Eine byzantinische Epistel aus der Türkei
Empfänglichkeit der hiesigen Linken: fruchtbarer Boden für beliebige Aussaat
22.08.2016 – Was die Linken und Kommunisten hierzulande seit dem Putschversuch vom 15./16. Juli in der Türkei vorgezeigt haben, ist – von sehr wenigen Ausnahmen abgesehen – keine linke Politik, sondern Banalisierung des Politischen und dessen Umschlagen in Folklore. Die Sprachlosigkeit vieler kommunistischer Parteien und Ahnungslosigkeit der meisten linken Medien angesichts der Ereignisse in der Türkei führt dazu, dass allerlei rechts- und linksopportunistische Stimmen ein leichtes Spiel haben sich Gehör zu verschaffen, wenn ihre Beiträge bloss ins Konzept passen. Welches Konzept? In linken und kommunistischen Kreisen hält sich hartnäckig ein Vorurteil, das viel älter ist als Erdogans Machtantritt: die Türkei und jede Regierung der Türkei, ebenso jede egal wie geartete Politik, Massnahme oder Erklärung Ankaras wird mit einem erdrückenden Vorschuss von Feindseligkeit registriert, so dass sachliche Debatten im Keim ersticken müssen. Diese Scheuklappe wenn nicht Blindheit, verbunden mit Denkfaulheit und Desinteresse am Schicksal der Türkei, und gepaart mit dem Bestreben, dennoch seinen Senf zum Tagesthema zu geben, auch wenn man nichts zu sagen hat, hat schon einigen linken Unfug in Sachen Türkei hervorgebracht.
Diese missliche Lage erklärt auch, wieso in linken Kreisen ohne weiteres und scheinbar ungeprüft so ein Dokument hoch in Kurs kommen kann wie ein unter türkischer (gefühlt: griechischer) Flagge zirkulierender “Brief … an die Völker der Welt”.[1]
Bevor wir zur Kritik besagter Epistel “aus der Türkei” übergehen, begrüssen wir die Tatsache als solche, dass eine Partei ihre Auffassungen zu dieser Frage öffentlich kundtut und dem Risiko der Widerlegung in offener Debatte aussetzt, was gewöhnlich zur Vertiefung und Beschleunigung der Erkenntnisprozesse beiträgt. (Unter dem gleichen Aspekt wäre übrigens zu wünschen, dass die Parteien auch ihre archivierten Statements online anbieten: gerade im Fall der Türkei würde es sich lohnen, aus heutiger Perspektive einen Blick zurück zu werfen, die alten Analysen verschiedener internationaler Parteien nebeneinander zu stellen und noch einmal zu lesen, um zu sehen, wessen Einschätzungen sich seither bewahrheitet, oder denn widerlegt oder gar als absurde Spekulationen erwiesen haben. Dies nebenbei.)
KRITIK der EPISTEL
Hauptschwäche und Wurzel von Irrtümern: das Verkennen der tektonischen Bewegung
Angesichts des verbreiteten Unwissens oder Halbwissens über die Türkei und der gezielten Desinformationen würden es die “Völker der Welt” es hoch zu schätzen wissen, von einer vor Ort tätigen kommunistischen Partei aus erster Hand Klarheit über die Lage im Land zu erhalten. Leider versagt da die türkische KP vollständig und trägt ihrerseits zur Vernebelung bei.
