Zum Charakter der EU-Personenfreizügigkeit
Dem kommenden Parteitag der Partei der Arbeit (PdA Schweiz) liegt ein Antrag der Kantonalsektion Bern vor, der einem ernsthaften Mangel abhelfen soll, welcher sich immer wieder schädlich auf die praktische Parteiarbeit auswirkt. In der PdA besteht nämlich keine einheitliche, klare und fundierte Position zur Europäischen Union. Die Berner Kommunisten machen kein Hehl aus ihrer Ablehnung der EU und haben ihre Argumente publiziert.1 Dagegen erhält man den Eindruck, ihr Antrag bringe besonders einige Westschweizer Genossen in Verlegenheit. Aber schon anlässlich der Wahlniederlagen der PdA im Frühling und Herbst 2007 wurde darauf hingewiesen, dass jedes Hinausschieben und Offenlassen dieser Frage den Schaden weiter anwachsen lässt.2 Denn solange der Lähmungszustand der PdA und der Gewerkschaften in Sachen EU fortdauert, solange wird er auch nicht aufhören, das eigene Lager zu verunsichern, seine Glaubwürdigkeit zu untergraben und die feindlichen Kräfte zu stärken. (mh/27.9.08)
Die EU ist das Herrschaftswerkzeug der grössten transnationalen Finanz- und Wirtschaftsgruppen und der Grossmächte
Wir dürfen uns nicht durch die EU-Propaganda der schönen Phrase beirren lassen. Die EU ist keineswegs – wie einige meinen – eine Art Internationale, sondern eine supranationaler Herrenbund gegen die Völker. Sie rottet den Geist des bürgerlichen Nationalismus nicht aus und überwindet diesen Nationalismus nur insofern, als sie ihn von seiner Beschränktheit löst, zentralisiert und auf eine höhere, gefährlichere, imperialistischere Stufe hebt. Sie vereinigt und verstärkt die ökonomische, politische und militärische Schlagkraft der Imperialisten und dient den Grossmächten (voran Deutschland) als Hebel, um die schwächeren Staaten unter ihren Willen zu beugen. Mit einem Wort charakterisiert, ist die EU das Herrschaftswerkzeug der grössten transnationalen Finanz- und Wirtschaftsgruppen und der Grossmächte. Die Arbeiterklassen der Länder Europas (einschliesslich jene der EU-Mitglieder) haben von der EU nichts Gutes zu erwarten, welche den Neoliberalismus in den Verfassungsrang erhebt und jede alternative Entwicklung mit sozialistischer Perspektive verbietet, und damit praktisch untersagt, auch nur eine einzige unserer zentralen Programmforderungen zu verwirklichen. Die EU kann ihren imperialistischen, neoliberalen, militaristischen Charakter nicht einfach ablegen. Dahingehende Forderungen sind illusionär. Die strategischen Interessen der Arbeiterklassen und der Völker Europas verlangen nach einem Europa des Friedens und der Zusammenarbeit auf der Grundlage der Gleichberechtigung zwischen souveränen Staaten.
Was für eine Freizügigkeit?
Wir dürfen uns auch nicht blenden lassen durch schönfärberische Worte wie “Personenfreizügigkeit”. Den EU-Gewaltigen geht es zuallerletzt darum, jene Freiheiten wiederherzustellen, die der herumziehende Mensch vor Urzeiten genossen hat, und die im Verlauf der Geschichte von den Herrschenden immer wieder beschnitten wurden. Was sie mit der “Personenfreizügigkeit” bezwecken, wird durch die Interessen des Grosskapitals bestimmt und begrenzt. Es geht in erster Linie darum, den Kapitalisten einen ständigen Zufluss von Lohnabhängigen zu garantieren, also eine genügend grosse Reservearmee an Arbeiterkräften aufrechtzuerhalten. Diese Politik bedingt, dass alle anderen Alternativen zum Überleben ausgeschaltet werden, so dass die Leute nackt dastehen und gezwungen sind, ihre Arbeitskraft anzubieten. Schon vor Jahrhunderten haben englische Kapitalisten eine Politik zur Vertreibung der Bauern aus ihren Dörfern durchgesetzt, um diese Massen in städtisches Proletariat zu verwandeln. Auch heute unternehmen die Imperialisten grosse Anstrengungen, um die Verhältnisse in gewissen Gegenden unlebbar zu machen, so dass die Betroffenen den Arbeitsmärkten zugetrieben werden.
