Revolutionen sind blutig, widersprüchlich und chaotisch, in Haiti wie auch anderswo
«Eine Revolution ist kein Kaffeekränzchen; sie bedeutet nicht, Aufsätze zu schreiben, Bilder zu malen oder zu sticken; sie kann nicht kultiviert, entspannt und sanft, gemässigt, nett, höflich, zurückhaltend und grossmütig sein. Eine Revolution ist ein Aufstand, ein Akt der Gewalt, durch den eine Klasse eine andere stürzt.» – Mao Zedong
von KIM IVES, 30. Oktober 2024
Er wurde «der Schlächter der Schwarzen» genannt. Ein anderer bezeugte, dass er seine Feinde «wie wilde Tiere jagte. Er hat täglich geschossen, geknüppelt und erhängt.»
Portrait von Jean-Jacques Dessalines, Haitis Gründungsvater, von Louis Rigaud
Diese Bemerkungen beziehen sich nicht auf einen Anführer von Viv Ansanm (Zusammen leben), der verleumdeten Koalition bewaffneter Nachbarschaftsgruppen, die den ehemaligen, von den USA eingesetzten De-facto-Premierminister Ariel Henry am 29. Februar verjagt hat und heute damit droht, auch die neuen Marionetten zu stürzen, durch die Washington ihn ersetzt hat.
Dies waren die Beobachtungen von Charles Leclerc und Jean-Baptiste Brunet, zwei französischen Generälen aus dem 19. Jahrhundert, über Haitis Gründungsvater General Jean-Jacques Dessalines, mit dem sie zunächst Seite an Seite und dann gegen ihn kämpften.
Die französischen Generäle bezogen sich auf den gnadenlosen Krieg, den Dessalines gegen die Marrons (entlaufene Sklaven, die Marrons oder Congo genannt wurden) führte, die in den hohen, zerklüfteten Bergen Haitis abgelegene Dörfer errichteten. Dessalines kämpfte ursprünglich gegen die Congo, weil sie sich weigerten, auf den französischen Plantagen zu arbeiten, als Toussaint Louverture von 1801 bis 1802 Generalgouverneur der Kolonie Saint-Domingue war. Doch nachdem Toussaint am 7. Juni 1802 verhaftet wurde und Dessalines beschloss, die Unabhängigkeit der Kolonie anzustreben, führte Dessalines sogar einen noch erbitterteren Krieg gegen die Congo.
«Dessalines sah sich dem entschlossenen Widerstand grosser Gruppen in Afrika geborener Marrons gegenüber», erklärte der Historiker Philippe Girard. «In den Monaten nach seiner [im Oktober 1802 erfolgten] Desertion aus der französischen Armee sorgte Dessalines dafür, dass seine beiden wichtigsten Congo-Rivalen, Sans Souci und Lamour Derance, verhaftet und getötet wurden. Tausende wütende Bauern weigerten sich daraufhin, seiner Armee beizutreten, und schlossen sich stattdessen erstaunlicherweise dem französischen Expeditionsführer Rochambeau an.» Infolgedessen brannte Dessalines einige ihrer Dörfer nieder und tötete viele Mitglieder ihrer Gemeinschaften.
Stich von Manuel López López, 1806, zeigt Dessalines, den Kopf einer enthaupteten Frau in den Händen haltend.
Die Situation in Saint-Domingue vor 221 Jahren ähnelt fast gespenstisch den Auseinandersetzungen, die sich heute in Haiti abspielen und möglicherweise als die zweite soziale Revolution des Landes in die Geschichte eingehen werden.
Mehrere Städte und Viertel in Haiti haben entschieden, sich nicht der Koalition Viv Ansanm anzuschliessen, sondern sich mit den Feinden zu verbünden, gegen die sich die Koalition richtet: Washington, dessen Marionetten-Übergangspräsidialrat (CPT), Premierminister Garry Conille, die haitianische Nationalpolizei (PNH) und die von den USA geführte Söldnertruppe ausländischer Polizisten unter kenianischem Deckmantel, die nicht der UNO angehört und als Multinationale Sicherheitsunterstützungsmission (MSS) bekannt ist.