Nach kurzer Einleitung mit einigen wenigen mehr oder weniger zutreffenden Einschätzungen gleitet die Epistel in krampfhaftes Bemühen um Gleichsetzung der Putschisten vom 15. Juli – hinter denen sie zu Recht die mit der CIA verbundene Gülen-Sekte sieht – mit deren Zielscheibe, dem türkischen Staatspräsidenten Recep Tayyip Erdoğan (“gemeinsame ideologische wie politische Wurzeln”), das sich durch die gesamte Epistel durchzieht (z.B.: “Die jetzige Regierung ist eng mit diesen Putschisten verwandt”, usw.), während sie gerade das allerwichtigste Element unterschlägt, nämlich die Abwendung Erdogans von seiner früheren (pro-imperialistischen) Politik, welche – wie sich das von selbst versteht – von allen US-Marionetten gefördert wurde, so auch von der Gülen-Sekte. Während es die hiesige Linke an Unterscheidungsvermögen fehlen lässt und darin von dieser Epistel bestärkt wird, muss man leider zugeben, dass die Medien der imperialistischen Bourgeoisie da weit professioneller vorgehen und eine bestimmte Politik Erdogans, die jahrelang den imperialistischen Interessen diente, sehr wohl von dem zu unterscheiden wissen, was Erdogan in den letzten paar Jahren tut und vom Westen als frustrierend empfunden wird.[2]
Die sich seit einigen Jahren immer deutlicher ankündigende aussenpolitische Kehrtwende Ankaras ist nun in eine entscheidende Phase gelangt. Sie ist nicht einer Laune Erdogans entsprungen, sondern Manifestation eines Prozesses, für welchen der Geopolitiker Yunus Soner den Ausdruck “tektonische Bewegung” geprägt hat: die Türkei bewegt sich weg vom Atlantikpakt und hin zu Eurasien.[3]
In der Darstellung der türkischen KP ist es gerade diese 180-Grad-Wendung, die völlig untergeht: die Tatsache, dass Erdogan seit einigen Jahren eine mehr und mehr patriotische Politik verfolgt und eben deswegen zur Zielscheibe von Aggressionen wird, welche der Imperialismus durch seine verschiedenen Handlanger vor Ort (PKK, ISIS, Gülenisten) ausführen und international durch die gleichgeschalteten westlichen Medien absegnen lässt.
Putin mit Zuckerbrot und Peitsche?
Zu den russisch-türkischen Beziehungen verkündet die Epistel “an die Völker der Welt”:
“Die Spannungen zwischen Erdogan und den USA sowie manchen europäischen Ländern basieren auf mehreren Gründen. Vordergründig kann man den Misserfolg in Syrien, Erdogans Aufheizung der Spannungen in der Türkei, seine Unkontrollierbarkeit sowie den breiten Spielraum, den er sich auch mit der Unterstützung seiner Wählerschaft verschaffen konnte, benennen. Nun werden diese Spannungen ein Teil des Kampfes zwischen Russland und der USA sowie ihren Verbündeten, hinter dem eine tiefe ökonomische wie politische Konkurrenzsituation steht. Die Putin-Regierung nähert sich dem Erdogan und seinen Freunden, die sich in einem Überlebenskampf befinden und sowohl innen- wie auch außenpolitisch immer mehr isoliert sind, mit Zuckerbrot und Peitsche und ermuntert sie zum Austritt aus der NATO oder zumindest zur Distanzierung von ihrer Belagerungspolitik gegenüber Russland.”
Lassen wir einmal die fadenscheinigen Erklärungen zu den Spannungen zwischen Erdogan und den USA und weitere “Details” beiseite und wenden uns Putins Peitsche zu: Der Ausdruck “Zuckerbrot und Peitsche” wird gewöhnlich verwendet zur Bezeichnung einer unzulässigen Beeinflussung des Willens durch die Koppelung von zwei Elementen, die schon jedes für sich genommen für ungehörig gelten: nämlich Bestechung (Zuckerbrot) plus Erpressung/Nötigung (Peitsche). Die Epistel führt leider nicht aus, was am russischen Vorgehen unzulässig sein soll und was sie als Peitschenhiebe Putins betrachtet. (Sofern die zurückliegenden Reaktionen Russlands auf den Abschuss eines russischen Flugzeugs durch türkische Piloten damit gemeint sind, so waren das jedenfalls keine Peitschenhiebe im Sinne der Redensart.)
Weder in den von Russland gewählten Mitteln noch in den von der russischen Führung verfolgten oder ihr unterstellten Zielen (laut Epistel die Ermunterung der Türkei “zum Austritt aus der NATO oder zumindest zur Distanzierung von ihrer Belagerungspolitik gegenüber Russland”) werden die “Völker der Welt” Unzulässiges erkennen.
Mit solchen Aussagen und weiteren hier nicht zitierten Passagen gegen den russischen Staatspräsidenten (siehe Ziffer 4. der Epistel) dient die türkische KP lediglich der Diskreditierung der russischen Politik der Annäherung an die Türkei. Desgleichen versucht sie auch den guten Willen Ankaras zur ehrlichen Zusammenarbeit mit Moskau in Zweifel zu ziehen:
“Eine nicht zu unterschätzende Anzahl von Regierungsmitgliedern beschuldigen die USA sowie EU mit harten Worten und fordern offen: ‘Wir müssen mit Russland kooperieren’. Sicherlich ist dies zurzeit nicht die Wahl der türkischen Bourgeoisie, sondern ein Resultat der Suche der regierenden, von Angst getriebenen Clique nach einem sicheren Hafen.”
Ferner: Was heisst, die Kooperation mit Russland sei “nicht die Wahl der türkischen Bourgeoisie”? Wer ist “die” türkische Bourgeoisie? Der wissenschaftliche Sozialismus geht von der Erfahrung aus, dass der Imperialismus in den kolonialen und abhängigen Ländern eine Spaltung der Bourgeoisie hervorbringt: der Kapitalexport erzeugt eine vom Imperialismus abhängige Kompradoren-Bourgeoisie, im Gegensatz zur “nationalen” (an nationalen Akkumulationsstrategien orientierten) Fraktion der Bourgeoisie. Nach Stalin “ist die Unterjochung durch den Imperialismus anderer Staaten einer der Faktoren der Revolution, hier ist dieses Joch, wie es nicht anders sein kann, auch für die nationale Bourgeoisie fühlbar, hier kann die nationale Bourgeoisie in einem bestimmten Stadium und für eine bestimmte Zeit die revolutionäre Bewegung ihres Landes gegen den Imperialismus unterstützen, hier ist das nationale Moment als Moment des Befreiungskampfes ein Faktor der Revolution.”[4] Der Imperialismus kann gar nicht anders, als dem einheimischen Kapital auf die Füsse zu treten und dessen Entwicklung zu hemmen.
Das imperialistische Joch wird nach dem Verschwinden der Sowjetunion erst recht unerträglich, denn unter dem neuen internationalen Kräfteverhältnis[5] entfaltet sich der reaktionäre (räuberische, parasitäre, aggressive, brutale, usw.) Charakter des Imperialismus umso hemmungsloser, auch auf Kosten der nationalen Bourgeoisie. Da zusammen mit dem Untergang der UdSSR zugleich die Angst der Bourgeoisie vor dem Kommunismus als wichtiges Handlungsmotiv entfällt, ist die nationale Bourgeoisie der Türkei umso weniger gewillt, Tribute und Herrschaftsgebühren an die atlantischen Schirmherren zu überweisen und von dorther Diktate und Konditionierungen der eigenen Entfaltung hinzunehmen.
KP Türkei erklärt Bruch mit NATO für unmöglich und gefährlich
Und gleich anschliessend an die zuvor zitierte Passage folgt der dickste Hund:
“Die Beseitigung der ökonomischen, politischen, und militärischen Beziehungen der Türkei insbesondere mit den USA und Deutschland sind nur durch eine sozialistische Revolution möglich. Ein Richtungswechsel innerhalb des heutigen Systems erhöht die Wahrscheinlichkeit von Chaos, Konflikt sowie Bürgerkrieg und Krieg.”
