kommunisten.ch

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“Die Türkei verlässt langsam das Atlantische System. Das ist der Grund hinter dem Coup. Das ist der Grund, weshalb die NATO Panik bekommt. Dies ist viel breiter und viel grösser als Erdogan. Dies ist eine tektonische Bewegung. Dies wird die türkisch-syrischen Beziehungen beeinflussen, die türkisch-chinesischen Beziehungen, die türkisch-russischen Beziehungen und die türkisch-iranischen Beziehungen. Es wird die Welt verändern.”
Yunus Soner, Vizepräsident der Patriotischen Partei (Türkei)

Die «tektonische Bewegung» der Türkei – Schlüssel zum Verständnis der gegenwärtigen Entwicklungen

21.08.2016 – Der Schlüssel um Verständnis der Vorgänge in der Türkei liegt darin, dass dieses grosse Land sich vom atlantischen Imperium wegbewegt und von den Diktaten der NATO-Partner lossagt. Jeder Versuch zur Analyse, der diese grundlegende Tatsache ausblendet, ist von vorne herein zum Scheitern verurteilt. Verschiedene Kommentatoren, ja eine ganze Clique davon, versuchen uns allerdings weiszumachen, dass die vor aller Augen liegende Öffnung der türkischen Aussenpolitik in Richtung Moskau nicht ernst zu nehmen sei. Darunter Juri Mawaschew , seines Zeichens Chef des Zentrums für moderne Türkeistudien in Moskau.[1]

Darunter auch der russische Zionist Jewgeni Satanowski, Direktor des russischen Institute of The Middle East (früher: Institute of Israeli Studies). Satanowski wandte sich im Jahre 2011 gegen die Aussage des damaligen Ministerpräsidenten Wladimir Putin , welcher die Militäraktion des Westens in Libyen als skrupellosen Kreuzzug und jede militärische Einmischung als unzulässig bezeichnet hatte.[2] Diese Clique von Experten fand offenbar auch Gehör beim damaligen Präsidenten Dmitri Medwedew , der sich ausdrücklich von Putins Worten distanzierte. Und im UN-Sicherheitsrat enthielt sich Russland beim Votum für einen Militäreinsatz gegen Libyen bekanntlich der Stimme. Satanowski war einer der ersten, welche den türkischen Juli-Putsch Erdogan in die Schuhe zu schieben versuchten. Dabei scheute sich der Ex-Präsident des Russisch-Jüdischen Kongresses nicht vor einem plumpen Hitler-Vergleich.[3]

Auch in solchen Publikationen wie fit4russland.com , welche wir ansonsten schätzen, findet einer wie Satanowski leider heute Raum für seine Sabotageversuche an den russisch-türkischen Beziehungen.[4]

Drei Schlüssel

Der 1. Schlüssel um Verständnis der Vorgänge in der Türkei liegt darin, dass dieses grosse Land sich “naturwüchsig” vom atlantischen Imperium wegbewegt und von den Diktaten der NATO-Partner lossagt, was der türkische Geopolitiker Yunus Soner als “tektonische Bewegung” bezeichnet hat. Jeder Versuch zur Analyse, der diese grundlegende Tatsache ausblendet, ist von vorne herein zum Scheitern verurteilt. Jede linke oder kommunistische Politik, welche die tektonische Verschiebung der Türkei und die durch diese Bewegung bestimmte 180-Grad-Wendung der türkischen Aussenpolitik ignoriert, wird zwangsläufig von einem Fehler zum nächsten wursteln und in jede imperialistische Falle tappen.

Der 2. Schlüssel liegt darin zu verstehen, dass den Imperialisten jedes Mittel recht ist, um das Abdriften der Türkei zu verhindern. Washington ist es egal, ob die Drecksarbeit im Einzelfall von der “linken” und weiss nicht wie progressiven PKK, oder von ebenso weit “rechten” ISIS-Guerilla oder denn von frommen Gülen-Anhängern verrichtet wird. Diese verschiedenen Bewegungen tragen jede für sich und alle in ihrem Zusammenwirken zur Strategie der Spannung und Zermürbung bei. Links und rechts, PKK und ISIS, sind die beiden Backen ein und derselben Beisszange gegen die Türkei. Zu ihrem Zusammenwirken gehört auch die Kobane-Strategie, die darin besteht, dass eine Region eine Zeitlang von den Terroristen der Da’esh (ISIS) blutig unterdrückt und danach von den PKK-Truppen befreit wird, wobei sich die ISIS-Leute gewöhnlich mitsamt ihren Waffen zurückziehen können und von den Befreiern nicht verfolgt werden. Diesen Tanz der US-Marionetten haben wir letzthin bei der “Befreiung” von Manbidsch erlebt.

Der 3. Schlüssel liegt darin zu begreifen, dass Erdogan nicht aus eigener Machtvollkommenheit regieren kann, sondern selbst Produkt der gesellschaftlichen Triebkräfte und (nämlich von den patriotischen Kräften) Getriebener ist. Seine Politik ist die Resultante aus verschiedenen und widersprüchlichen Vektoren, unter denen die genannte tektonische Bewegung der Türkei der gewichtigste ist. Das patriotische und anti-imperialistische türkische Volk will dem Atlantikpakt den Rücken kehren und sich Eurasien zuwenden. Und es verlangt von Erdogan die Liquidierung der Terroristen- und Verräterbanden, welche dem Land den Weg in die selbst bestimmte Zukunft verbauen und mit Blut begiessen wollen, ohne Unterschied von PKK, Gülen-Sekte und ISIS.

Die tektonische Bewegung im Spiegelbild der türkischen Aussenplitik

In der Tat hat Erdogan mit seiner früheren Politik gebrochen und den Architekten der neo-osmanischen Expansionsstrategie und Professor für Politikwissenschaft und Internationale Beziehungen Ahmet Davotoglu von seinem Amt als Partei- und Regierungschef verjagt. Der neue Premierminister Binali Yildirim erklärte zum Amtsantritt, er wolle rund ums Mittelmeer und ums Schwarze Meer die Zahl der Freunde vermehren und die Zahl der Feinde verringern. Diese Worte wurden allerseits als ausgestreckte Hand an Russland, Iran, Syrien und womöglich Ägypten gedeutet. Sie entsprechen einer Tendenz zur Rückkehr zur kemalistischen Aussenpolitik. Aber auch nach innen hat sich Erdogan, der früher ein ausgesprochener politischer Islamist war, den kemalistischen Staatsauffassungen (einschliesslich Laizismus) angenähert. Der Bruch zwischen Erdogan und dem US-freundlichen Imam Fetullah Gülen ist kein Gerangel um Beuteteilung zwischen zwei verfeindeten Brüdern, sondern hat einen politischen Gehalt, und zwar von solcher Sprengkraft, dass er die imperialistischen Mächte zur Überzeugung gebracht hat, dass die Türkei eines Regime-Wechsels bedürfe.

Davutoglus Linie der Aussenpolitik bestand darin, dass die Türkei an den imperialistischen Kriegen im Nahen Osten und den gegenwärtigen und zukünftigen Aggressionen gegen Russland mitmachen sollte, dies natürlich in subalterner Rolle und gegen einen Beuteanteil, der sich verglichen mit dem zu vergiessenden Blut bescheiden ausnehmen dürfte.

Welche konkreten Schritte der Türkei haben den Westen in Panik versetzt?

Erdogans Abrücken vom pro-westlichen Kurs seines Beraters Davutoglu lässt sich schon seit einigen Jahren erkennen, jedenfalls schon vor der 2014 – vermutlich aus wahltaktischen Gründen – erfolgten Ernennung Davutoglus zum Partei- und Regierungschef:

  • Anfangs 2013 kündigte Erdogan, damals noch Premierminister, an, dass die Türkei ernsthaft über einen Beitritt in der Shanghaier Organisation für Zusammenarbeit (SOZ) nachdenke.[5]
  • Trotz Kritik an der russischen Haltung zur Ukraine wies Ankara die Zumutungen aus USA und EU zurück, welche verlangten, dass sich die Türkei ihrem politisch motivierten Handelskrieg (“Sanktionen”) gegen Russland anschliessen sollte.
  • “Noch nie zuvor waren die bilateralen Beziehungen zwischen der Russischen Föderation und der Türkei so gut wie heute – und das trotz der Meinungsunterschiede in der Syrienfrage. Der russische Präsident will heute in der Türkei mit seinem Amtskollegen Tayyip Erdoğan unter anderem über eine Ausweitung des bilateralen Handelsvolumens auf 100 Milliarden US-Dollar sprechen. Zudem würdigte Putin, mit Blick auf die Sanktionspolitik des Westens, die außenpolitische Selbständigkeit der Türkei.” Dies eine Meldung von RTdeutsch von Ende 2014.[6]
  • Ebenfalls 2014 unterbreitete der türkische Wirtschaftsminister Nihat Zeybekci seinem russischen Amtskollegen Alexei Uljukajew bei einem Treffen in Sydney den Vorschlag, den bilateralen Handel ohne Umweg über den US-Dollar abzuwickeln und auf die jeweiligen nationalen Währungen umzusteigen.[7]
  • «Russland drückt den Verwandten der Todesopfer infolge des provokatorischen Terroranschlags am 10. Oktober in Ankara sein aufrichtiges Beileid aus und ist zum engsten Zusammenwirken mit den Behörden der Türkei im Kampf gegen die Terrorbedrohung bereit.» Dies erklärte der russische Aussenminister Sergej Lawrow nach dem doppelten Selbstmord-Attentat von ISIS-Terroristen in Ankara, bei dem über 100 Menschen starben und mehr als 500 verletzt wurden.[8]
  • Ebenso wie bei den türkisch-russischen Grossvorhaben auf dem Gebiet der Energieproduktion und -infrastruktur (Turkish Stream) handelt es sich bei der geplanten Lösung vom Dollar um eine Weichenstellung für die Zukunft. Das gilt umso mehr für strategische Kooperation auf dem Gebiet der Rüstung: Seit Jahren ist die Türkei auf der Suche eines leistungsfähigen Raketenabwehrsystems. Während westliche Rüstungskonzerne wie Raytheon oder Lockheed nur schlüsselfertige Systeme (zum Beispiel vom Typ Patriot) anbieten, und jeden Technologietransfer nach der Türkei unterbinden, strebt Ankara grössere Selbständigkeit an. Es muss ein Schock für die NATO gewesen sein, als sie vernahm, dass die Türkei, jahrzehntelang willfähriger Abnehmer der US-amerikanischen und deutschen Rüstungsindustrie, plötzlich wie Iran mit russischen Luftabwehrsystemen liebäugelte und (bereits im Jahre 2013) milliardenschwere Aufträge an die chinesische CPMIEC vergab, welche von den USA auf einer Sanktionenliste geführt wird, weil sie Waffen an den Iran, Syrien und Nordkorea liefert.[9]
  • Im Mai 2015 meldete RTdeutsch : “Ähnlich wie der Iran hat auch das NATO-Mitglied Türkei Interesse an russischen Luftabwehrsystemen wie S-300 und Antey-2500 geäußert. Da beide Systeme nicht NATO-kompatibel sind, äußern westliche Experte die Sorge, der geostrategisch wichtige Partner könnte sich langsam aus dem Militärbündnis lösen. Sorge macht insbesondere den USA auch Ankaras jüngster politisch-militärischer Flirt mit Peking.”[10]

Zusammenfassend ergibt sich aus diesen Nachrichten aus den Jahren 2013 bis 2015:

Der Annäherungsprozess zwischen der Türkei und Russland hatte also bereits ein hohes Tempo erreicht, als im November 2015 ein auf dem Anti-Terror-Einsatz in Syrien eingesetztes russisches Kampfflugzeug an der syrisch-türkischen Grenze durch türkische Piloten abgeschossen wurde, was den Annäherungsprozess jäh unterbrach. Dieses seltsame Ereignis, damals von sehr vielen oder den meisten Kommentatoren falsch interpretiert, erweist sich heute, nachdem die Zugehörigkeit der türkischen Piloten zur Gülen-Sekte bekannt geworden ist, als eine Episode in einer langen Kette von Versuchen zur Sabotage der russisch-türkischen Beziehungen. Der Gülen-Putsch vom 15. Juli bildet den vorläufigen Höhepunkt dieser Versuche.

Die Bewegung der Türkei weg vom Atlantikpakt und hin zu Eurasien ist also – entgegen verbreiteter Behauptungen – keine bloss temporäre Reaktion Erdogans auf die Verluste im Tourismusgeschäft und im Agrarexport, welche sich die Türkei durch die nach dem Flugzeugabschuss von Russland verhängten Sanktionen eingefahren hat.

Wie der Vize-Vorsitzende der Patriotischen Partei (Türkei), İsmail Hakkı Pekin in einem kurzen Überblick über die Entwicklung des Konflikts zwischen den NATO-Partnern Türkei und USA zeigt, entfaltete sich dieser schon ab 2003, als die Beteiligung am Golfkrieg von der Nationalversammlung der Türkei abgelehnt wurde.[11] Schon seit Jahren warnt die Patriotische Partei (damals noch: Arbeiterpartei) vor der Illusion, dass die USA die Türkei als NATO-Mitglied von Aggressionen verschonen würde.[12]

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1 Siehe: Reicht die Atlantik-Brücke bis nach Moskau?

2 Russischer Bericht: Сравнивать операцию в Ливии с крестовым походом нельзя – политолог (rusnovosti.ru, 21.03.2011)

3 Satanowskij: “A personal dictatorship is being established will will undoubtedly turn the Turkey of Kemal Ataturk into an Islamic republic. In Europe, there was the Führer of the German people and in Turkey, there will be the Fuhrer of the Turkish people.” Zitiert nach: Gunnar Bjornson: Parallel State in Russia (katehon.com, 27.07.2016; mit Quellenverweis auf den russ. Originaltext).

4 Siehe: Die russische Luftwaffe hat nicht viel Zeit, bevor Ankara wieder den Islamisten in Syrien helfen wird (fit4russland.com, 19. Aug.)

5 Siehe: Die Türkei in der SOZ: Reicht Putin Erdoğan die Hand? (Deutsch-Türkische Nachrichten, 1.2.13).

6 Siehe: Putin würdigt politische Eigenständigkeit der Türkei (RTdeutsch, 1.12.2014).

7 Siehe: Gegen den Dollar: Erdoğan will eine Allianz mit Putin schließen (Deutsche Wirtschafts-Nachrichten, 26.07.14) sowie: Rubel oder Lira: Türkei und Russland wollen Geschäfte in nationaler Währung abwickeln (01.04.15).

8 Siehe: Russland bereit zu enger Zusammenarbeit mit der Türkei bei Bekämpfung des Terrorismus (18.10.2015).

9 Siehe: Türkei zieht Luftabwehrraketen made in China dem russischen S-300-System vor (sputniknews.com, 27.09.2013).

10 Siehe: Türkei liebäugelt mit russischem Luftabwehrsystem – NATO sieht Rüstungsdeal als Provokation ihres Mitglieds (RTdeutsch, 8.05.2015.).

11 Siehe: İsmail Hakkı Pekin: Der lange Kampf der Türkei mit den USA (02.08.2016).

12 Siehe: Doğu Perinçek: Zusammenbruch des Aberglaubens, dass die USA die Türkei nicht spalten würden (26.09.2014)

(21.08.2016/mh)


Siehe auch:


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