Zetkin: Wider die sozialdemokratische Theorie und Taktik
Wenige Jahre nach dem Tod von Engels (1895) trat in der SPD eine Gruppe von Opportunisten hervor, welche den Marxismus revidieren wollten. Das Haupt der Revisionisten war Eduard Bernstein, der 1899 die Schrift «Die Voraussetzungen des Sozialismus und die Aufgaben der Sozialdemokratie» veröffentlichte. In der Zeitschrift «Die Gleichheit, Zeitschrift für die Interessen der Arbeiterinnen», Stuttgart, 12. April 1899, unterzog Clara Zetkin den Standpunkt Bernsteins einer scharfen Kritik:
Die von Freund und Feind mit gleicher Spannung erwartete Schrift Bernsteins zur Kritik der sozialdemokratischen Theorie und Taktik ist kürzlich erschienen. Was die Freunde befürchtet, was die Feinde erhofft, das bestätigt sie mit wünschenswertester Klarheit: die vollzogene Schwenkung des Verfassers nach rechts hin. Wo Bernstein auf Grund seiner jetzigen Überzeugung steht, darüber können sich nach der Veröffentlichung seiner Schrift nur die täuschen, die aus Liebhaberei oder Beruf die Blinden spielen wollen. Was dagegen die Gründe anbelangt, welche die Preisgabe des alten Standpunkts, die Richtigkeit der veränderten Auffassung stützen sollen, so bleibt die Schrift erheblich hinter den Ansprüchen zurück, die man billigerweise an einen Mann von der Fähigkeit, dem Wissen und der Gewissenhaftigkeit Bernsteins stellen durfte. Sie ist in dieser Hinsicht geradezu dürftig und enthält weder neue beweiskräftige Tatsachen noch neue beweiskräftige Gedankengänge. Was Bernstein gegen die Marx-Engelssche Geschichtsauffassung einwendet, was gegen die darauf beruhende Auffassung von den geschichtlichen Kräften, die mit Naturnotwendigkeit zum Sozialismus führen müssen, was in der Folge gegen die prinzipielle Grundlage des sozialdemokratischen Programms und bezüglich der Taktik der Sozialdemokratischen Partei: das alles ist von bürgerlichen Sozialreformlern, Ethikern, Kathedersozialisten usw. wiederholt gesagt worden, zum Teil präziser und besser gesagt worden, als es in der vorliegenden Schrift geschieht.
Nun ist das ganz gewiss an und für sich noch kein Beweis für die Unrichtigkeit der Bernsteinschen Kritik und Auffassung. Aber die in Betracht kommenden Gründe, die bisher von bürgerlicher Seite geltend gemacht worden sind, um die marxistische Auffassung zu bekämpfen und die deutsche Sozialdemokratie von dem Wege des Klassenkampfes zur Eroberung der politischen Macht abzudrängen und in die sanften Bahnen ausschliesslicher Reformlerei zu weisen, sind recht ausgiebig widerlegt worden, und zwar nicht bloss von den besten sozialistischen Theoretikern, darunter von Bernstein selbst, sondern auch und vor allem von den Tatsachen. Die Entwicklung unseres wirtschaftlichen und politischen Lebens bestätigt im grossen ganzen geradezu glänzend die Marx-Engelssche Theorie des geschichtlichen Werdegangs zur sozialistischen Gesellschaft. Die zehnmal widerlegten Ansichten gewinnen dadurch nichts an beweisender Kraft, dass mit ihnen zur Abwechslung ein Mann aufwartet, der bisher einer der angesehensten Vorkämpfer für die Theorie von Marx und Engels gewesen ist und im Vordertreffen des Klassenkampfes gestanden hat. Wenn Bernstein heute verbrennt, was er früher angebetet, und anbetet, was er früher verbrannt hat, so ist dieser Umstand allein wahrlich nicht hinreichend, das als anbetungs- oder verbrennungswürdig zu begründen, wie bürgerliche Blätter frohlockend ausposaunen. Es spricht nur für eins: dafür, dass Bernstein heute Tatsachen und Theorien mit einem anderen Massstab misst als früher, und zwar mit einem Massstab, der uns durchaus falsch dünkt.
