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Prekäre Arbeit


von Thomas Näf, Präsident Kabba [*]


Prekäre Arbeit

von Thomas Näf, Präsident Kabba [*]

Von der Hand in den Mund

Seit den frühen 90er Jahren tritt der Begriff der “Prekarisierung” auf. Damit ist gemeint, dass dauerhafte, stabile und rechtlich abgesicherte Arbeitsverhältnisse abgeschafft und durch kurzfristige, ungesicherte Beschäftigung verdrängt werden.
Für die Betroffenen bedeutet die prekäre Beschäftigung einen ständigen Druck, ein Leben von der Hand in den Mund, die völlige Unplanbarkeit des Lebens. Vor einer Generation sah der Arbeitsmarkt völlig anders aus. Es herrschte Vollbeschäftigung. Die Arbeitgeber schufen Anreize, um ihr Personal möglichst zu behalten und boten Sicherungen. Viele Stellenangebote verwiesen auf fortschrittliche Arbeitsbedingungen, nicht selten wurde der 13. Monatslohn und gelegentlich auch der 14. in Aussicht gestellt. Kurzfristige Stellenangebote wurden nun von denen beachtet, die aus persönlichen Gründen an kurzen oder bloss gelegentlichen Arbeitsverhältnissen interessiert waren. Typische Beispiel dafür war der Einsatz von Hilfskräften für bestimmte Anlässe ausserhalb des normalen Geschäftsbetriebs. Viele nicht voll berufstätige Hausfrauen, Studenten und andere Gruppen fanden so Gelegenheit, sich einen Zustupf zu verdienen.
Heute überwiegen für weite Teile des Arbeitsmarkts Stellenangebote, die keine Dauer und keine Sicherheit der Beschäftigung garantieren. Mehr als 50% der Zeitungsannoncen und vermutlich ein noch bedeutenderer Teil der tatsächlichen Abmachungen beim Vertragsabschluss weisen in Richtung prekäre Arbeit. Fast immer ist die prekäre Arbeit mit Löhnen im untersten Segment verbunden.

Woher kommt die Prekarisierung?

In den technischen Produktivkräften finden wir keine selbständige Ursachen für die Prekarisierung. Die Entwicklung der Technik konfrontiert die meisten Arbeitenden mit höheren Anforderungen. Der Lernaufwand für eine Grundausbildung und ebenso für die ständige Weiterbildung ist massiv angestiegen. Die Einarbeitungszeit für viele Berufe ist länger geworden. In vielen Bereichen hat sich die Arbeit grundlegend geändert, seit der Computer und das Internet aufkommen.
Die Prekarisierung erfasst besonders auch solche Berufstätigkeiten, die von den technischen Umwälzungen nur am Rande berührt werden. Ein klassisches Beispiel ist das Aufkommen von Putzinstituten und Reinigungsbetrieben. Was die Putzkolonnen heute tun, ist nichts anderes als das, was vor Jahrzehnten die Angestellten die logistischen Dienste von Banken, Versicherung, Verwaltung usw. erledigten. Eine Baufirma liess ihre Neubauten damals durch Bauarbeiter reinigen, die den Gesamtarbeitsverträgen des Bauhauptgewerbes unterstanden. Früher galt für alle diese Werktätigen der Schutz eines Dauerarbeitsvertrags, eines Gesamtarbeitsvertrags, oder ähnliche Garantien aus den öffentlich-rechtlichen Angestellten- und Beamtengesetzen.
Dieselbe Absicht und Methode, die sich im Falle der Putzinstitute deutlich zeigt, liegt auch der Auslagerung von gewissen Teilen der Produktion aus der Schweiz in Tieflohn-Länder zugrunde. Die Praxis der Kapitalisten, Betriebe und Abteilungen zu schliessen, in denen mit halbwegs anständigen Löhnen und zu einigermassen gesicherten Bedingungen gearbeitet wird, ist an sich nichts neues.
Es ist auch nicht neu, dass die Mittel des Staates eingesetzt werden, um den Kapitalisten die Verdrängung ordentlich ausgebeuteter Arbeit durch Arbeitsformen mit verschärfter Ausbeutung auf jede erdenkliche Weise erleichtern. Anstatt gut bezahlte, zukunftssichere Beschäftigung zu fördern, tun die Arbeitsmarktbehörden das pure Gegenteil. Sie fördern diese Verdrängung und zwingen die entlassenen Teile der Arbeiterklasse zur Rückkehr an die Arbeitsplätze zu schlechteren Bedingungen. Die unheilvollen Einflüsse sind den Arbeitsmarktforschern bekannt. Die künstliche Blüte der Putzinstitute ist mit dem Mist des Arbeitslosenversicherungsgesetzes gedüngt worden.
In Wirklichkeit handelt es sich bei vielen prekären Arbeitsverhältnissen wirtschaftlich betrachtet um Dauerarbeitsplätze. Die ständige Rotation der Arbeitskräfte hat keine betrieblichen Umstände zur Ursache, sondern dient nur der Verschlechterung der Arbeitsbedingungen und Löhne.[1]
Zusammenfassend ergibt sich, dass die Prekarisierung nicht als eine Folge von technischen Umwälzungen oder der sogenannten “Globalisierung” vom Himmel gefallen ist. Die Prekarisierung ist eine Frucht der kapitalistischen Wirtschaft und Politik. Sie ist eine Form der Verelendung der Arbeiterklasse unter dem Kapitalismus. Auf kapitalistischem Boden wird man sie nicht beseitigen können, aber man kann ihr entgegentreten.