Die historische Rolle dieser widerspenstigen Städte und Stadtviertel ist vergleichbar mit der Opposition der Marrons gegen Dessalines’ Bemühungen, eine Befreiungsarmee aufzubauen. Infolgedessen kam es zu mehreren Auseinandersetzungen zwischen den Truppen von Viv Ansanm und ihren Verbündeten und bewaffneten Gruppen in Städten wie Pont Sondé und Arcahaie nördlich der Hauptstadt sowie Léogâne südlich der Hauptstadt und in mehreren Stadtvierteln von Port-au-Prince wie Delmas 30, Delmas 32, Delmas 75, Christ-Roi, Nazon und Solino.
Zwei Viv-Ansanm-Soldaten, nach dem brennenden Solino eilend.
In vielen Fällen werden die Truppen, die gegen Viv Ansanm kämpfen, von Polizisten angeführt, wie etwa von einem gewissen «Angelo» in Delmas 30, der Menschen hingerichtet haben soll, nur weil sie in Gebieten leben, die von Viv Ansanm kontrolliert werden, wie Village de Dieu oder Grande Ravine.
Manchmal ist es im Nebel des Krieges schwierig zu erkennen, wer genau wen zuerst angegriffen hat. Jeff «Ti Jeff» Larose beispielsweise führt die bewaffnete Gruppe Viv Ansanm (bekannt als Taliban) in Canaan an, einem weitläufigen, als Notlösung errichteten Slum, der nach dem Erdbeben von 2010 in einem Überschwemmungsgebiet nördlich von Port-au-Prince entstanden ist. In einem viralen TikTok-Video behauptete er, dass bewaffnete Männer an einer Strassenbarrikade in Arcahaie, mehrere Meilen weiter im Norden, fünf religiöse Menschen – Männer und Frauen – getötet hätten, nur weil ihre nationalen Identifikationskarten zeigten, dass sie aus Canaan stammten.
«Sie trugen sogar Bibeln bei sich», sagte Jeff. «Sie waren in nichts verwickelt.»
Als Reaktion darauf führten seine Soldaten am 9. Oktober einen nächtlichen Überfall auf Arcahaie durch. Einigen Berichten zufolge gab es keine Opfer, aber andere Quellen erklärten gegenüber Haïti Liberté, dass in Arcahaie bis zu 50 Menschen getötet wurden. Was auch immer der Fall war, der Angriff sollte der bewaffneten Gruppe von Arcahaie die Botschaft übermitteln, dass Canaan es nicht dulden würde, wenn Menschen aus seiner Gegend willkürlich angegriffen, aus Fahrzeugen gezerrt und brutal misshandelt oder getötet würden.
Allerdings bezeichnete eine Quelle, die in engem Kontakt mit der bewaffneten Gruppe Arcahaie steht, Jeffs Geschichte über die Ermordung von fünf religiösen Menschen als «reine Erfindung» und beschuldigte Jeffs Gruppe, Arcahaie brutal angegriffen, einen 81-jährigen Mann getötet und eine 21-jährige Frau sowie deren Mutter enthauptet und ihre Köpfe sodann auf Spiesse gesteckt zu haben.
Ein abgetrenntes Bein und ein abgetrennter Arm, aufgehängt an Seilen, entdeckt von Viv-Ansanm-Soldaten in Solino.
Unterdessen kursiert in den haitianischen sozialen Medien ein weiteres schockierendes Video, das einen abgetrennten Arm und ein abgetrenntes Bein zeigt, die an Seilen irgendwo in Solino hängen. «Dieses Video sollte möglichst weit verbreitet werden, damit die Menschen sehen, was für Verbrechen die Solino-Leute begehen», heisst es in der Bildunterschrift des Videos. «Seht ihr, was sie tun?», fragt der Haupterzähler des Videos. «Sie töten Menschen, zerstückeln sie und hängen die Teile dann auf. Und dann sagen sie, Viv Ansanm sei schlecht … Die Solino-Leute haben das getan … Die Polizei hat das getan … Dinge, die wir nie tun würden, haben sie hier getan.»
Solche Geschichten mit dazugehörigen grausamen Videos haben die sozialen Medien in Haiti in Aufruhr versetzt und heftige Debatten entfacht.
Alle Revolutionen beinhalten Gewalt und Terror
Der Kampf der Massen untereinander – zwischen Menschen, die eigentlich Verbündete sein sollten – ist keine Besonderheit der haitianischen Revolution. In jeder Revolution gibt es solche Ereignisse. Und die Medien und Agenten der Bourgeoisie machen sich diese Widersprüche stets zunutze, um die Revolutionen zu untergraben.
Die Gewalt und der «Terror» der Französischen Revolution sind wohlbekannt und ikonisch. Viele unschuldige Menschen und sogar die Anführer der Revolution fielen der Guillotine zum Opfer, die zum Symbol dieser Zeit wurde.
Die Russische Revolution war auch von heftigen Kämpfen innerhalb der Massen geprägt, über die ihr Anführer Lenin ausführlich schrieb. In seiner klassischen Broschüre «Der ‹linke Radikalismus›: die Kinderkrankheit im Kommunismus» erläuterte Lenin den «schonungslosen Kampf der Bolschewiki gegen den kleinbürgerlichen, halb-anarchistischen (oder dilettantisch-anarchistischen) Revolutionismus» und kritisierte dabei insbesondere die Sozialrevolutionäre Partei, die sich «hartnäckig weigerte (oder genauer gesagt: sich als unfähig erwies), die Notwendigkeit einer streng objektiven Einschätzung der Klassenkräfte und ihrer Ausrichtung zu verstehen». (Es sei angemerkt, dass viele Linke im heutigen Haiti keine solche «objektive Einschätzung» vorgenommen haben.) Zudem warf Lenin den Sozialrevolutionären vor, «den Terror der Grossen Französischen Revolution oder generell den Terror einer siegreichen revolutionären Partei [d. h. der Bolschewiki], die von der Bourgeoisie der ganzen Welt belagert wird», zu verurteilen, wie es in Russland in den Jahren 1917–1919 der Fall war.
Ein Gemälde von Pierre-Antoine Demachy aus dem Jahr 1793, das eine Hinrichtung durch die Guillotine während der Terrorherrschaft der Französischen Revolution darstellt.
Auch die Chinesische Revolution war von schrecklichen Kämpfen geprägt. Nach dem Sieg der Kommunisten im Jahr 1949 initiierten Mao Zedong und die Kommunistische Partei «eine Kampagne gegen ‹Konterrevolutionäre› und andere Gegner, insbesondere gegen Beamte der vorherigen nationalistischen Regierung», schrieb kürzlich Doug Bandow für das libertäre Cato Institute (mit Vorsicht zu geniessen). «[Mao] gab 700 000 Tote zu, aber die tatsächliche Zahl der Todesopfer betrug bis zu zwei Millionen. Er wies die Kritik an den menschlichen Verlusten zurück und behauptete, dass dies notwendig sei, um die Macht zu sichern. Daraufhin nahm er vermeintlich ‹kapitalistische› Elemente ins Visier, was zu weiteren Hunderttausenden von Toten führte. Er bestand darauf, dass ‹die Schlimmsten unter ihnen erschossen werden sollten›. Andere wurden kritisiert und in Arbeitslager geschickt.»
Die Kubanische Revolution vom 1. Januar 1959, als die Bewegung des 26. Juli von Fidel Castro die Diktatur von General Fulgencio Batista stürzte, war keine Ausnahme. Es kam zu zahlreichen Verhaftungen und Hinrichtungen. Bei einem im Fernsehen übertragenen Prozess gegen angeklagte Konterrevolutionäre im Oktober 1959 wurde Fidel gefragt: «Ist das die Rückkehr von Batistas Terror?» Fidel überlegte einen Moment und erwiderte dann: «Nein. Das ist revolutionärer Terror.»
Dieser kurze historische Rückblick soll die Gewalt und den Terror, die mit Revolutionen einhergehen, weder gutheissen noch verherrlichen, sondern lediglich als Merkmal aller Revolutionen anerkennen, so wie ein Arzt die Symptome eines Patienten diagnostizieren würde.
Haitis Bourgeoisie schürt vermutlich auch diesmal die Gewalt
Der jüngste Anstieg von Gewalt und Terror in Haiti, der von beiden Seiten des Konflikts ausgeht, ist möglicherweise auf die politischen Erfolge zurückzuführen, welche die Koalition Viv Ansanm in den letzten Wochen erzielt hat, indem sie fast täglich Online-Live-Diskussionen abgehalten hat, die riesigen Bürgerversammlungen ähneln. Zehntausende Haitianer verfolgen diese Diskussionen und nehmen daran teil, hauptsächlich auf TikTok.
Viv Ansanm-Führer Jimmy Cherizier (links) spricht während einer seiner täglichen Live-Sendungen auf TikTok, die von Zehntausenden Haitianern verfolgt werden.
Viele reizt die Möglichkeit, direkt mit Viv Ansanms Anführer und Sprecher Jimmy «Barbecue» Cherizier zu reden oder ihm zuzuhören, wobei dieser mit den TikTok-Zensoren «Whack-a-mole» (Hau den Maulwurf) spielt. Von ihm eröffnete Kanäle werden trotz riesiger Followerzahlen geschlossen, nur damit er neue eröffnet. Andere Anführer von Viv Ansanm, wie Christ-Roy «Krisla» Chéry, haben ebenfalls TikTok-Kanäle, an deren Live-Übertragungen Cherizier teilnimmt.
Die Sendungen, die alle auf Kreolisch gehalten werden, haben bei den Haitianern in Haiti und in der Diaspora ein gewisses Mass an Interesse und Unterstützung hervorgerufen, was die Bourgeoisie Haitis und sicherlich auch das US-Aussenministerium in höchstem Masse beunruhigt hat.
«Es ist ein Skandal, dass ein bekannter Krimineller, ein Terrorist, ein Mörder, ein Monster einfach so mit Menschen sprechen und seine Lügen frei und ungehindert verbreiten darf», kritisierte ein wohlhabender haitianischer Geschäftsmann. «Das muss unbedingt gestoppt werden.»
In der Vergangenheit und höchstwahrscheinlich auch heute hat die haitianische Bourgeoisie einigen bewaffneten Gruppen Geld, Waffen und Munition zur Verfügung gestellt, damit sie gegen andere kämpfen. So kündigte Cherizier beispielsweise im Juni 2020 seine erste Föderation bewaffneter Gruppen an, die G9 Family and Allies, mit dem Ziel, «die Kriminalität in den Armenvierteln Haitis auszumerzen». Schon am nächsten Tag kündigte ein Anführer von Cité Soleil, Gabriel «Ti Gabriel» Jean-Pierre, den der Oligarch Réginald Boulos öffentlich zu unterstützen bekannte, die Gründung der G-Pèp an, einer Föderation, der bald viele der berüchtigtsten kriminellen Banden Haitis angehörten, die in Entführungen, Vergewaltigungen, Erpressungen und Raubüberfälle verwickelt waren.
In den darauffolgenden vier Jahren lieferten sich die beiden Föderationen fast ununterbrochen erbitterte Kämpfe, bis sie sich im Februar 2024 zur Koalition Viv Ansanm zusammenschlossen.
Es ist daher anzunehmen, dass die Oligarchen Haitis, die voll und ganz die von Washington geschmiedeten politischen und militärischen Allianzen in Haiti unterstützen, erneut ihre wirtschaftliche Macht einsetzen, um die Widerspenstigen zu fördern, die gegen Viv Ansanm kämpfen. Ein Oligarch namens Prophane Victor unterstützt bekanntlich die Gegner von Viv Ansanm in Pont Sondé, und Cherizier behauptet, beweisen zu können, dass die Polizisten, die im Viertel Solino in Port-au-Prince wohnen, bezahlt werden, um seine Stadtteile Delmas 2, 4 und 6 anzugreifen.
Die «Teile-und-herrsche»-Doktrin
Sowohl das britische als auch das US-amerikanische Imperium verdanken ihren Aufstieg und Erfolg zu einem grossen Teil der Kunst, unter ihren Feinden Zwietracht zu säen. Von der Eroberung Nordamerikas durch die Europäer, bei der einheimische Stämme und Nationen gegeneinander ausgespielt oder zu kurzlebigen Bündnissen verleitet wurden, bis hin zur Unterwanderung der anti-imperialistischen, bürgerrechtlichen und progressiven Bewegungen sowie der Antikriegsbewegung in den USA während der 1960er und 1970er Jahre durch verdeckte Programme wie COINTELPRO hat Washington immer wieder bewiesen, dass es die Kunst beherrscht, seine Feinde gegeneinander aufzuhetzen.
Dieses Kalkül geht auf die nordamerikanischen «Gründerväter» zurück. Viele von ihnen – bürgerliche Land-, Sklaven- und Schiffseigentümer – befürchteten, dass die von ihnen konzipierte Demokratie letztlich von der vereinten, wahlberechtigten Masse dazu genutzt werden könnte, ihnen ihr Eigentum und Vermögen zu entreissen.
James Madison, der «Vater» der US-Verfassung, erklärte, wie die Massen daran gehindert werden können, ihre gemeinsamen Ziele zu verfolgen.
Doch James Madison, der manchmal als «Vater der Verfassung» bezeichnet wird, versicherte der herrschenden Klasse in seinen «Federalist-Papers»-Aufsätzen (zusammen mit Alexander Hamilton und John Jay), dass sie sich keine Sorgen machen müsse, und überzeugte die New Yorker im Jahr 1787, die US-Verfassung zu ratifizieren.
Politische Demokratie werde niemals zu wirtschaftlicher Demokratie, weil es einfach sei, die Massen auf Millionen von Arten zu spalten, erklärte er.
Die Union aller Staaten werde dazu beitragen, die «geheimen Wünsche einer unbilligen und eigennützigen Mehrheit» zu vereiteln und ihnen «grössere Hindernisse in den Weg zu stellen», da die Zahl der «Fraktionen» (d. h. der Spaltungen) zunehmen werde. Daher verschaffe die Union der Bourgeoisie mit ihren «aufgeklärten Ansichten und tugendhaften Gefühlen» den «greifbarsten Vorteil» gegenüber «lokalen Vorurteilen und Plänen der Ungerechtigkeit», schrieb Madison in Federalist Nr. 10.
«Der Einfluss von Parteiführern mag in ihren jeweiligen Staaten eine Flamme entfachen, aber sie werden nicht in der Lage sein, einen allgemeinen Flächenbrand auf die anderen Staaten auszuweiten», argumentierte er. «Die Vielfalt der Sekten, die über das gesamte Gebiet [der Union] verteilt sind, wird die Nationalräte vor jeglicher Gefahr dieser Art schützen. Eine Begeisterung für Papiergeld, für die Abschaffung von Schulden, für eine gleichmässige Aufteilung des Eigentums oder für irgendein anderes unangemessenes oder bösartiges Vorhaben wird kaum den ganzen Körper der Union durchdringen können.»
Auf die gleiche Weise nutzen Washington und die haitianische Bourgeoisie jedes Instrument in ihrem Werkzeugkasten, um die Massen zu spalten, ihr Klassenbewusstsein zu hemmen und das nationalistische Projekt der sich derzeit erhebenden haitianischen Unterschicht zu sabotieren – ein Projekt, das in der Koalition Viv Ansanm zum Ausdruck kommt.
Den Aufruf zum Dialog untergraben
Cheriziers wichtigste Botschaft lautet derzeit, dass ein nationaler Dialog notwendig ist, damit die bewaffneten Gruppen aus den Armenvierteln Haitis einen Platz am Tisch jener Mächte erhalten, die über die Zukunft Haitis entscheiden. Washington und seine Koalitionen aus unterwürfigen Politikern und Polizeikräften haben sich geweigert, diesen Aufruf auch nur in Betracht zu ziehen.
«Entweder führen wir einen politischen Dialog und versöhnen uns, oder wir steuern auf einen Bürgerkrieg zu», warnte Cherizier wiederholt.
Als Reaktion darauf haben Washington und die haitianische Bourgeoisie, denen die meisten Medien und YouTube-Experten Haitis gehören, eine vielschichtige Kampagne gestartet, um in der Bevölkerung Misstrauen und Zwietracht zu säen (etwa so wie die Franzosen die Marrons rekrutierten) und Viv Ansanm als blutrünstige Mörder darzustellen.
Die Viv Ansanm steht einer von Washington geschmiedeten Allianz aus Politikern und Militärs gegenüber. Ganz links der Kenianer Godfrey Otunge, der Chef der MSS, in der Mitte Premierminister Garry Conille und ganz rechts PNH-Chef Rameau Normil. Foto: Arnold Junior Pierre/Haïtian Times
Unterdessen hat die haitianische Nationalpolizei (PNH) versucht, ihre eigenen Verluste zu minimieren. Anfang Oktober gab die Polizei bekannt, dass sie 20 «Banditen» in der Gegend von Torcel «tödlich verwundet» habe, ohne jedoch Beweise vorzulegen: keine Fotos, keine Videos, keine Namen, keine erbeuteten Waffen, keine Leichen. Aber wenige Stunden nach der «erfolgreichen Operation» veröffentlichten die Viv Ansanm-Verbündeten dieser Gegend ein Video, in dem ihre Soldaten einen Panzerwagen der PNH in Brand setzten.
Quellen in Torcel zufolge erlitt die PNH an dem Tag schwere Verluste und zwei kenianische Polizisten wurden im Gefecht getötet, während der Körper von einem der Kenianer verstümmelt wurde. Haïti Liberté konnte den Bericht nicht bestätigen.
Kurz gesagt haben die USA, Frankreich und Kanada die Kontrolle über Haiti, ihre seit langem bestehende Neokolonie, verloren, so wie einst Frankreich die Kontrolle über Saint-Domingue, seine reichste Kolonie, verloren hatte.
Darüber hinaus begünstigen aus verschiedenen Gründen mehrere Faktoren diejenigen, die in Haiti einen radikalen Wandel anstreben. Erstens hat das Land derzeit keine gewählten Amtsträger. Zweitens haben die Menschen in Haiti die Nase voll von ausländischen Interventionen (drei in den letzten drei Jahrzehnten). Drittens hat sich das US-Imperium mit der Ukraine, Gaza und jetzt dem Libanon, Jemen und Iran übernommen, so wie einst Napoleon, als er an vielen Fronten Krieg führte.
Aber vor allem sind die haitianischen Massen, deren Unterwerfung die heutigen Imperialisten anstreben, bewaffnet und seit fünf Jahren an Kampfhandlungen beteiligt, genau wie die einstigen Sklaven, die Dessalines zu seiner Zeit zu mobilisieren versuchte.
Washington leitet den Aufstandsbekämpfungskrieg gegen die Widerstandskräfte der Viv Ansanm und Verbündete, «Mess with One, You Mess with All» (offizieller Name), ist jedoch gezwungen, die kenianische Polizei als Stellvertreter einzusetzen. Bis jetzt sind nur 400 Kenianer in Haiti (mit ein paar Polizisten aus anderen Ländern), und sie haben nicht viel gekämpft. Aber der kenianische Präsident William Ruto verspricht, dass bald 600 weitere eintreffen werden. Damit wird die MSS immer noch weniger als die Hälfte der von Washington gewünschten 2500 Polizisten haben.
Unterdessen sind es die Polizisten der PNH, die gegen die Viv Ansanm kämpfen, wobei die meisten es nur halbherzig tun, was zum Teil daran liegt, dass sie zehnmal weniger verdienen als die Kenianer, ein Umstand, der für grossen Unmut sorgt.
Auftrieb und Motivation scheinen definitiv auf der Seite des Widerstands zu liegen.
«Der Zweck heiligt die Mittel» ist ein Sprichwort, das oft Niccolò Machiavelli zugeschrieben wird, dem Autor von «Der Fürst», einem europäischen Leitfaden aus dem 16. Jahrhundert, der erklärt, wie man politische und militärische Macht erlangt und aufrechterhält.
In den kommenden Tagen werden die Menschen in Haiti mit Sicherheit viele weitere Schrecken und grosse Not erleiden, doch fühlt man sich an die Worte Machiavellis erinnert, da die Möglichkeit eines umfassenden, systemischen Wandels so greifbar und erfolgversprechend erscheint wie nie zuvor in der jüngeren Geschichte Haitis. Das US-Imperium befindet sich im Niedergang, und das Bewusstsein, die Entschlossenheit und die Diskussionen in der haitianischen Bevölkerung nehmen zu.
Da das US-Imperium und die haitianische Bourgeoisie versuchen, Zwietracht unter den Massen zu säen und zu fördern, muss sich aber erst noch zeigen, ob das haitianische Volk dem Motto auf seiner Flagge gerecht werden kann: «L’Union fait la force» oder «Gemeinsam sind wir stark».
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Quelle: Haïti Liberté. Übersetzt mit Hilfe von DeepL.
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