Der von Marx und Engels begründete moderne wissenschaftliche Sozialismus ist sicher nicht ein schwächliches Treibhauspflänzchen, das den leisesten Lufthauch freier Kritik fürchten muss. Aber was Bernsteins Schrift bringt, ist in der Hauptsache nicht eine kritische Sichtung, Weiterführung und Vertiefung der einschlägigen Theorien, es ist vielmehr die unzweideutige Preisgabe der prinzipiellen Auffassung, in der das sozialdemokratische Programm gründet. Bezüglich der Taktik der sozialdemokratischen Bewegung aber enthalten des Verfassers Ausführungen nicht bloss die Mahnung, jede Gelegenheit zu positiver Reformarbeit zu ergreifen, den Hinweis aufrichtigere Bewertung und bessere Nutzung dieses und jenes Wirkungsgebiets, sondern sie gipfeln in dem Anraten einer entschiedenen Frontänderung, in dem Befürworten einer Mauserung der Sozialdemokratie aus der revolutionären Partei des klassenbewussten Proletariats zu einer demokratisch-sozialistischen Reformpartei. Über anregenden und zutreffenden Einzelheiten diese Hauptzüge der Bernsteinschen Schrift übersehen, hiesse ihre Bedeutung nicht voll «würdigen».
Berufenere werden sich an anderer Stelle mit des Verfassers Einwänden gegen die materialistische Geschichtsauffassung, die Dialektik und die Werttheorie auseinandersetzen. Bereits hat Kautsky in der Neuen Zeit durch eine treffliche Arbeit eine Artikelserie eingeleitet, in welcher er die aufgeworfenen Streitpunkte behandelt.
Unseres Erachtens hat Bernstein bezüglich dieser Materien einen donquichottischen Kampf gegen Windmühlenflügel aufgenommen. Das Bedürfnis nach einer wissenschaftlichen Rechtfertigung seines veränderten Standpunkts lässt vor seinen Blicken Auffassungen und Tatsachen in ganz wundersam phantastischen und verzerrten Formen auftauchen und treibt seine Beweisführung zu den absonderlichsten Purzelbäumen. So kämpft er gegen eine materialistische Geschichtsauffassung, welche die geschichtliche Entwicklung als einen sich mechanisch vollziehenden Prozess begreift und die in ihrer äussersten Konsequenz zum «Quietismus» führen müsste, zu dem Glauben an die alleinseligmachende Kraft der wirtschaftlichen Entwicklung und den Verzicht auf jede proletarische Aktion zur Umgestaltung der Gesellschaftsverhältnisse. So lässt er den lächerlichen Popanz des «Blanquismus» von Marx und Engels aufmarschieren, der nach ihm bis heute noch in der «revolutionären Phraseologie» der deutschen Sozialdemokratie nachspuken soll. Mit dem Eifer des Neubekehrten bemüht er sich, bei Marx und Engels eine Entwicklung zur Verschwommenheit und Zerfahrenheit und in der Folge Widersprüche zu sich selbst nachzuweisen. Aber diese Widersprüche werden mittels Haarspaltereien und Unterstellungen aus einzelnen Worten und aus dem Zusammenhang gerissenen Sätzen zusammengeklaubt. Sie sind nur ein Widerschein der Widersprüche, in die sich Bernstein bei der vergeblichen Liebesmüh verstrickt, seine jetzige Überzeugung eines bürgerlichen Sozialreformlers mit seiner alten sozialistischen Auffassung zusammenzuflicken. Wir verweisen unsere Leserinnen und Leser auf die ausführlichen Auseinandersetzungen über die aufgerollten Fragen in der Neuen Zeit, der Sächsischen Arbeiter-Zeitung, der Leipziger Volkszeitung usw. Wir begnügen uns, in einem folgenden Artikel die Hauptpunkte zu erörtern, in denen sich Bernstein gegen die theoretischen Grundlagen des Sozialismus und gegen die sozialdemokratische Taktik wendet. Diese Punkte sind der entschiedene Nachweis für das vollzogene Abschwenken in das bürgerliche Lager.