Neues Unheil droht von der EU

Gegenwärtig droht den Lohnabhängigen neues[2] Unheil von der EU. Die Arbeitsminister der EU-Staaten haben sich auf eine Arbeitszeit-Richtlinie verständigt, die das Rad der Geschichte ins 19. Jahrhundert zurück drehen will. Die mittlere Wochenarbeitszeit soll auf 60 bis 65 Stunden herauf gesetzt werden. Wartezeiten während der Arbeit sollen nicht mehr voll als Arbeitszeit angerechnet werden. Der Zeitraum, innert welchem der Arbeitgeber die Überstunden ausgleichen muss, wird auf ein Jahr verlängert, was der Deregulierung Vorschub leistet. Unter bestimmten Bedingungen dürfen die Vertragsparteien durch individuelle Abmachung bis auf 78 Wochenstunden gehen.[3]
Das letzte Wort in dieser Sache ist noch nicht gesprochen. Im Dezember wird das EU-Parlament über diese Vorlage beraten. Bekannt ist, dass sich auch SP-Arbeitsminister hinter verschlossenen Türen diesem Entwurf nicht widersetzt haben, und dass in der vorberatenden EU-Parlamentskommission der Rückweisungsantrag der Fraktion der Vereinigten Europäischen Linken/Nordische Grüne Linke (GUE/NGL) von keiner einzigen anderen Fraktion unterstützt wurde. Die Parlamentarier rüsten sich zum EU-weiten Wahlkampf im kommenden Jahr. Das könnte bei Einigen für eine gewisse Zurückhaltung in der Parlamentsdebatte sorgen.

Was ist konkret zu fordern?

  • Der Rückgriff auf Temporärarbeitsverträge muss auf ausserordentliche Situationen beschränkt werden, wie etwa vorübergehende Beschäftigungssitzen des Betriebs oder Ersatz der permanent Beschäftigten, die wegen Ferien, Krankheit usw. ausfallen. Jedes Temporärverhältnis, das diesen Kriterien nicht entspricht, ist automatisch als Dauerarbeitsvertrag zu behandeln. Die temporär Beschäftigten müssen im Genuss derselben Löhne und Arbeitsbedingungen stehen wie Vollzeitbeschäftigte, einschliesslich aller gesamtarbeisvertraglichen Rechte in der Branche, in der ihre Arbeitskraft eingesetzt wird. Teilzeitarbeit und Temporärarbeit muss von Anfang an in jeder sozialversicherungsrechtlichen Hinsicht und punkto Sicherheit und Gesundheit den gleichen Vorschriften unterworfen werden, denen die ordentliche, dauerhafte bzw. vollzeitige Beschäftigung im Einsatzbetrieb unterliegt.
  • Zu fordern ist die Abschaffung jeder staatlichen Förderung der prekären Beschäftigung in direkter oder indirekter Form. Das gesamte System der Vorschriften über das Verhalten von Arbeitslosen, über amtliche Verhaltenskontrollen und Zuweisungen von Zwangsarbeit an Arbeitslose ist aufzuheben. Die “arbeitsmarklichen Massnahmen” nach heutiger Praxis sind zu bekämpfen. Jeder Einsatz in Beschäftigungsprogrammen und überhaupt auf dem künstlichen “zweiten Arbeitsmarkt” muss in ausnahmslos jeder Hinsicht mit der ordentlichen Beschäftigung im ersten Arbeitsmarkt gleichgestellt werden. Das betrifft auch die Sozialversicherungsrechte.[4] Nur so kann verhindert werden, dass nicht noch mehr ordentliche Beschäftigung durch prekäre Beschäftigung verdrängt wird.
  • Das Ganze ist auch eine Frage der Evaluation, also der korrekten Messung, Kontrolle und Bewertung der Wirksamkeit von arbeitsmarktlichen Vorschriften und Massnahmen. Man kann es nicht einfach hinnehmen, wenn die Arbeitsmarktbehörden, voran das Staatssekretariat für Wirtschaft (seco) die Wiederbeschäftigung von Arbeitslosen zu working-poor-Bedingungen als Erfolge verbuchen will. Als Erfolgskriterium der Vermittlung muss auch die Wiederbeschäftigungsqualität berücksichtigt werden. Ein arbeitsmarktlicher Erfolg ist nur dann gegeben, wenn die Wiederbeschäftigung zu ordentlichen und gesicherten Bedingungen erreicht ist. Nur eine solche Beschäftigung darf als zumutbar erachtet werden.
  • Im Hinblick auf zukünftige Arbeitskämpfe gewinnt auch eine andere alte Forderung an Gewicht: Es darf nicht zugelassen werden, dass Gruppen von Klassengenossen, die irgendeinem Sonderstatus unterstehen, in einer Weise eingesetzt werden, die das kollektive Arbeitsrecht in Frage stellt. Kampf gegen jeden Einsatz von Temporärbeschäftigten oder Arbeitslosen zur Streikbrecherei. Das muss einmal zum 90. Jahrestag des Landesgeneralstreiks vom November 1918 in Erinnnerung gerufen werden.
    (November 2008. In gekürzter Fassung gedruckt erschienen im «Vorwärts – die sozialistische Zeitung»)

Thomas Näf[5]

Fussnoten

1 vgl. Thomas Näf zum Tag gegen Armut und Ausgrenzung vom 17. Oktober 2008: Wir glauben nicht an den Storch

2 Nach allem schon gehabten Unheil in Sachen Lohndumping, Prekarisierung und Flexicurity, wie Bolkestein-Richtlinie, EU-Vorschriften gegen öffentliche Ausgaben (Maastricht-Klausel) und der angesammelten arbeiterfeindlichen Spruchpraxis des EU-Gerichtshofes (vgl. EU-Gerichtshof schleift das kollektive Arbeitsrecht zu Boden ; siehe auch: Kommunisten gegen Flexicurity und Prekarisierung). Zum Hintergrund: Thomas Näf: Trends des Arbeitsmarkts seit 1990

3 vergleiche dazu: Arbeitsminister der EU wollen Arbeitszeiten bis 65 Wochenstunden

4 Der Entwurf für eine Revision des Arbeitslosenversicherungsgesetzes (AVIG) sieht in Art. 23 Abs. 3bis eine Verschlechterung vor, indem die Beschäftigung in einem Programm nicht mehr als –anrechenbare Beitragszeit» anerkannt wird. Behaupteterweise will die Regierung damit verhindern, dass die Kantone solche Beschäftigungsprogramme lediglich zum Zweck organisieren, den Versicherten zu neuen Beitragszeiten zu verhelfen. (Siehe dazu: Betroffene gegen arbeitnehmerfeindliche Revision der Arbeitslosenversicherung )

5 Der Autor ist Präsident des Komitees der Arbeitslosen und Armutsbetroffenen und Bedrohten (KABBA.CH ).


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[*] Thomas Naef ist:

Homepage: thomasnaef.ch


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