Mit dieser Passage bekennt sich die türkische KP zum Verbleib der Türkei in der NATO und zur Beibehaltung der NATO-Stützpunkte auf türkischem Territorium, indem sie eine “Beseitigung der … militärischen Beziehungen” (also einen NATO-Austritt) auf dem Boden der kapitalistischen Wirtschaftsordnung für unmöglich und im zweiten Satz sogar für verhängnisvoll hinstellt. Mit diesen Worten wird die türkische patriotische und antiimperialistische Linke, welche tatsächlich gegen die NATO kämpft, für “Chaos, Konflikt sowie Bürgerkrieg und Krieg” verantwortlich gemacht. Es ist bedauerlicherweise nicht das erste Mal, dass die Komünist Parti (Türkiye) durch Verlautbarungen auffällt, welche den ärgsten Feinden der Arbeiterklasse und des türkischen Volkes in die Hand spielen.[6] Nach allen Vernebelungsmanövern und Desinformationen von dieser Quelle sehen wir nun, dass sich diese Partei eifriger als je in den Dienst der Imperialisten stellt, indem sie den türkischen Revolutionären in den Rücken schiesst.
Gleichsetzung von Aggressoren mit ihren Opfern
Unter Aequidistanz verstehen wir hier die Einhaltung eines gleich grossen Lärmabstands zu zwei Konfliktparteien, und insbesondere die Gleichsetzung von imperialistischen Aggressoren mit ihren Opfern und mit denen, die sich auf die Seite der Opfer schlagen. Dies entspricht der Haltung der KP (Türkei), und sie wird in allen bekannten Stellungnahmen dieser Organisation eindringlich verfochten. So auch in der Epistel, etwa indem Russland implizit eingeschlossen wird, wenn die KP Türkei sich “gegen jegliche Einmischung der imperialistischen Zentren” wendet. Weitere Beispiele bieten die Formulierungen:
“Ihr müßt euch weder an die Seite von dem gescheiterten Putschisten Fethullah Gülen, noch an die der jetzigen Regierung stellen.”
“Es gibt keine guten Kapitalisten und bösen Kapitalisten.”
Die marxistisch-leninistische wissenschaftliche Lehre des Klassenkampfs – von der Bündnistheorie über alle weiteren Fragen von Strategie und Taktik, bis zur Revolutionstheorie – legt allerhöchsten Wert auf Risse und Widersprüche, die sich innerhalb der herrschenden Klassen entwickeln. Und sogar noch im Aufbau des Sozialismus, wo die Herrschaft der Bourgeoisie beendet ist, spielen die Widersprüche innerhalb der Bourgeoisie eine bedeutende Rolle. Die marktschreierische Formel “Es gibt keine guten und bösen Kapitalisten” versucht dies herunterzuspielen. Schon Marx kritisierte die Formel des Gothaer Programms von 1875, wonach alle Klassen mit Ausnahme der Arbeiterklasse “nur eine reaktionäre Masse” sind. Im Zeitalter des Imperialismus zeigt sich die Haltlosigkeit dieser Pauschalisierung noch deutlicher, und in einem Land wie der Türkei wird die Leugnung und Verniedlichung von Widersprüchen innerhalb der Bourgeoisie vollends absurd.
Die neue Variante des Taschenspielertricks von Gregor Gysi
Die mit antiimperialistischer Rhetorik gewürzte Epistel schliesst mit dem in Fettschrift hervorgehobenen Satz:
“Das Putsch- und Interventionszentrum NATO und die imperialistische EU müssen aufgelöst werden.”
So weit, so gut. Aber was heisst “aufgelöst werden”? Der Passivsatz verrät uns nicht, wer da handeln soll. Etwa die NATO selbst? Erinnern wir uns an die Winkelzüge eines Gregor Gysi (Die Linke): er versicherte dem US-Botschafter Philip Murphy in einem von Wikileaks bekannt gemachten Gespräch, dass die Forderung seiner Partei nach NATO-Auflösung nicht ernst gemeint sei, sondern als Mittel zur Bekämpfung von konkreten Forderungen (wie etwa: “NATO raus aus Deutschland, Deutschland raus aus NATO”). Denn – so das Argument, mit welchem Gysi sich dem US-Amerikaner anzuschleimen versuchte – eine Auflösung könne ja nur durch NATO-Beschluss erfolgen und sei daher ohne Zustimmung Washingtons unmöglich zu erzielen.[7]
In den Mitgliedern der Europäischen Linkspartei (EL) ist es üblich, dass die Parteibasis derart an der Nase herumgeführt wird. Unter der “Auflösung der NATO” versteht die Linke eine Auflösung am St. Nimmerleinstag. Da haben wir das linke Gegenstück zu allen paradiesischen Versprechen des Pfaffentums, deren Einlösung ins Jenseits verlegt wird.