Bernstein setzt an die Stelle der Wissenschaft die Utopie, er lässt die Gründe für die Verwirklichung des Sozialismus als einer wirtschaftlichen Notwendigkeit fallen und sucht das Proletariat mit dem frommen Glauben zu trösten, dass der Sozialismus eine sittliche, eine kulturelle Notwendigkeit sei. Er weist den Gedanken an den Zusammenbruch der kapitalistischen Wirtschafts- und Gesellschaftsordnung als eine der unerlässlichen Voraussetzungen für die sozialistische Gesellschaft zurück und hofft auf eine allmähliche stückweise Einschmuggelung des Sozialismus in die kapitalistische Gesellschaft durch soziale Reformen, Gewerkschaften, Konsumvereine, Produktivgenossenschaften. Genau betrachtet, erweist sich die von ihm ins Auge gefasste allmähliche Sozialisierung nicht als ein Mittel zur Zertrümmerung des Kapitalismus, sondern als Mittel zu seiner Befestigung durch die Verbürgerlichung des Proletariats. Mit ethisch-demokratischem Gruseln schiebt Bernstein den proletarischen Klassenkampf beiseite und trägt dessen geschichtliche Mission auf das «Rechtsbewusstsein» über, auf den steigenden Einfluss der «Ethik» und des «Allgemeininteresses» innerhalb der ausbeutenden und herrschenden Klassen. Statt des Kampfes wider die Bourgeoisie predigt er die Aussöhnung mit ihr im Zeichen des «Liberalismus», das heisst, er vertröstet das Proletariat mit dem Schaugericht einer abstrakten Formel, statt ihm die Notwendigkeit des festen Zugreifens nach dem sicheren Brot seiner wirtschaftlichen Befreiung einzuschärfen. Nachdem er den Klassenkampf verpönt hat, verflüchtigen sich unter seiner fingerfertigen Beweisführung die Klassen selbst. Das Proletariat wird in Personen und Gruppen aufgelöst, die von Interessengegensätzen beherrscht sind und kaum je unter den Hut eines gemeinsamen Klasseninteresses gebracht werden können. Auch die Bourgeoisie erscheint lediglich als buntes Zusammengewürfel von verschiedenen Interessengruppen, die zusammengehalten werden durch den Druck von oben oder die Furcht vor dem unten drohenden revolutionären Gespenst, die Furcht vor der «Fresslegende» vom kämpfenden Proletariat.
Bernstein fordert eine dieser Auffassung entsprechende Umänderung der sozialdemokratischen Taktik. Für ihn freilich beschränkt sich diese Umänderung bloss auf eine andere, richtigere Etikettierung der Partei und auf die Entwöhnung von der lasterhaften «revolutionären Phraseologie», dem leidigen Erbstück des «Blanquismus» von Marx und Engels. Die Mauserung, die er selbst durchgemacht hat, dichtet er nämlich auch der Sozialdemokratie an. Nach seiner Ansicht hat sich dieselbe bereits tatsächlich zu einer «demokratisch-sozialistischen Reformpartei» entwickelt, und es handelt sich für sie nur darum, das bisschen moralischen Wagemut aufzubringen, um unbeirrt durch das Geschrei der Fanatiker des «Gewaltkollers» «zu scheinen, was sie ist». Die Entdeckung, dass die Sozialdemokratie eine nichts als reformlerische Partei ist, musste Bernstein leichtfallen. Er begreift nämlich das Wort Revolution in dem allervulgärsten Polizeisinne und findet deshalb in dem Wirken der Sozialdemokratie nicht die geringste revolutionäre Spur. Dass er trotzdem den warnenden Schulmeisterfinger erhebt und ganz ernsthaft den Gebrauch des für zartnervige Ohren schreckhaften Wortes revolutionär widerrät, bekundet einen geradezu abergläubischen Respekt vor dessen bindender und lösender Kraft. Die Partei verbanne das Wort revolutionär aus ihrer Sprache, meint Bernstein, und es erstehen den proletarischen Interessen kräftige Verteidiger und Förderer in Gestalt der brünstig nach Betätigung schreienden «Ethik» der besitzenden Klassen, in