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Kapital(ismus) im XXI. Jahrhundert und zwei kurze Anmerkungen

Von Sérgio Ribeiro


Noch sind die Intelligenzen aufgewühlt (oder sollte ich schreiben die «Intelligentsia»?).

Oder anders gesagt, in einer strengeren oder unserer theoretischen Grundlage angemessenen Ausdrucksweise: der Überbau der kapitalistischen Produktionsweise ist in Aufwühlung. Dieser Überbau ist Teil des gesellschaftlichen Bewusstseins, das die Spuren der Überbauten der vorangegangenen Gesellschaftsordnungen – die noch in Teilen des Planeten überleben – in sich trägt, und ebenso die Keime der Überbauten der kommenden Produktionsweisen. Deswegen ist das soziale Bewusstsein in Bewegung.

Die Verteidigung der gesellschaftlichen Beziehungen der Produktion, welche eine Produktionsweise definieren (die Verteidigung der Interessen der herrschenden Klassen) wird auf der Ebene der sozialen Bewusstseins debattiert, aus Notwendigkeit, Erklärungen für das Ablaufende zu finden. Und damit aus solchen Überlegungen eine verstärkende Rückwirkung für “Auswege” gezogen werden kann, die die Lebensdauer des schon Überfälligen (und Untragbarem) verlängern, und die ihm innewohnenden, immer unerträglicheren Widersprüche verschärfen … in dem Ausmass, in dem sie angeblich überwunden werden sollen.

So wird es geschehen, denn die materiellen Grundlagen, auf denen die Auslegungen und Erklärungen des Überbau beruhen, sind in Aufwühlung begriffen. Die sozialen Ungleichheiten und regionalen Asymmetrien, und deren Verstärkung, welche die Statistiken zeigen (oder verbergen, zumindest teilweise), und welche von den Leuten gefühlt und erlitten werden, waren von einem Teil des gesellschaftlichen Bewusstseins vorhergesehen worden, welcher aufgrund seiner Lektüre der vergangenen Geschichte den Anspruch erhebt, Träger der Saat der Zukunft zu sein. Einer Zukunft in einem anderen Produktionsmodus, in dem die Produktionsbeziehungen nicht jene der Ausbeutung durch die Besitzer der Produktionsmittel sind, welche die Arbeitskraft in eine Ware verwandeln, so konsequent in eine Ware verwandelt, soweit es die Korrelation(en) der Klassenkräfte zulässt (zulassen).

Eben deshalb hat Marx auf der Ebene des gesellschaftlichen Bewusstseins wieder eine wichtige Rolle eingenommen, nocht weil die sozialgeschichtliche Dynamik gekommen wäre, ihm Recht zu geben, die seinen definitiven Untergang verkündet hatte, sondern weil diese Dynamik objektiv zeigt, dass Marxens Lektüre des historischen Prozesses weiterhin relevant, zutreffend, unverzichtbar bleibt, im Gegensatz zu aller Prophetie und allem Fatalismus.

Diese Phase der Krise, die der entwickelte Kapitalismus durchläuft, hat es erforderlich gemacht, zur Lektüre und zum Studium von Marx zurückzukehren. Um zu verstehen und um der Veränderung zu helfen für jene, die etwas ändern wollen. Beizufügen bleibt der Satz (der viel mehr als ein Satz ist), der schon nicht mehr von Marx stammt, dass es ohne revolutionäre Theorie keine revolutionöre Praxis gibt.

Genau deswegen versucht man, von der kapitalistischen Superstruktur her, die Kraft dieses unvermeidlichen Rückgriffs auf Marx zu vermindern, und man sucht, da sich seine Pertinenz (und Impertinenz) nicht leugnen lässt, ihn mit Gegenmitteln zu bekämpfen oder ihn zu pervertieren.