Deswegen versuchen die Imperialisten in Afrika und anderen Erdteilen, traditionelle Stammes-Strukturen zu zerschlagen, genossenschaftliches oder Gemeineigentum aufzulösen, oder gar durch Verbreitung von Elend und Krieg Flüchtlingsströme auszulösen. In den früher sozialistischen Ländern Osteuropas haben wir einen ähnlichen Vorgang erlebt, indem das Volkseigentum auf mafiösen Wegen verschwunden ist und mit ihm auch materielle Basis für alle sozialen Sicherungen und Garantien. Der Erfolg dieser Politik beschert den westlichen Kapitalisten Millionen von Arbeitskräften, und gibt ihnen die Freiheit zur Auswahl aus diesen Arbeitskräften. Es bedeutet natürlich eine grosse Einsparung für die Bourgeoisie eines Landes wie der Schweiz, wenn sie die Arbeitskraft eines hochausgebildeten Spezialisten kaufen kann, dessen Ausbildung ein anderes Land bezahlt hat, und wenn sie ferner die Filetstücke ausliest und die nach Altersgruppe, Gesundheitsprüfung usw. schlechteren Risiken dem Herkunftsland überlässt. Welche Klasseninteressen im Zusammenhang mit der Freizügigkeit auf dem Spiel stehen, wird auch anhand der Kehrtwende der Schweizerischen Volkspartei in Sachen Verlängerung und Ausdehnung des Freizügigkeits-Abkommen zwischen der Schweiz und der EU sichtbar. Unter dem Druck ihres Arbeitgeberflügels und zur Enttäuschung vieler Anhänger will die SVP nun dem Abkommen durch ihr Stillhalten zum Durchbruch verhelfen.
Fassen wir den klassenmässigen Kerngehalt der Freizügigkeit in einem Bild zusammen: es ist keine Freiheit der Proletarier zu ziehen, sondern ihr unfreiwilliges durch ganz Europa Hin-und-her-gezogen-werden am Lasso der Bourgeoisie. Es ist die Freiheit der Bourgeoisie, ihr Lasso im grösseren Radius auszuwerfen.
Inhaltliche Nebeneffekte dieser Freizügigkeit
In zweiter Linie dient die sogenannte Freizügigkeit auch allen denkbaren Nebenabsichten der Bourgeosie. Das Lasso soll auch enger gezogen werden usw. Der Sieg des Imperialismus über den realen Sozialismus soll in Euros umgemünzt werden. Die besiegten Arbeiterklassen Ost- und Westeuropas sollen einer schärfere Gangart der Ausbeutung, Überwachung und Unterdrückung gewöhnt und dazu gebracht werden, ihren Widerstand gegen die Herrschenden aufzugeben. An jedem Detail der EU-Freiheiten erkennt man die Handschrift des Grosskapitals, das ihre Ausgestaltung diktiert hat.
Das Wörtchen “frei” schafft auch die Denkgrundlage für höchst unfreiheitliche Absichten. Gestützt auf die “Freizügigkeit” und angeblich, um diese “umzusetzen”, wurde das Schengen-Abkommen getroffen. Es sagt uns mitten ins Gesicht, dass die Freizügigkeit ein zentrales Personenregister erfordert, und dass diese Freizügigkeit voraussetzt, dass Brüssel jederzeit jedermannes biometrische Daten einsehen kann. Am Schengen-Register wird nicht nur die Polizei jedes EU-Staates angeschlossen, darunter solche Staaten, in denen Faschisten das Sagen haben. Auch der Datenaustausch mit den befreundeten Imperialisten in USA und Israel ist vorgesehen.