Gestalt des diese durchglühenden «Allgemeininteresses». An Stelle des proletarischen Klassenkampfes gegen die Bourgeoisie zur Eroberung der politischen Macht tritt nun die Reformarbeit auf dem Gebiet der Gesetzgebung, des Gewerkschafts- und Genossenschaftswesens, der Gemeindeverwaltung usw. im Bunde mit dem anständig und gerecht denkenden Teil der Bourgeoisie zum Zwecke der Demokratisierung der Gesellschaft. Auf den friedlichen Wellen dieser Demokratisierung gleitet die geschichtliche Entwicklung zum Sozialismus hinüber. Selbstverständlich zu einem Sozialismus, der auch den herrschenden Klassen mit harmloser Freundlichkeit entgegenlächelt. Denn offenbar hat Bernstein mit der «Fresslegende» auch die charakteristischen Merkmale des Sozialismus zum alten Eisen geworfen: die Überführung der Produktionsmittel aus dem Privateigentum in den Gesellschaftsbesitz, die Beseitigung der Warenproduktion und der freien Konkurrenz. Er erklärt den Sozialismus als «Bewegung zur oder der Zustand der genossenschaftlichen Gesellschaftsordnung». Wie andere Begriffe, so verliert auch der des Sozialismus bei ihm seine scharf umrissene geschichtliche Bedeutung und wird zu einem verschwommenen, nebelhaften, vieldeutigen, alles- und nichtssagenden Etwas, zu dem sich heutigentags jeder leidlich anständige und gutmütige Mensch bekennen kann, ohne deshalb befürchten zu müssen, salonunfähig oder gar «gerichtsnotorisch» zu werden.
Die von Bernstein angepriesene Theorie und Taktik ist die Theorie und Taktik all der bürgerlichen Elemente, die ihr Zelt an der Grenze des geschichtlichen Kampfplatzes zwischen Proletariat und Bourgeoisie aufgeschlagen haben. Wollte die Sozialdemokratie sich diese Theorie und Taktik zu eigen machen, sie müsste aufhören, sie selbst zu sein, sie müsste mit Nationalsozialen, Reformlern jeder Schattierung, doktrinären Liberalen und bürgerlichen Demokraten den Bruderschmatz tauschen und sich mit ihnen zu einem grossen Reformlerkuddelmuddel vermengen. Es mag dies das Ideal der sozialen und politischen Parteichen und Gruppen sein, die so gern den feurigen Renner der Sozialdemokratie mit etwas Reformhaber kapitalfromm machen möchten, um ihn vor ihren eigenen, nicht vom Flecke kommenden Karren zu spannen. Es mag dies als holder Traum die guten Leute und schlechten Musikanten umgaukeln, die sich zum Nachweis ihres verfeinerten Empfindens und Denkens wider die materialistische Geschichtsauffassung und den Klassenkampf sträuben und an der Lösung der sozialen Frage durch geistreichelnde «ethisch-psychologisch-literarische» Debatten «arbeiten». Es wäre der Selbstmord der Sozialdemokratie als einer politischen Partei als der Partei des klassenbewussten, revolutionären Proletariats. Durch die ihr angesonnene Frontänderung würde sie zwar ihre Gegner nicht versöhnen und entwaffnen, wohl aber das Vertrauen und die Gefolgschaft der proletarischen Massen verlieren. Wenn Bernsteins Schrift ein grosses Verdienst unbestritten beanspruchen darf, so ist es das: klar zu zeigen, wohin die in der Partei vorhandenen possibilistischen Strömungen führen müssen, und dadurch eine kräftige Aktion hervorzurufen nicht etwa für die Verwischung des grundsätzlichen Charakters der Sozialdemokratie und für die Taktik der Nurpraktischen-Reformarbeit, sondern gegen die Verbannung ihrer Grundsätze in den Silberschrein und gegen die Taktik der Kompromisselei mit der bürgerlichen Gesellschaft.
Quelle: MIA-Archiv (marxists.org), nach: Clara Zetkin, Ausgewählte Reden und Schriften, Bd.1, Berlin 1957, S.149-156)
Siehe auch:
- Kurzbiographie Clara Zetkin (1857-1933)
- Youtube: Rede als Alterpräsidentin des Reichstags (1932)