. Ein Aspekt davon ist, dass Tinubu den OPL-245-Deal wieder auf den Tisch gebracht hat. Im Februar 2024 wies er den nigerianischen Generalstaatsanwalt und mehrere Ministerien an, alle rechtlichen Ermittlungen gegen Shell in ihrem eigenen Land einzustellen. Im Dezember 2023 wurde ausserdem bekannt gegeben, dass Shell 6 Milliarden US-Dollar in andere Projekte investieren wird, vor allem in das Bongo-Ölfeld.
Es muss gesagt werden, dass der Deal rund um OPL 245 nicht nur den ideologischen Visionen von Tinubu entspricht, sondern offenbar auch dazu diente, seine Brieftasche zu füllen. ENI-Vermögenswerte wurden an die Firma von Tinubus Cousin übertragen – in Zusammenarbeit mit Gilbert Chagoury, Milliardär, enger Freund des Präsidenten und (wie Etete) verurteilter Geldwäscher. Der Kreislauf von Klientelismus und Bestechung beginnt einfach von neuem.
Ein Land in Finsternis
Wenn der Westen Nigeria in eine untergeordnete Position drängt, geschieht dies nicht nur durch Unternehmen wie Shell, sondern auch auf globalerer Ebene durch Institutionen wie den Internationalen Währungsfonds (IWF). Über die Auswirkungen der Strukturanpassungsprogramme (SAP), die der IWF seit den 1980er Jahren Krisenländern auferlegt hat, wurde viel geschrieben. Kurz gesagt bedeuten die SAP, dass Länder im Austausch für drastische Wirtschaftsreformen einen Kredit erhalten. Dazu gehören Deregulierung, Währungsabwertung, Kürzungen und Privatisierungen. Das Ergebnis: eine noch schwächere Position gegenüber dem Westen, eine Öffnung der Wirtschaft für multinationale Konzerne und die Zerstörung lebenswichtiger Dienstleistungen wie der Gesundheitsversorgung.
Nigeria trat 1986 einem SAP bei. In den folgenden Jahren privatisierte das Land Dutzende Unternehmen und schaffte viele Vorschriften ab. Auch hier waren die Ergebnisse katastrophal: eine Explosion von Analphabetentum und Arbeitslosigkeit, eine geringere Lebenserwartung, viel mehr Kriminalität und sogar eine Welle von Todesfällen aufgrund des Verkaufs abgelaufener Medikamente in Privatkliniken. Kein Geringerer als Ken Saro-Wiwa hat bereits über das Chaos geschrieben, das der IWF und die Weltbank in Ländern wie Nigeria angerichtet haben. Die Weltbank, argumentierte Saro-Wiwa, «muss akzeptieren, dass ihr wahres Folterinstrument ihre Betonung des Wachstums und ihre ökonomischen Theorien auf Kosten des menschlichen Wohlergehens sind.»
In seinem Buch Planet of Slums (2006) widmete der Autor Mike Davis ein Kapitel der Rolle der SAPs bei der weltweiten Ausbreitung der Slums seit den 1980er Jahren. Ein trauriges Beispiel dafür sind die [eigentlich] unbewohnbaren Gebiete, in denen 70 Prozent der Einwohner von Lagos leben. Doch bis heute lähmen die neoliberalen Rezepte des IWF den Süden unter dem Banner des Wirtschaftswachstums.
Präsident Bola Tinubu scheint entschlossen, diesen Kurs nicht nur fortzusetzen, sondern zu intensivieren. Seit den 1970er Jahren können sich die Nigerianer auf eine Treibstoffsubvention verlassen, die den Preis einer Reihe von Produkten, darunter auch Erdöl, reguliert. Eine der ersten politischen Massnahmen von Tinubu war jedoch die Abschaffung dieser Subvention. Mehrere Analysten, darunter der nigerianische Anwalt Itse Sagay, sehen darin einen Kniefall vor der langjährigen Forderung des IWF, bei den Grundbedürfnissen zu sparen, obwohl der Fonds selbst bestreitet, hinter dieser Entscheidung zu stehen. Allerdings hat der IWF offen die Abschaffung der Stromsubventionen in Nigeria gefordert.
Auf jeden Fall sind die Folgen für die einfachen Nigerianer katastrophal. Nicht nur der Benzinpreis ist um 500 Prozent gestiegen, sondern auch die Lebensmittelpreise sind in die Höhe geschossen. Nigeria befindet sich derzeit in einer Krisensituation und viele Einwohner sind vom Hungertod bedroht. Seit Februar schwankt die Inflation zwischen 32 und 34 Prozent. Erschwerend kommt hinzu, dass 60 Prozent der nigerianischen Haushalte auf Strom aus privaten Ölgeneratoren angewiesen sind. Tinubu hat daher nicht nur im übertragenen Sinne, sondern im wahrsten Sinne des Wortes einen grossen Teil des Landes in Dunkelheit gestürzt.
