Erstaunliche Positionen der KP Türkei
Zumal die Dokumente der KP (Türkei) natürlich für die Debatten unter Kommunisten eine wichtige Referenz bilden und da sie auch in deutscher Sprache verbreitet werden, muss hier vor Mängeln gewarnt werden, die sich in ihren Stellungnahmen gelegentlich bemerkbar machen. Die Solidarität mit den verschiedenen kommunistischen Kräften der Türkei, die ihren Weg selber bestimmen müssen, darf uns nicht an der Kritik an Fehlern hindern, erst recht nicht, wenn sich dieselben auch unter Kommunisten und Linken Westeuropas verbreitet finden. Es sind Fehler von allgemeinem Interesse, denn sie treten nicht nur zufällig oder gelegentlich und nicht nur in Bezug auf die Türkei auf: Fehler, deren Wurzeln tiefer liegen, und deren faule Früchte wir nacheinander in einer Reihe von Konflikten der letzten Jahre präsentiert bekommen haben, indem wir immer wieder linke Kräfte sehen, die sich direkt vor den Karren der Imperialisten spannen lassen, darunter vor allem Kräfte der Europäischen Linkspartei, die im Fall von Libyen, Syrien, der Ukraine wie in Brasilien den Putschvorbereitungen und Aggressionen gegen legitime Regierungen regelrecht zugedient haben, und anderseits einige kommunistische Parteien, die in den gleichen Dingen zu einer demobilisierenden Haltung der “Äquidistanz” tendieren, indem sie diese Konflikte als Gerangel unter ihresgleichen Imperialisten erklären, die uns nicht betreffen würden.
Erdogan ist notgedrungen zum Werkzeug des Patriotismus geworden
Es kann nicht bezweifelt werden, dass die in den letzten Jahren von Erdogan eingeleitete Annäherung an Russland seine alten Freunde aus USA frustriert hat. Besonders besorgniserregend empfindet man dort die Tendenz der Türkei zu strategischen Weichenstellungen in Richtung Eurasien, darunter die gross angelegten russisch-türkischen Vorhaben im Bereich der Energieerzeugung und -versorgung, und das hohe Interesse der Türkei an der Realisierung des Projekts “New Silk Road”, eines Wirtschaftsgürtels, der China mit Westasien und Europa verbinden soll. Was in der Türkei vorgeht, ist mit den Worten des Geopolitikers Yunus Soner nicht weniger als eine “gewaltige tektonische Verschiebung”, weg von der atlantischen Achse.[1]
Erdogan ist nicht der Schöpfer dieser Dynamik, aber er hat eingesehen, dass er sich ihrer nach Lage der Dinge nicht entziehen kann. Unter den gegebenen Kräfteverhältnissen wird der Staatspräsident sogar ein Stück weit dazu bestimmt, Träger dieser Dynamik zu sein. So verstehen wir (und übrigens auch die New York Times) auch die Worte von Dogu Perinçek : “Heute ist Erdogan von den patriotischen Kräften gefangen gesetzt worden”.[2]
Der Abschuss eines russischen Kampfflugzeugs durch türkische Piloten im letzten Herbst kam den US-Strategen daher wie gerufen: er führte sofort zur tiefen Abkühlung der Beziehungen zwischen Ankara und Moskau mit den bekannten Folgen, darunter Wirtschaftssanktionen und Unterbrechung der Zusammenarbeit, auf der anderen Seite Blockierung der Bestrebungen zur Emanzipation von NATO-Diktaten. Heute geht man davon aus, dass der damalige Abschuss einer russischen Maschine nicht nur wie bestellt erfolgt, sondern tatsächlich das Werk der US-freundlichen islamistischen Gülen-Sekte war. Wie sich herausstellt, soll es sich auch bei den Piloten, welche die Su-24 vom Himmel holten, um Mitglieder der subversiven Parallel-Struktur handeln. Der Abschuss war demnach eine Falle, die dem Staatspräsidenten von diesen US-Agenten präpariert wurde, und es fällt schwer zu glauben, dass dies ohne Wissen und Wollen von Offiziellen der USA geschehen ist. Als wahrscheinlicher zeichnet sich die Richtigkeit der gegenteiligen Hypothese ab, wonach die Aktion vom 24. November 2015 mit technischer Unterstützung von NATO-Spezialisten vorbereitet und bei ihrer Ausführung von den Maschinen der US Air Force geleitet wurde, welche den syrischen Luftraum mit fliegenden Radarsystemen (Awacs) aufklären.