Und mit einer Epistel, welche den Kampf für den NATO-Austritt der Türkei und für die Schliessung der NATO-Stützpunkte verteufelt und ad graecas calendas verschieben will (was durch revolutionäre Rhetorik kaschiert wird: “nur durch eine sozialistische Revolution möglich”), haben wir ein weiteres Belegstück für die Tatsache, dass sich der linke Byzantinismus keineswegs auf die Parteien der European Left beschränkt. Die Forderung nach Auflösung der NATO gerät im Gesamtzusammenhang dieses und anderer Dokumente der türkischen KP zur hohlen Phrase oder gar zum Werkzeug der Befestigung der NATO.
Der Bruch mit dem Imperialismus darf nicht aufgeschoben werden
Was die Reihenfolge der Lösung der unterschiedlichen Aufgaben (Kampf zum Sturz der Bourgeoisie, Abschüttelung der imperialistischen Fremdherrschaft) anbelangt, die zeitlich zusammenfallen können aber nicht müssen, steht die von der Epistel vertretene Theorie im Gegensatz zu aller Erfahrung in Sachen Taktik und Strategie der Arbeiterklasse, deren Ratschlag da lautet: zunächst sollte man mit den Imperialisten brechen, dann wird man mit der einheimischen Bourgeoisie leichter fertig werden. Dazu der portugiesische Parteiführer und Theoretiker Álvaro Cunhal:[8]
- «Einige werden fragen: aber was interessiert es die Arbeiterklasse, ob es diese oder jene seien, die sie ausbeuten? Und doch es interessiert sie, und wie! Die ausländische imperialistische Herrschaft hat nicht nur die oben erwähnten Konsequenzen [Cunhal erwähnt dort die Verewigung des Rückschritts, Raub und Verschwendung der natürlichen und menschlichen Reichtümer des Landes, usw.], sondern stellt der Befreiung des portugiesischen Volkes ein zusätzliches Hindernis entgegen: es ist die ökonomische, diplomatische und militärische Gewalt, die hinter den ausländischen Monopolen steckt, das heisst die Gewalt der imperialistischen Grossmächte.» (Cunhal, 1964)
Solidarität mit wem?
Die antiimperialistische, internationalistische Linke hat keinen Anlass, sich mit der Komünist Parti (Türkiye) besonders zu solidarisieren oder dieser zur Verbreitung ihrer NATO-dienlichen Propaganda zu verhelfen.
Unsere Solidarität gilt zuvorderst den politischen Organisationen, welche in der Türkei am aktivsten und mit dem grössten Erfolg für das antiimperialistische Lager und gegen die NATO streiten, angeführt von der Patriotischen Partei (so der offizielle deutsche Name der Vatan Partisi) und der Türkischen Jugendvereinigung TGB.
In Russland und in Lateinamerika, wie natürlich in der Türkei selbst, werden der Vatan-Vorsitzende Doğu Perinçek und seine Genossen wie İsmail Hakkı Pekin und Yunus Soner als Hauptverteter der türkischen Linken angesehen; in Westeuropa und besonders im deutschen Sprachraum sind sie kaum bekannt oder werden gar verleumdet.
Wir haben Anlass, uns vor den Märtyrern des 15. Juli zu verneigen, uns mit dem türkischen Volk zu solidarisieren, die türkische Führung auf ihrem Weg zu unterstützen, insofern sie sich zur Trägerin der Abkehr der Türkei vom Atlantik-Pakt und Öffnung für die Zusammenarbeit mit Eurasien macht und insofern sie dagegen gerichtete Störmanöver und Aggressionen niederschlägt.