Anhaltspunkte für das, was sich die EU-Herrschaften unter “Freizügigkeit” vorstellen, liefert uns auch die Rechtsprechung des EU-Gerichtshofes.3 Dieser hat bereits einige zentrale Elemente des kollektiven Arbeitsrechts von Schweden, Luxemburg, Deutschland usw. als unverträglich mit der EU-Freizügigkeit erklärt und damit ausser Kraft gesetzt. Man kann den Inhalt der EU-Freiheiten eben nur erschliessen, wenn man die Sache vom Kapital aus betrachtet: Das Kapital fühlt sich durch die Schutzvorschriften der Gesamtarbeitsverträge geknechtet, das ist es!
Die Schweiz im Schengen-Käfig
Was uns als Freiheit angepriesen wird, ist ein noch schwereres Joch. Die Schweiz, welche nach dem Fichenskandal mindestens zaghafte Schritte in Richtung Datenschutz unternommen hat, hat das Schengen-Abkommen übernommen. Der Bundesrat betreibt eine Politik der polizeilichen und militärischen Eingliederung in die EU und übernimmt deren polizeistaatlichen Tendenzen. Die EU bedroht auch die Gesamtarbeitsverträge in der Schweiz und stellt ihre weitere Geltung in Frage. Im Falle eines Streits über die Auslegung der Freizügigkeit, die die Schweiz mit der EU eingegangen ist, wird kein Gericht und keine Amtsstelle um die massgebliche Auffassung der EU und ihre Ausführungsbestimmungen zur Freizügigkeit herum kommen. Man darf sich nicht der Illusion hingeben, dass die schweizerische Regierung imstande oder überhaupt nur willens sei, eine andere Auffassung durchzusetzen und das kollektive Arbeitsrecht zu verteidigen. Wie wenig die EU-Grossen geneigt sind, sich mit Ansichten eines kleinen Landes abzufinden, sieht man am Beispiel der massiven Druckversuche gegenüber Irland, das zum Abschluss eines Vertrags gezwungen werden soll, den es nicht will.
Bereits heute richtet das Bundeshaus seine Angriffe gegen das kollektive Arbeitsrecht und erarbeitet derzeit Gesetzesentwürfe, um die indirekten Wirkungen von Gesamtarbeitsverträgen auszuschalten. Dabei geht es um Vorschriften, wie sie in vielen Gesetzen und Gemeindereglemente vorkommen und welche vorsehen, dass öffentliche Aufträge und Werkverträge nur mit Vertragspartnern eingegangen werden, welche gegenüber ihren Arbeitnehmern die gesetzlichen ortsüblichen und gesamtarbeitsvertraglichen Regeln einhalten. Wie uns die Richtersprüche des EU-Hofgerichts belehren, sind solche Schutzbestimmungen nicht kompatibel mit der Freiheit, die uns von Brüssel her droht. Dasselbe Bundeshaus, welches Massnahmen ausheckt, um die unheilsamen Wirkungen der Freizügigkeit zu verschärfen, hat den arbeitenden Klassen versprochen, “flankierende” Massnahmen zu treffen, um solches Lohndumping zu verhindern. Die wichtigste dieser flankierenden Massnahme besteht in vermehrten Betriebskontrollen. Die bisherige Statistik dieser Kontrollen beweist die völlige Unzulänglichkeit der Massnahmen. Das Lohndumping findet systematische Anwendung. Der Anteil der Arbeitsverhältnisse, bei denen die Mindestvorschriften nicht eingehalten werden, ist so extrem hoch und der davon ausgehende Lohndruck auf dem Arbeitsmarkt so gewaltig, dass auch die braven Betriebe, welche die Mindestvorschriften einhalten, davon profitieren und sich gegen Lohnforderungen taub stellen können.
