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Befiehlt Öcalan die Kapitulation der kurdischen Separatisten? Eine erste Lesehypothese.

von MASSIMILIANO AY, Generalsekretär der Kommunistischen Partei (Schweiz), 1.  März 2025

1990 und dann 1991 trafen die Genossen der türkischen «Sosyalist Parti» (unterdessen umbenannt in «Vatan Partisi») unter der Leitung des damaligen Chefredakteurs der Zeitschrift «2000’e Doğru», Doğu Perinçek, im Beqa-Tal im Libanon mit Abdullah Öcalan, dem Führer der Arbeiterpartei Kurdistans (PKK) zusammen. Sie hatten diesen vor der Gefahr einer «Verwestlichung» der PKK gewarnt und ihm vorgeschlagen, den bewaffneten Kampf aufzugeben, die Beziehungen zum amerikanischen Imperialismus abzubrechen, der den ethnischen Separatismus zur Balkanisierung des Nahen Ostens in der Türkei, Syrien, dem Irak und dem Iran fördere, und sich stattdessen gemeinsam mit den patriotischen und revolutionären Kräften der Türkei für die Demokratisierung der Republik einzusetzen.

Die Reaktion war jedoch auf beiden Seiten negativ: Einerseits beschloss Öcalan nicht nur, die Gewalt fortzusetzen (die 40 000 Menschen, zumeist Zivilisten, darunter Kinder und Lehrer, das Leben kostete), indem er den kurdischen Nationalismus anheizte, sondern auch dem Marxismus (bzw. dessen revisionistischer Auslegung) formell abzuschwören und sich zum Spielball der Vereinigten Staaten und Israels zu machen (wie die Kommunistische Partei der Türkei TKP selbst in ihrer Erklärung vom 28. Februar 2025 deutlich machte). Anderseits ging die Regierung in Ankara, von der Perinçek bereits 1990 unter dem Vorwurf verhaftet wurde, die kurdische Sezession zu legitimieren und damit die Integrität des Staates zu gefährden, so weit, dass sie im Juli 1992 die Aktivitäten seiner Partei (die sich später unter einem anderen Namen neu konstituierte) verbot.

Kurz gesagt: Nach etwa 35 Jahren (und Tausenden von Toten) wird die weitsichtige Linie der Vatan Partisi, die in dem Slogan «Türken und Kurden sind Brüder, nieder mit dem amerikanischen Imperialismus» zusammengefasst ist, wahr. Die politische Tatsache ist nämlich, dass Öcalan – wahrscheinlich mit Genehmigung der türkischen Regierung – alle PKK-Kämpfer aufgefordert hat, ihre Waffen niederzulegen und die Organisation sogar aufzulösen: Sollte dies wirklich geschehen, wäre dies sicherlich ein Sieg für den Frieden und die nationale Souveränität der Türkei, was dem Übergang vom Atlantismus zum Multipolarismus zugute käme.

Die Kernpunkte der Erklärung Öcalans – die sowohl in kurdischer als auch in türkischer Sprache vor der Presse verlesen wurde – sind im Wesentlichen folgende:

  1. Die Auflösung der PKK ist notwendig, weil sie «ihren Lebenszyklus abgeschlossen hat», nachdem die «Meinungsfreiheit» (!) und die Anerkennung der «kurdischen Identität» (!) in der Türkei Fortschritte gemacht haben.
  2. «Während der mehr als tausendjährigen Geschichte haben Türken und Kurden es immer für notwendig gehalten, in einem Bündnis vereint zu bleiben, in dem der freiwillige Aspekt vorherrschte», um «die Hegemonialmächte zu überleben»: Es waren «die letzten 200 Jahre der kapitalistischen Moderne, die versucht haben, diese Einheit zu brechen». In der Praxis ist dies eine Anerkennung dafür , dass die kurdische Frage vom atlantischen Imperialismus fremdbestimmt wurde.
  3. Vermeintliche Lösungen wie die Schaffung eines kurdischen Nationalstaates (Kurdistan) oder Föderalismus oder sogar Verwaltungsautonomie «können nicht die Antwort sein». In der Praxis verzichtet die PKK auf ihre historischen Ziele in all ihren Varianten. Dann bliebe nur noch eine Option zur Lösung der nationalen Frage: Ein türkischer Staatsbürger ist derjenige, der ohne Unterschied der ethnischen Zugehörigkeit und des Glaubens innerhalb der Grenzen der Republik lebt, die 1923 aus der national-demokratischen und antikolonialen kemalistischen Revolution hervorgegangen ist.

Doch bevor man sich in oberflächlichem Idealismus verliert, müssen natürlich einige Elemente überprüft werden:

Erstens stellt sich die Frage, ob die USA, Israel und verschiedene EU-Länder, die den kurdischen Separatismus stets unterstützt haben, eine solche Kapitulation akzeptieren können (abgesehen von den banalen diplomatischen Erklärungen).

Zweitens stellt sich nicht nur die Frage, was die PKK- Befehlshaber vor Ort (die heute über einen Waffenstillstand in der Türkei entschieden haben sollen) tun werden, sondern auch, ob die in der syrischen Region «Rojava» aktiven – bewaffneten – Ableger der PKK (PYD-YPG-SDF) dem inhaftierten alternden Führer wirklich gehorchen werden. Die Sprecherin der pro-kurdischen, pro-europäischen DEM-Partei im Parlament von Ankara, Ayşegül Doğan, hat Öcalans Aufruf zu einem reinen «Vorschlag» degradiert; die Äusserungen von Mazlum Abdi, dem Kommandeur der Syrischen Demokratischen Kräfte (SDF), sind ebenfalls zweideutig, und die Zeitung «Yeni Özgür Politica» (Organ der PKK) scheint dem Frieden nicht unbedingt aufgeschlossen zu sein. Es sei daran erinnert, dass die SDF – in denen etwa zweitausend PKK-Kader kämpfen – ein Drittel des syrischen Territoriums besetzen, aus dem sie den Arabern Öl und Erdgas stehlen, um es weiterzuverkaufen und mit dem Erlös den Guerillakrieg in der Türkei zu finanzieren. All dies unter dem Schutz der Vereinigten Staaten, die nicht weniger als acht Militärstützpunkte in «Rojava» unterhalten (dennoch spricht irgendein naiver Eurokommunist immer noch von einem selbstverwalteten System, das von demokratischem Konföderalismus und sogar Feminismus regiert wird!).

Letztlich – und das ist vielleicht der wichtigste Aspekt – muss analysiert werden, ob man tatsächlich von einer Kapitulation der PKK sprechen kann, oder ob nicht vielmehr ein Kompromiss mit Teilen des Staatsapparates besiegelt wurde (denn an Widersprüchen innerhalb der türkischen Bourgeoisie mangelt es nicht). Soweit wir derzeit wissen, scheint Öcalan die Beendigung der Feindseligkeiten nicht an weitere Bedingungen geknüpft zu haben, aber ein Fragezeichen kommt, wie erwähnt, aus Syrien: Könnte man, im Gegenzug für die Beendigung des Guerillakampfes innerhalb der türkischen Grenzen, die Existenz einer kurdischen Enklave in dem, was von der Arabischen Republik Syrien übrig geblieben ist (jetzt zwischen Israel, sunnitischen Fundamentalisten und der PYD-YPG-SDF aufgeteilt), zugestehen? Wenn ja, würde dies eine Gefahr für die nationale Sicherheit der Türkei darstellen, die Ankara wahrscheinlich nicht tolerieren wird.

Kurzum, vielleicht ist tatsächlich ein erster Schritt in die richtige Richtung getan worden, aber bei der Beurteilung ist immer noch Vorsicht gefragt, denn die geopolitische Lage in der Region ist alles andere als stabil.