Dies im Bewusstsein, dass die “tektonische Bewegung” der Türkei weg von der NATO und Drift in Richtung Eurasien in der gegenwärtigen AKP-Regierung noch nicht ihre endgültige Trägerschaft gefunden hat und sich die ihr gemässe Regierung im Laufe weiterer Kämpfe erst noch wird schaffen müssen. Zu diesen Kämpfen gehört auch der Kampf gegen die arbeiterfeindliche Politik der AKP (Privatisierungen und Liberalisierung des Arbeitsmarkts; Prekarisierung der Beschäftigung, Abbau von Arbeiterrechten und Schutzmassnahmen inklusive Unfallverhütung).
__________
1 Brief aus der Türkei an die Völker der Welt (Redglobe. 09. Aug.)
2 Siehe den am Vorabend des Putschversuchs veröffentlichten Artikel: Zugeständnisse der westlichen Medien: der Feind ist nicht Erdogan, sondern die Türkei (14.07.2016).
3 Wir verlegen die näheren Ausführungen zu diesem Punkt in den separaten Artikel: Die «tektonische Bewegung» der Türkei – Schlüssel zum Verständnis der gegenwärtigen Entwicklungen
4 J.W. Stalin, Die internationale Lage und die Verteidigung der UdSSR, Rede am 1. August 1927 vor dem Vereinigten Plenum des ZK und der ZKK der KPdSU(B). In: Stalin, Werke, Band 10, S. 7ff.; (Zitat: S. 11f.).
5 Ausserhalb des Themas eine Präzisierung zur Wendung “unter dem neuen internationalen Kräfteverhältnis”: Die freie Bahn, welche der Imperialismus in den 1990er Jahren genoss, gehört aber bereits wieder der Geschichte an: seit einigen Jahren stösst die weltumspannende Offensive des Imperialismus zur Wiedereroberung verlorener Positionen auf erbitterten Widerstand der betroffenen und bedrohten Länder und Völker. Innert weniger Jahre hat sich die internationaler Korrelation der Klassenkräfte erneut massiv verschoben: die Europäische Union hat ihre Formierung zu einem imperialistischen Block unter deutscher Vorherrschaft weit vorangetrieben. Die aufstrebenden Mächte der BRICS (Brasilien, Russland, Indien, China, Südafrika) und ihrer Partner in allen Kontinenten (darunter grosse Länder wie Iran, Venezuela, Pakistan, und neuerdings die Türkei) schliessen sich immer näher aneinander und bereiten der unipolaren Welt unter US-Führungsanspruch in Wirtschaft und Politik ein Ende. An verschiedenen Punkten ist die imperialistische Offensive ins Stocken geraten oder gestoppt worden, so in Georgien, in der Ostukraine, in Westasien. Unter dem Strich ist der Manövrierspielraum für den Imperialismus enger geworden, und hat sich für die progressiven und revolutionären Kräfte wiederum etwas erweitert. – Rückleitung zum Thema: die Haltung der türkischen (nationalen) Bourgeoisie wird durch diese erneute Kräfteverschiebung und Dämmung des atlantischen Expansionismus durch BRICS und Verbündete noch mehr ermuntert, sich vom Westen zu lösen und nach Eurasien zu schielen, wo die Völker auf nichtimperialistischer Basis miteinander verkehren und zum gegenseitigen Vorteil zusammenarbeiten.
6 Siehe: Erstaunliche Positionen der KP Türkei
7 wikileaks.org – Zur verfänglichen Parole der “Auflösung der NATO” (als propagandistisches Gegenmittel zu konkreten Schritten) siehe auch den Diskussionsbeitrag von Sebastian Bahlo: Forderung nach NATO-Austritt: Unbedacht und abenteuerlich? . In: „Freidenker“ Nr. 1-16 März 2016, S.27-31.
8 Eigene Übersetzung aus dem Portugiesischen: Rumo à Vitória (1964). In: Álvaro Cunhal, Obras Escolhidas, Edições «Avante!», Lisboa, vol. III, 2010, p. 63.
(22.08.2016/mh)
Siehe auch: