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Die Sektoren MIC, OGAM und FIRE erobern die Nato
von MICHAEL HUDSON, 28. Februar 2022
Mein ehemaliger Boss Herman Kahn, mit dem ich in den 1970er Jahren am Hudson Institute zusammenarbeitete, hatte eine Standardrede, die er jeweils bei öffentlichen Veranstaltungen hielt. Er sagte, dass seine Lehrer damals, als er in Los Angeles die Highschool besuchte, das sagten, was die meisten Liberalen in den 1940er und 50er Jahren zu sagen pflegten: «Kriege haben noch nie etwas gelöst.» Es war, also ob sie nie etwas verändert hätten – und deshalb auch nicht geführt werden sollten.
Herman war anderer Meinung und erstellte Listen mit allen möglichen Dingen, die im Laufe der Weltgeschichte durch Kriege gelöst oder zumindest verändert wurden. Er hatte Recht, und das ist natürlich das Ziel beider Seiten in der heutigen Konfrontation des Neuen Kalten Krieges in der Ukraine.
Die zu stellende Frage ist, was der heutige Neue Kalte Krieg zu ändern oder zu «lösen» versucht. Um diese Frage zu beantworten, ist es hilfreich zu fragen, wer den Krieg initiiert. Es gibt immer zwei Seiten – den Angreifer und den Angegriffenen. Der Angreifer beabsichtigt bestimmte Konsequenzen, und der Angegriffene sucht nach unbeabsichtigten Konsequenzen, die er ausnutzen kann. In diesem Fall gibt es auf beiden Seiten beabsichtigte Konsequenzen und spezielle Interessen.
Die aktive Militärmacht und der Aggressor seit 1991 sind die Vereinigten Staaten. Da eine gegenseitige Abrüstung der Länder des Warschauer Pakts und der Nato abgelehnt wurde, gab es keine «Friedensdividende». Stattdessen hat die von der Clinton-Administration und den nachfolgenden Regierungen verfolgte Politik der USA, eine neue militärische Expansion über die Nato zu betreiben, eine 30-jährige Dividende gezahlt, indem die Aussenpolitik Westeuropas und anderer amerikanischer Verbündeter aus deren inländischer politischer Sphäre in die Sphäre des eigenen, US-orientierten «nationalen Sicherheits»-Blobs (das Wort für Sonderinteressen, die nicht genannt werden dürfen) verlagert wurde. Die Nato ist zu Europas Entscheidungsgremium für Aussenpolitik geworden, sogar bis zu dem Punkt, dass sie die innenpolitischen Wirtschaftsinteressen dominiert.
Die jüngsten Provokationen gegen Russland durch die Ausweitung der antirussischen ethnischen Gewalt in der Ukraine durch das neonazistische Regime der Ukraine nach 2014 zielten darauf ab (mit Erfolg), einen Showdown zu erzwingen, da Amerika befürchtet, seinen wirtschaftlichen und politischen Einfluss auf seine Nato-Verbündeten und andere Satellitenstaaten des Dollarraums zu verlieren. Diese Länder haben grosse Gewinnchancen darin gesehen, den Handel und die Investitionen mit China und Russland zu steigern.
Um zu verstehen, welche Ziele und Interessen der USA bedroht sind, muss man die US-Politik und «den Blob» verstehen, d. h. die zentrale Regierungsplanung, die sich nicht durch die Betrachtung der scheinbar demokratischen Politik erklären lässt. Das ist nicht die Politik von US-Senatoren und -Abgeordneten, die ihre Wahlkreise oder Bundesstaaten vertreten.
Amerikas drei Oligarchien kontrollieren die US-Aussenpolitik
Die Wirtschafts- und Aussenpolitik der USA anhand des militärisch-industriellen Komplexes, des Öl- , Gas- und Bergbaukomplexes sowie des Banken- und Immobilienkomplexes zu betrachten, bietet mehr Realitätsnähe, als sie anhand der Politik der Republikaner und Demokraten zu beurteilen. Die wichtigsten Senatoren und Kongressabgeordneten vertreten in erster Linie die wirtschaftlichen und finanziellen Interessen ihrer Hauptwahlkampfspender und nicht so sehr ihre Bundesstaaten und Wahlkreise. Ein Venn-Diagramm würde zeigen, dass US-Politiker in der heutigen Welt – nach dem Citizens United-Urteil – ihre Wahlkampfspender vertreten und nicht die Wähler. Und diese Spender lassen sich im Wesentlichen in drei Hauptblöcke einteilen.
Drei grosse oligarchische Gruppen haben die Kontrolle über den Senat und den Kongress gekauft, um ihre eigenen Entscheidungsträger in das Aussen- und Verteidigungsministerium zu bringen. Die erste Gruppe ist der militärisch-industrielle Komplex (MIC) – Waffenhersteller wie Raytheon, Boeing und Lockheed-Martin. Sie haben ihre Fabriken und Arbeitsplätze auf fast alle Bundesstaaten verteilt, insbesondere auf die Kongressbezirke, in denen die Vorsitzenden der wichtigsten Kongressausschüsse gewählt werden. Ihre wirtschaftliche Basis ist die Monopolrente, die sie vor allem durch ihre Waffenverkäufe an die Nato, an Ölexporteure im Nahen Osten und an andere Länder mit einem Zahlungsbilanzüberschuss erzielen.
Die Aktien dieser Unternehmen stiegen unmittelbar nach der Nachricht vom russischen Angriff sprunghaft an und führten zu einem zweitägigen Börsenaufschwung, da die Anleger erkannten, dass ein Krieg in einer Welt des Kosten-plus-«Pentagon-Kapitalismus» (wie Seymour Melman ihn bezeichnete) einen garantierten nationalen Sicherheitsschirm für die Monopolgewinne der Rüstungsindustrie bieten wird. Senatoren und Kongressabgeordnete aus Kalifornien und Washington haben traditionell den Militärisch-Industriellen Komplex (MIC) vertreten, zusammen mit dem militärfreundlichen Süden. Die militärische Eskalation der vergangenen Woche verspricht steigende Waffenverkäufe an die Nato und andere Verbündete der USA, was die eigentlichen Wähler dieser Politiker bereichert. Deutschland erklärte sich schnell bereit, seine Rüstungsausgaben auf über 2 Prozent des BIP zu erhöhen.
Der zweite grosse oligarchische Block (OGAM) ist der Renten abschöpfende Öl- und Gassektor, dem sich der Bergbausektor anschliesst. OGAM profitiert von Amerikas spezieller Steuerbegünstigung für Unternehmen, die natürliche Ressourcen aus dem Boden holen und sie dann grösstenteils in die Atmosphäre, die Ozeane und die Wasserversorgung leiten. Wie der Banken- und Immobiliensektor, der die wirtschaftliche Rente und die Kapitalerträge für Wohnraum und andere Vermögenswerte maximieren will, ist es das Ziel des OGAM-Sektors, den Preis für Energie und Rohstoffe zu maximieren, um seine Rente aus natürlichen Ressourcen zu erhöhen. Den Ölmarkt des Dollarraums zu monopolisieren und ihn von russischem Öl und Gas zu isolieren, war seit über einem Jahr eine der Hauptprioritäten der USA, da die Nord-Stream-2-Pipeline die westeuropäische und die russische Wirtschaft enger miteinander zu verbinden drohte.
Wenn auch nicht in jedem Wahlbezirk der USA Öl-, Gas- und Bergbauunternehmen ansässig sind, so sind es zumindest deren Investoren. Senatoren aus Texas und anderen westlichen Ölförder- und Bergbaustaaten sind die führenden OGAM-Lobbyisten, und das Aussenministerium wird stark vom Ölsektor beeinflusst, weshalb es dem Sektor spezielle Steuererleichterungen unter dem Deckmantel der nationalen Sicherheit gewährt. Ein weiteres politisches Ziel besteht darin, Umweltschutzbestrebungen zu ignorieren und abzulehnen, die darauf ausgerichtet sind, Öl, Gas und Kohle durch alternative Energiequellen zu ersetzen. Die Biden-Regierung hat dementsprechend die Ausweitung der Offshore-Bohrungen befürwortet, die kanadische Pipeline zur schmutzigsten Erdölquelle der Welt in den Ölsanden von Athabasca unterstützt und die Wiederbelebung des Frackings in den USA gefeiert.
Die Erweiterung der Aussenpolitik soll verhindern, dass andere Länder, die die Kontrolle über ihre Öl-, Gas- und Bergbauindustrie nicht OGAM-Unternehmen aus den USA überlassen, auf den Weltmärkten mit US-amerikanischen Lieferanten konkurrieren. Durch die Isolierung Russlands (und des Iran) von den westlichen Märkten wird das Angebot an Öl und Gas reduziert, was die Preise und Konzerngewinne entsprechend in die Höhe treibt.
Die dritte grosse oligarchische Gruppe ist der symbiotische Finanz-, Versicherungs- und Immobiliensektor (FIRE), der moderne finanzkapitalistische Nachfolger der alten postfeudalen Landaristokratie Europas, die von Grundrenten lebte. Da die meisten Wohnungen in der heutigen Welt in Eigenbesitz sind (wenn auch mit stark steigenden Quoten von abwesenden Eigentümern seit der Zwangsräumungswelle nach 2008 unter Obama), werden die Grundmieten grösstenteils an den Bankensektor in Form von Hypothekenzinsen und Schuldentilgung gezahlt (bei steigenden Verschuldungsgraden, da die Kreditvergabe der Banken die Immobilienpreise in die Höhe treibt). In den USA und Grossbritannien werden etwa 80 Prozent der Bankkredite an den Immobiliensektor vergeben, wodurch die Grundstückspreise in die Höhe getrieben werden, um Kapitalgewinne zu erzielen, die für abwesende Eigentümer praktisch steuerfrei sind.
Dieser Wall-Street-zentrierte Banken- und Immobilienblock ist auf Bezirksebene sogar noch breiter vertreten als der MIC. An der Spitze des Senats steht der New Yorker Senator von Wall Street, Chuck Schumer, der lange Zeit von Joe Biden, dem ehemaligen Senator von Delaware aus der Kreditkartenbranche, unterstützt wurde, sowie von Senatoren aus Connecticut, die im Versicherungssektor dieses Bundesstaates tätig sind. Im Inland besteht das Ziel dieses Sektors darin, die Grundrente und die aus der steigenden Grundrente resultierenden «Kapitalgewinne» zu maximieren.
Auf internationaler Ebene besteht das Ziel des FIRE-Sektors darin, ausländische Volkswirtschaften zu privatisieren (vor allem, um das Privileg der Kreditschöpfung in US-amerikanischer Hand zu sichern), sodass staatliche Infrastruktur und öffentliche Versorgungsbetriebe in gewinnorientierte Monopole umgewandelt werden, die dann grundlegende Dienstleistungen (wie Gesundheitsversorgung, Bildung, Transport, Kommunikation und Informationstechnologie) zu Höchstpreisen anbieten, statt zu subventionierten Preisen, die die Lebenshaltungs- und Geschäftskosten senken. Darüber hinaus war Wall Street schon immer eng mit der Öl- und Gasindustrie verflochten (siehe die Rockefeller-dominierten Bankenkonglomerate Citigroup und Chase Manhattan).
Die FIRE-, MIC- und OGAM-Sektoren sind die drei Rentiersektoren, die den heutigen postindustriellen Finanzkapitalismus dominieren. Ihr gemeinsames Vermögen schoss in die Höhe, als die MIC- und OGAM-Aktienkurse nach dem militärischen Einmarsch Russlands stiegen. Und die Bestrebungen, Russland aus dem westlichen Finanzsystem (und teilweise auch aus SWIFT) auszuschliessen, gekoppelt mit den negativen Auswirkungen, die sich aus der Isolierung der europäischen Volkswirtschaften von russischen Energiequellen ergeben, versprechen einen Zufluss in dollarisierte Finanztitel.
Wie eingangs erwähnt, ist es hilfreicher, die Wirtschafts- und Aussenpolitik der USA anhand der Komplexe zu betrachten, die auf diesen drei Rentiersektoren basieren, als anhand der Politik der Republikaner und Demokraten. Die wichtigsten Senatoren und Kongressabgeordneten vertreten in erster Linie nicht ihre Bundesstaaten und Wahlkreise, sondern die wirtschaftlichen und finanziellen Interessen ihrer Hauptsponsoren. Daher spielen weder die Fertigungsindustrie noch die Landwirtschaft eine bedeutende Rolle in der heutigen US-Aussenpolitik. Die Konvergenz der politischen Ziele der drei vorherrschenden Rentiergruppen Amerikas überlagert die Interessen der Arbeiterschaft und sogar des Industriekapitals jenseits des MIC. Diese Konvergenz ist das bestimmende Merkmal des heutigen postindustriellen Finanzkapitalismus. Es handelt sich im Grunde um eine Rückkehr zur Rentenökonomie, die nicht von der Politik der Arbeiterschaft und des Industriekapitals abhängig ist.
Heute gilt es, die Dynamik zu verstehen, die hinter dem Interesse dieses oligarchischen Blobs steht, Russland in eine Situation zu drängen, die Russland offensichtlich in eine «Alles oder Nichts»-Haltung getrieben hat, um den zunehmend brutalen Angriffen auf die russischsprachigen Provinzen der Ostukraine, Luhansk und Donezk, sowie den umfassenderen westlichen Drohungen gegen Russland die Stirn zu bieten.
Was der Neue Kalte Krieg für den Rentier-«Blob» bedeutet
Wie Präsident Biden erklärte, geht es bei der derzeitigen von den USA orchestrierten militärischen Eskalation («den Bär anstacheln») nicht wirklich um die Ukraine. Biden versprach von Anfang an, dass keine US-Truppen zum Einsatz kommen werden. Aber er fordert seit über einem Jahr, dass Deutschland die Nord-Stream-2-Pipeline verhindert, damit die Industrie und die Haushalte nicht mit günstigem Gas versorgt werden, sondern mit dem viel teureren Gas der US-Lieferanten.
Die US-Beamten versuchten zunächst, die Fertigstellung der Pipeline zu stoppen. Firmen, die am Bau beteiligt waren, wurden sanktioniert, aber letztendlich stellte Russland selbst die Pipeline fertig. Der Druck der USA richtete sich dann gegen die normalerweise gefügigen deutschen Politiker, mit der Behauptung, dass Russland die nationale Sicherheit Deutschlands und des restlichen Europas bedrohe, indem es den Gashahn zudrehe, vermutlich um politische oder wirtschaftliche Zugeständnisse zu erzwingen. Es konnten keine konkreten russischen Forderungen erfunden werden, sodass ihr Inhalt vage und schwammig blieb. Deutschland weigerte sich, die offizielle Inbetriebnahme von Nord Stream 2 zu genehmigen.
Ein Hauptziel des heutigen Neuen Kalten Krieges ist es, den Markt für US-amerikanische Lieferungen von Flüssigerdgas (LNG) zu monopolisieren. Bereits unter der Regierung von Donald Trump wurde Angela Merkel dazu genötigt, 1 Milliarde Dollar für den Bau neuer Hafenanlagen für US-amerikanische Tankschiffe zu versprechen, um Erdgas für den deutschen Gebrauch zu entladen. Der Wahlsieg der Demokraten im November 2020 und der anschliessende Rückzug von Frau Merkel aus der deutschen Politik führten zur Streichung dieser Hafeninvestition. Damit blieb Deutschland nicht viel mehr übrig, als russisches Gas zu importieren, um seine Häuser zu heizen, seine Stromversorger mit Energie zu beliefern und Rohstoffe für seine Düngemittelindustrie bereitzustellen, damit die Produktivität der Landwirtschaft erhalten bleibt.
Das dringendste strategische Ziel der USA bei der Konfrontation der Nato mit Russland besteht also darin, die Öl- und Gaspreise in die Höhe zu treiben, vor allem zum Nachteil Deutschlands. Höhere Energiepreise werden nicht nur Profite und Börsengewinne für US-Ölkonzerne generieren, sondern auch die deutsche Wirtschaft erheblich schwächen. Damit zeichnet sich ab, dass die Vereinigten Staaten Deutschland zum dritten Mal in einem Jahrhundert besiegt haben werden, und jedes Mal konnten sie ihre Kontrolle über die deutsche Wirtschaft ausbauen, die immer stärker von den Vereinigten Staaten abhängig ist, was Importe und politische Führung anbelangt, wobei die Nato als wirkungsvolles Mittel gegen jeglichen nationalistischen Widerstand im Inland dient.
Höhere Benzin-, Heiz- und andere Energiepreise werden auch den Verbrauchern in den USA und in anderen Ländern (insbesondere in den energiearmen Volkswirtschaften des Globalen Südens) schaden und dazu führen, dass die US-amerikanischen Familien weniger Geld für den Kauf von inländischen Waren und Dienstleistungen zur Verfügung haben. Dies könnte marginalisierte Hausbesitzer und Investoren in Bedrängnis bringen und zu einer weiteren Konzentration von abwesendem Eigentum an Wohn- und Gewerbeimmobilien in den Vereinigten Staaten führen, sowie zu Aufkäufen von Immobilien von in Not geratenen Eigentümern in anderen Ländern, die mit steigenden Heiz- und Energiekosten konfrontiert sind. Aber das wird vom postindustriellen Blob als Kollateralschaden angesehen.
Auch die Lebensmittelpreise werden steigen, vor allem für Weizen. (Russland und die Ukraine sind für 25 Prozent der weltweiten Weizenexporte verantwortlich.) Das wird viele Lebensmitteldefizitländer im Nahen Osten und im Globalen Süden stark belasten, ihre Zahlungsbilanz verschlechtern und die Gefahr von Zahlungsausfällen bei Auslandsschulden erhöhen.
Als Reaktion auf die Währungs- und SWIFT-Sanktionen könnte Russland den Export von Rohstoffen blockieren. Das könnte zu Unterbrechungen der Lieferketten für wichtige Materialien wie Kobalt, Palladium, Nickel und Aluminium führen (deren Produktion viel Strom verbraucht, was den Hauptkostenfaktor darstellt – höhere Strompreise werden diese Metalle also teurer machen). Falls China zu dem Schluss kommt, dass es als nächstes bedroht ist, und sich Russland anschliesst, um gemeinsam gegen den US-Handel, die Finanzkriegsführung und militärische Bedrohungen zu protestieren, werden die westlichen Volkswirtschaften einen schweren Schock erleiden.
Der lang ersehnte Traum der US-amerikanischen «Neuen Kalten Krieger» ist es, Russland zu zerschlagen oder zumindest seine von den Jelzin/Harvard-Jungs geführte Kleptokratie wiederherzustellen, in der Oligarchen versuchen, ihre Privatisierungen an den westlichen Aktienmärkten in Geld zu verwandeln. OGAM träumt immer noch davon, die Mehrheitskontrolle über Yukos und Gazprom zu erwerben. Wall Street würde liebend gerne nochmals einen russischen Börsenboom entfachen. Und MIC-Investoren sehen der Aussicht, mehr Waffen zu verkaufen, um all dies zu erreichen, freudig entgegen.
Russland beabsichtigt, von Amerikas unbeabsichtigten Folgen zu profitieren
Was will Russland? Zunächst einmal will es die neonazistische, antirussische Kerngruppe beseitigen, die durch das Massaker und den Putsch auf dem Maidan 2014 an die Macht gekommen ist. Die Ukraine soll neutralisiert werden, was für Russland im Grunde bedeutet, dass sie pro-russisch und von Donezk, Luhansk und der Krim dominiert sein soll. Ziel ist es, zu verhindern, dass die Ukraine zu einem Stützpunkt für US-orchestrierte antirussische Aktionen à la Tschetschenien und Georgien wird.
Russlands längerfristiges Ziel ist es, Europa von der Vorherrschaft der Nato und der USA zu lösen – um im Zuge dessen gemeinsam mit China eine neue multipolare Weltordnung zu schaffen, die auf einem wirtschaftlich integrierten Eurasien basiert. Es geht darum, die Nato gänzlich aufzulösen und dann die von Russland geforderte umfassende Abrüstungs- und Denuklearisierungspolitik voranzutreiben. Damit würde nicht nur der Kauf von US-Waffen im Ausland zurückgehen, sondern es könnte auch zu Sanktionen gegen künftige militärische Abenteuer der USA führen. Das würde die Möglichkeiten Amerikas einschränken, seine Militäroperationen zu finanzieren, da es zu einer beschleunigten Entdollarisierung käme.
Inzwischen sollte jedem informierten Beobachter klar sein, dass (1) der Zweck der Nato Aggression und nicht Verteidigung ist und (2) kein weiteres Territorium übrig ist, das sie von den Überresten der alten Sowjetunion erobern könnte. Was hat Europa also von einer fortgesetzten Mitgliedschaft? Offensichtlich wird Russland nie wieder in Europa einmarschieren. Es hat nichts zu gewinnen – und hatte nichts zu gewinnen, indem es die Ukraine bekämpft, ausser die von der Nato unterstützte Expansion in das Land rückgängig zu machen und die von der Nato unterstützten Angriffe auf Noworossija zu stoppen.
Werden die nationalistischen europäischen Staats- und Regierungschefs (die Linke ist weitgehend pro-amerikanisch) fragen, warum ihr Land für US-Waffen bezahlen soll, die es nur in Gefahr bringen, warum es höhere Preise für US-Flüssiggas und Energie zahlen soll, für Getreide und in Russland produzierte Rohstoffe, während es gleichzeitig die Möglichkeit verliert, Exportverkäufe und Gewinne aus friedlichen Investitionen in Russland zu erzielen – und vielleicht auch China verliert?
Die Beschlagnahmung russischer Währungsreserven durch die USA, die auf den jüngsten Diebstahl der afghanischen Reserven (und die Beschlagnahmung der in London gelagerten Goldbestände Venezuelas durch die Bank of England) folgte, könnte dazu führen, dass sich Länder nicht mehr an den Dollarstandard halten, was die Rolle des Dollars als Vehikel für Deviseneinsparungen der Zentralbanken der Welt in Frage stellt. Dadurch wird der internationale Prozess der Entdollarisierung beschleunigt, der bereits von Russland und China eingeleitet wurde, indem sie sich auf gegenseitige Währungsbestände stützen.
Langfristig wird Russland sich wahrscheinlich China anschliessen und eine Alternative zum IWF und zur Weltbank bilden, die von den USA dominiert werden. Russlands Ankündigung, die ukrainischen Nazis verhaften und wegen Kriegsverbrechen vor Gericht stellen zu wollen, scheint darauf hinzudeuten, dass nach dem militärischen Sieg Russlands in der Ukraine eine Alternative zum Internationalen Strafgerichtshof in Den Haag geschaffen werden soll. Nur ein neues internationales Gericht könnte Kriegsverbrecher – von der Neonazi-Führung der Ukraine bis hin zu US-Beamten – für Verbrechen gegen die Menschlichkeit im Sinne der Nürnberger Gesetze zur Verantwortung ziehen.
Ich gehe davon aus, dass Russland sich in dieser Woche zurückziehen wird. Ich kann mir nicht vorstellen, dass es die Absicht hat, Ressourcen und Menschenleben für eine Besetzung aufzuwenden. Seine erste Aufgabe bestand darin, den Angriff auf die russischsprachigen östlichen Provinzen zu stoppen und die Krim zu schützen. Seine zweite Aufgabe bestand darin, die neonazistischen Streitkräfte zu vernichten, ihre Anführer nach Möglichkeit gefangen zu nehmen und sie wegen Kriegsverbrechen vor Gericht zu stellen – und dann die Leiter hochzugehen bis zu ihren Sponsoren in den USA, NED usw.
Es ist natürlich möglich, dass Europa sich abspaltet. In diesem Fall wird sich Russland China und den Mitgliedern der SOZ (Shanghaier Organisation für Zusammenarbeit) zuwenden. Europa wird unter schwerwiegenden Lieferkettenproblemen, einer Inflation der Rohstoffpreise und Budgetengpässen für seine Bevölkerung und die Regierungen leiden.
Hat der amerikanische Blob die Konsequenzen des Nato-Krieges wirklich durchdacht?
Es grenzt schon an schwarzen Humor, wenn man beobachtet, wie die USA versuchen, China davon zu überzeugen, sich den Vereinigten Staaten anzuschliessen und Russlands Vorgehen in der Ukraine zu verurteilen. Die gewaltigste unbeabsichtigte Folge der US-Aussenpolitik besteht darin, dass Russland und China sich verbünden, zusammen mit dem Iran, Zentralasien und anderen Ländern entlang der Neuen Seidenstrasse.
Am Ende des Kalten Krieges träumte Russland von einer neuen Weltordnung, aber es war das amerikanische Abenteurertum, das die Welt in eine völlig neue Ordnung getrieben hat – eine, in der China als der eigentliche Gewinner hervorzugehen scheint, da die europäische Wirtschaft im Wesentlichen auseinandergerissen wird und Amerika nur noch die Währungsreserven verbleiben, die es sich von Russland und Afghanistan angeeignet hat, ohne dass es in der Lage wäre, sich zukünftige Unterstützung zu sichern.
Und alles, was ich oben geschrieben habe, könnte bereits überholt sein, wenn Russland und die USA in atomare Alarmbereitschaft versetzt werden. Dann bleibt nur noch zu hoffen, dass Putin und Biden sich in einem Teufelspakt (nicht Gentleman’s Agreement) darauf einigen, einander nicht zu bombardieren, falls Russland Wasserstoffbomben auf Grossbritannien und Brüssel abwirft.
Bei solchen Gesprächen muss ich an meine Diskussionen mit Herman Kahn vor 50 Jahren denken. Er machte sich ziemlich unbeliebt, weil er das Buch «Thinking about the Unthinkable» schrieb, womit er den Atomkrieg meinte. Wie er in Dr. Strangelove parodiert wurde, sagte er, dass es in der Tat Überlebende geben würde. Aber er fügte hinzu, dass er für sich selbst hoffte, direkt von der ersten Atombombe getroffen zu werden, weil es keine Welt wäre, in der er überleben wollte.
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Quelle: Michael Hudson – On Finance, Real Estate and the Powers of Neoliberalism. Übersetzt mit Hilfe von DeepL.
Das sind die weiteren Beiträge unserer Spezialausgabe zum Ukrainekonflikt:
- Die USA bereiten sich darauf vor, Russland mit Gas zu unterwerfen. GLEN FORD in einer Reprise von 2014 über den Maidan-Putsch als Strategie für einen langwierigen Angriff der USA auf Russlands Energiehandel.
- Bei der Krise in der Ukraine geht es nicht um die Ukraine, sondern um Deutschland. MIKE WHITNEY in einer Reprise von 2022 über die Ukraine als Washingtons «Waffe der Wahl», um Nord Stream zu torpedieren und so einen Keil zwischen Deutschland und Russland zu treiben.
- Diese Krise ist irrational. Reprise eines Artikels von JACQUES BAUD aus dem Jahr 2022 über die Ereignisse im Februar jenes Jahres.