Einige versuchen uns trotz alledem vorzugaukeln, dass der Schengen-Käfig sozusagen ein goldener oder jedenfalls für die Schweiz attraktiver und heilsamer Käfig sei. Sie behaupten, die in vielen Dingen rückschrittliche Schweiz habe einen EU-Beitritt nötig, um dann mit Fusstritten und Stössen von Brüssel aus zu fortschrittlicheren Gesetzen gezwungen zu werden, zu deren Erlass unserem Land die Fähigkeit abgesprochen wird. Das Gegenteil ist wahr. Die EU-Staaten und ihre Regierungen ziehen an keinem anderen Strick als der Bundesrat. Die Entwicklung geht dahin, dass die Schweiz jeweils die am meisten arbeiterfeindlichen Regelungen der EU übernimmt. Auf der anderen Seite beobachten wir auch, dass Deutschland oder andere EU-Staaten besonders arbeiterfeindliche Gesetze aus der Schweiz übernehmen, darunter die schikanösen Kontrollvorschriften der hiesigen Arbeitslosenversicherung oder kapitalfreundliche Bestimmungen des Steuerrechts, wo die Schweiz eine neoliberale Vorreiterrolle einnimmt. Ebenso wie die Regierungen der EU-Mitglieder ist auch der Bundesrat natürlich für jeden Fall dankbar, in welchem er die vom Grosskapitals diktierten unpopulären Gesetze für einmal nicht in eigener Verantwortung vor Parlament und Volk bringen muss, sondern sich hinter Brüssel verstecken kann. Wenn eine Regierung ein fortschrittliches nationales Gesetz beseitigen will, so spediert sie die unpopuläre neue Gesetzesänderung gerne nach Brüssel, wo diese an einem Ministertreffen den EU-Stempel erhält, so dass die fertige Ware nur noch abgeholt zu werden braucht. Ein Beispiel dafür ist die neue EU-Arbeitszeitrichtlinie, mit welcher die Wochenarbeitszeiten auf 65 Stunden hinaufgesetzt werden. Auch sozialdemokratische Arbeitsminister haben sich in Brüssel und hinter verschlossenen Türen vor der eigenen Wählerschaft so sicher gefühlt, dass sie dem ihre Zustimmung gaben..
Fussnoten
1 siehe Dokumentsammlung: PdA Bern zur Europäischen Union
2 Vgl. solche Hinweise in: Nachlese zu den Wahlniederlagen in der Westschweiz, sowie in: Mit einem lachenden und einem weinenden Auge (Abschnitt: Schwachstelle der Linken: Unschlüssigkeit punkto EU).
3 vgl. Berichterstattung zu den EuGH-Entscheiden Laval , Viking Line, Rüffert und EU-Kommission gegen Luxemburg, in: EU-Gerichtshof schleift das kollektive Arbeitsrecht zu Boden
NEIN zur EU des Grosskapitals!
- Flankierende Eintagsfliegen
- PdA-Communiqué: NEIN zur EU-Freizügigkeit
- Themendossier EU
- Lohndumping
- PdA-Nationalratskandidat Thomas Näf zur Personenfreizügigkeit: («Vorwärts», 2007) – Das Kapital kann per Mausclick hier verschwinden und in Billiglohnländern wiederauftauchen. Es ist an der Zeit, dass auch die Menschen das Recht des freien Verkehrs haben sollen. Bis hierher befürworte ich die Freizügigkeit und heisse alle willkommen, die unser Land zum Leben und Arbeiten ausgewählt haben. Oft genug haben sie ihre Heimat aus Not verlassen müssen. Oft genug werden sie hier schlecht empfangen und haben an Diskriminierung und Überwachung schon einiges hinter sich, was uns Armutsbetroffenen noch bevorsteht. Das andere ist die Praxis, dass die Kollegen aus Osteuropa offensichtlich massenhaft zum Lohndumping eingesetzt werden. Was Lohndruck erzeugt, ist nicht ihre Zahl, sondern ihre Rechtlosigkeit. Die schafft Anreize, einheimische Arbeitskraft durch unterbezahlte Immigranten zu ersetzen. Die Statistik der flankierenden Massnahmen zeigt, wie nötig, aber auch wie ungenügend sie sind. Bei jedem sechsten von der Kontrolle erfassten Arbeitnehmer haben die zuständigen Kommissionen Verstösse und Vermutung auf Missbrauch festgestellt. …mehr
- Zum bevorstehenden Parteitag der Partei der Arbeit der Schweiz