Der gesamte riesige Lärm um das letztes Jahr herausgekommene Buch Le Capital au XXIème. siécle, von Thomas Piketty, und seine mediale Ausnützung wird diese Absicht zeigen und enthüllen, dass sein medialer Effekt nicht argloser Ausdruck oder Frucht von «wissenschaftlicher Qualität» ist, sondern Ausdruck der politisch-ideologischen Opportunität. Was sich, für uns, in eine schreiende Offensichtlichkeit verwandelt hat, nachdem sich mit der englischen Ausgabe eine breite Polemik durch verschiedene Zeitschriften und Zeitungen gezogen hat… die auf solches spezialisiert sind.

Dieser Debatte kann man nicht ausweichen. Der “Expresso” und andere portugiesische Publikationen haben in den Chor eingestimmt, nicht aus “Modebewusstsein”, sondern weil sie Teil der genannten Superstruktur sind, die sich in die Absenz von Alternativen zum Kapitalismus einkapselt. (Aufschlussreich ist die Art und Weise der Behandlung der Antworten von Eugénio Rosa,[1] indem man seine Antworten auf die gestellten Fragen ignoriert um den gewünschten Fächer von «geteilten Meinungen der portugiesischen Ökomonen» zusammenzustellen … Oekomomen ja, aber «auserlesen», und zwar vor und nach den eingeholten Antworten.)

Dazu möchte ich nur zweierlei anmerken:

1 – Kapital ist in der Definition von Marx ein Konzept, das zur Strukturierung seines Meisterwerkes (Das Kapital) diente, das Engels anhand der Manuskripte ergänzte, es ist nicht das, was Piketty in seinem Buch bringt,[2] sondern zunächst eine gesellschaftliche Produktionsbeziehung, bevor es in seinen Formen und Ausdrücken in Erscheinung tritt.

2 – Da die von der kapitalistischen Dynamik hervorgerufene Vertiefung der sozialen Ungleichheiten und regionalen Asymmetrien unleugbar ist, dient die Suche nach «Lösungen» auf der Ebene der Distrubution der (fiskalisch korrigierten) Einkommen ausschliesslich oder überwiegend zur Verschleierung der Tatsache, dass die Verteilung durch die Beziehungen der Menschen in der Produktion bestimmt wird.[3]


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Anmerkungen:

1 Eugénio Rosa, Autor vieler ökonomischer Beiträge im «Avante!», war von der Zeitschrift “Expresso” zu einer Debatte über das Buch von Piketty eingeladen worden. Die Zeitschrift behauptete dann, sie habe Rosas Beiträge nicht erhalten, woraufhin Rosa dieselben selbst veröffentlichte: As respostas que o semanário EXPRESSO afirma não ter recebido e, por isso, não publicou (PDF, portugiesisch).

2 «First, throughout this book, when I speak of ‘capital’ without further qualification, I always exclude what economists often call (unfortunately, to my mind) ‘human capital’, which consists of an individual’s labor power, skills, training, and abilities. In this book, capital is defined as the sum total of nonhuman assets that can be owned and exchanged on some market. Capital includes all forms of real property (including residential real estate) as well as financial and professional capital (plants, infrastructure, machinery, patents, and so on) used by firms and government agencies.» (Piketty, Thomas, Capital in the Twenty-First Century, 2014, p.48)

3 “Das Beste an meinem Buch ist 1. (darauf beruht alles Verständnis der facts) der gleich im Ersten Kapitel hervorgehobne Doppelcharakter der Arbeit, je nachdem sie sich in Gebrauchswert oder Tauschwert ausdrückt; 2. die Behandlung des Mehrwerts unabhängig Von seinen besondren Formen als Profit, Zins, Grundrente etc. Namentlich im zweiten Band wird sich dies zeigen. Die Behandlung der besondren Formen in der klassischen Ökonomie, die sie beständig mit der allgemeinen Form zusammenwirft, ist eine Olla Potrida [Mischmasch].” Dabei gibt Marx zu, es habe ihn “viel Schweiss gekostet, die Sachen selbst zu finden, d.h. ihren Zusammenhang”. (Marx an Engels, [London] 24. Aug. 1867. In: MEW Band 31, Seite 167.)

Quelle: O capital(ismo) no século XXI e duas breves notas (Jornal «Avante!», N.º 2118, 3.Julho.2014) | Übersetzung: kommunisten (04.07.2014)


Siehe auch:


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