Weiter oben haben wir die Sabotage von Pipelines durch Ölförderer erwähnt. Es wäre nicht verwunderlich, wenn diese Art von Sabotage jetzt, da weite Teile des Landes ohne Öl sind, viel häufiger vorkäme.
Auch in anderen Bereichen folgt Tinubu den IWF-Rezepten. Auf Wunsch des IWF wandelte er die nigerianische Währung, die Naira, in eine frei schwankende Währung um, was zu einem starken Wertverlust führte. Die Stromsubventionen wurden noch nicht vollständig abgeschafft, aber Tinubu hat die Tarife inmitten der Krise kürzlich um fast 300 Prozent erhöht. Von dieser Preiserhöhung sind auch medizinische Dienstleistungen betroffen.
Öl ins Feuer
Vor dem Hintergrund all dessen ist es kaum verwunderlich, dass es zu massiven Protesten kam. Unter dem Motto #EndBadGovernance gingen Nigerianer im August 2024 massenhaft auf die Strasse. Am 10. August zog eine Demonstration in Abuja eine Million Teilnehmer an.
Tinubu nutzte die Protestbewegung, um zu verdeutlichen, dass er nicht nur mit dem Privatisierungsdrang, sondern auch mit der Gefühllosigkeit des Militärregimes mithalten konnte. Aus einem aktuellen Amnesty-Bericht geht hervor, dass die Proteste brutal unterdrückt wurden. Mindestens 24 Menschen wurden aussergerichtlich hingerichtet, darunter ein fünfjähriges Kind. Ein weiterer Minderjähriger, Ismail Muhammad (16), wurde von der Polizei gejagt und durch eine Tür erschossen. Die Polizei nahm mindestens 1200 Aktivisten fest und im ganzen Land fanden undurchsichtige Schauprozesse statt. Nach nigerianischem Recht ist die Inhaftierung von Personen ohne Gerichtsverfahren auf 14 Tage begrenzt. Im August erlaubte ein Gericht jedoch, diese Frist für festgenommene Demonstranten auf 60 Tage zu verlängern.
Eigentlich ist es schockierend, wie wenige von dieser Protestbewegung oder ihrem Untergang gehört haben. Aus fast jedem Protest in Kuba oder im Iran macht die westliche Presse eine grosse Sache. Als Kuba im Jahr 2021 gegen Proteste vorging und Demonstranten verhaftete, wusste es jeder. Die EU und Kanada sprachen sich offiziell gegen die Repression aus und die USA nutzten dies, um neue Sanktionen zu verhängen. Aber wenn ein westlicher Verbündeter das Gleiche tut und obendrein noch vierundzwanzig Menschen illegal hinrichtet, gibt es kaum oder gar keine Medienaufmerksamkeit, geschweige denn Verurteilungen seitens westlicher Regierungen. Der westliche Menschenrechtsdiskurs läuft oft auf ein geopolitisches Spiel hinaus.
Eine weitere Überlegung: die scheinheilige Sicht auf das «Versagen» Afrikas. Das gängige westliche Bild von einem verarmten Land wie Nigeria ist, diese Verarmung sei auf korrupte, diktatorische oder ineffiziente lokale Führer zurückzuführen. Falsch ist es nicht, unvollständig schon. Die Rolle, die Shell in Nigeria seit der Unabhängigkeit gespielt hat, veranschaulicht perfekt, dass diese korrupten Diktatoren Hand in Hand mit mächtigen westlichen Interessen gehen.
Die Protestwelle, die sich sowohl gegen die Macht des IWF und scheinbar unantastbare westliche Akteure als auch gegen Tinubu richtet, erinnert an die Vision von Ken Saro-Wiwa. «Ich und meine Genossen stehen nicht allein vor Gericht», sagte er in seinen letzten Worten vor dem Militärgericht, das ihn erhängen liess. «Shell steht hier vor Gericht.» Aber wann wird dieser Prozess abgeschlossen sein? Wann wird Nigeria für die Nigerianer da sein, anstatt als Cash Cow für distanzierte und skrupellose Ölbarone zu dienen?
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Der Artikel von Felix Kumps ist am 21. Dezember 2024 im belgischen Medium De Wereld Morgen erschienen. Übersetzt mit Hilfe von Chrome Translate.