Die Türkei steht im Visier des Imperialismus …
Allgemein sollten die Kommunisten an den aktuellen Kämpfen zur Behauptung der nationalen Souveränität eines Landes wie der Türkei gegen imperialistische Herrschaftsansprüche und Zumutungen teilnehmen und den internationalistischen, antiimperialistischen Charakter dieser patriotischen Kämpfe entwickeln. Innerhalb des patriotischen Lagers muss die Arbeiterklasse die Hegemonie anstreben, indem sie sich als zuverlässige Stütze der Souveränität, Unabhängigkeit und Wehrhaftigkeit ihres Landes und Volkes erweist und der Bourgeoisie den Anspruch auf das freiheitliche und nationale Banner streitig macht.[3]
Vor dem Hintergrund eines Konflikts, in welchem sich US-Imperialismus und Türkei gegenüberstehen, und in der objektiv gegebenen bedrohlichen Sicherheitslage ihres Landes wäre also – vom patriotischen und internationalistischen Standpunkt und den Erfordernissen des antiimperialistischen Kampfes her gesehen – von den türkischen Kommunisten zu erwarten, dass sie die Notwendigkeit von Repressionsmassnahmen (im Grundsatz) anerkennen und die bürgerliche Regierung dabei (bedingt) unterstützen, solange sich deren Massnahmen auf das Umfeld der Putschisten und Terroristen beschränken und nicht übers Ziel schiessen; ebenso wie zu erwarten ist, dass sie jedes Umschlagen der Säuberungskampagne gegen die Arbeiterklasse und gegen die laizistische Opposition schärfstens bekämpfen.
… aber nicht unmittelbar vor dem “letzten Gefecht”
Die Türkische KP scheint von wesentlich anderen Einschätzungen der Lage und Vorstellungen über ihre eigenen Aufgaben auszugehen, wenn sie in ihrer Stellungnahme einen Tag nach dem gescheiterten Putsch schreibt: “Es gibt keine Alternative für die einzige Macht, die die AKP erlegen kann und das ist das Volk”. Dieser Satz ist nur in seiner allgemeinsten unverbindlichsten Abstraktion richtig; zur konkreten Lage sagt er nichts Wichtiges aus, und der verbleibende Bruchteil an Richtigem dient gerade Schlussfolgerungen, die vollends in das Reich des Irrtums abgleiten. Im Fokus der Betrachtung der KP (Türkei) steht die Frage der Wahl des richtigen Mittels für die Entfernung der AKP-Regierung, Militärputsch sei die falsche Lösung, und “die AKP-Regierung in Schutz zu nehmen” wäre “das letzte”: das Gebot der Stunde liege im “verstärkten Kampf gegen die AKP”.[4]
Allesamt Ansinnen und Parolen, die man in NATO-Kreisen und zugewandten Orten sehr ähnlich diskutiert. So sinniert die deutsche Presse in diesen Tagen ausgiebig darüber, ob man nach dem gescheiterten Putsch nicht besser – anstatt auf einen neuen militärischen Versuch zu setzen – einen Finanzkrieg gegen die Türkei entfesseln sollte. Ein solcher ist übrigens bereits im Gang; darauf deuten auch die koordinierten Attacken internationaler Rating-Agenturen auf die Kreditwürdigkeit der Türkei, die notabene frei von öffentlicher Verschuldung dasteht!
Die türkische KP nimmt, grob zusammengefasst, eine Haltung ein, als ob das “letzte Gefecht” zum Sturz der Bourgeoisie vor der Tür stände. Was dagegen die geopolitische Realität der “tektonischen Verschiebung” anbelangt, schreibt die türkische KP: “Die Annäherung von Erdogan an diese oder jene internationale Achse ändert nichts an seinem Klassencharakter und seinen ideologischen Präferenzen. Recep Tayyip Erdogan ist ein bürgerlicher Politiker, ein Feind des werktätigen Volkes, ein Konterrevolutionär und er unterscheidet sich kein bisschen von den Putschisten, die ihn entmachten wollten.”[5]
Der Gegensatz zwischen nationaler Bourgeoisie und pro-imperialistischen Fraktionen wird geleugnet. Das soll eine Klassenanalyse sein? Es gleicht eher der Karikatur davon.
Die Zuspitzung des Kampfes gegen Erdogan und seiner AKP-Regierung just in einem Moment, in welchem die Türkei von der NATO herausgefordert wird, ihre nationale Souveränität (und territoriale Integrität) zu behaupten, und in welchem die Staatsführung sich einigermassen tapfer geschlagen hat, trägt zur Schwächung des verwundeten Landes bei und ist nach unserer Beurteilung ein nicht leicht zu nehmender politischer Fehler. Völlig unverantwortlich ist die Delegitimierung der Türkischen Streitkräfte, die in ihrer Mehrheit verfassungstreu geblieben sind, aber von der KP (Türkei) im Statement vom 16. Juli mit den Putschisten auf dieselbe Stufe gestellt werden: “Der Streit ist echt, aber, dass eine dieser Parteien auf irgendeine Weise die Interessen des Volkes in der Türkei vertreten könnte, ist einfach nur falsch.”
Mit alledem spielt die türkische KP den ärgsten Feinden der Arbeiterklasse und des türkischen Volkes in die Hand.
Die Komünist Parti (Türkiye) haut nicht zum ersten Mal völlig daneben
Leider muss man sagen, dass die türkischen Genossen (nicht allein sie) in methodischer Hinsicht zu einer schlechten Gewohnheit neigen, indem sie vom hohen Ross der abstrakten Weisheiten verächtlich auf die konkreten Umstände herab blicken. Was dabei herauskommt, ist nicht immer sofort als Unfug zu erkennen. Aber werfen wir einmal einen Blick zurück auf die “Erklärung der Kommunistischen Partei der Türkei zum Abschuß des russischen Flugzeuges” vom 24. November 2015.[6]
Die zentral gewichteten Aussagen dieses Dokuments erweisen sich heute allesamt als gegenstandslos. Und zum Pech der Genossen offenbart sich heute, dass die grösste Brisanz ausgerechnet im Umkreis der drei Fragen steckt, welche von der türkischen KP seinerzeit mit folgenden Worten als nebensächlich abgetan wurden: (1.) “eher zweitrangig, ob die russische Maschine unseren Luftraum tatsächlich verletzt hat oder nicht”; (2.) “eher zweitrangig, ob die NATO, die diese reaktionäre Bande, die unser Land regiert, mit der sie wie Marionetten spielt, diesem Abschuss zugestimmt hat oder nun deshalb den Erdogan fallen lassen wird.” (3.) “auch nicht so wichtig, ob Putin, der für seine Interessen und Pläne in der Region sein Spiel spielt, tatsächlich der ersehnte Befreier der Völker dieser Region ist.”
Allein der Gedanke daran, dass die NATO Erdogan “fallen lassen” könnte, weil dieser sich mit den Russen überwirft, war immer schon abwegig und erscheint im Rückblick noch lächerlicher. Wenn die NATO den Erdogan “fallen lassen” oder richtiger “zu Fall bringen” will, dann gerade weil er das Gegenteil tut.
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1 Russia Today, Cross Talk «Erdogan’s Turkey» (21.07.2016)
2 Siehe: Erdogan frustriert Hoffnungen der USA
3 Vgl. dazu die von brennender Aktualität bleibenden Ausführungen in Stalins Rede am XIX. Parteitag der Kommunistischen Partei der Sowjetunion, 14. Oktober 1952, J.W. Stalin, Werke, Bd. 15, S. 246-248; Textauszug: Kommunisten und Demokraten müssen das freiheitliche und nationale Banner erheben
4 KP (Türkei): Es gibt keine Alternative zum Volk (16.07.2016)
5 Juli-Auswertung des ZK der KP Türkei (Ziffer 5)
6 Erklärung der Kommunistischen Partei der Türkei zum Abschuß des russischen Flugzeuges (24.11.2015) – Man vergleiche dieses nichtssagende Dokument mit der seinerzeitigen Resolution der KP der Italienischen Schweiz zum gleichen Anlass, deren Aussagen durch die seitherigen Entwicklungen vollauf bestätigt werden: Die Kriegspläne der USA bremsen, die Völker Russlands, Syriens und der Türkei einigen, die schweizerische Neutralität hochhalten! (2.12.2015).
(mh/28.07.2015)
Siehe auch: