Massimilano Ay zu SBB Cargo: Industriewerke übernehmen!
Über 10 000 Menschen folgten einem SMS-Aufruf und demonstrierten am Sonntag, 30. März in Bellinzona gegen die Schliessung der Industriewerke. Ein grandioses Zeichen der Solidarität. Der Kampfwille der streikenden Belegschaft ist ungebrochen, trotz den massiven Drohungen der SBB-Führung. Der Streik geht weiter.
“Hände weg von den Werken”, rufen die ArbeiterInnen der SBB-Industriewerkstätten in Bellinzona laut, gemeinsam und immer wieder ihren Kampfslogan. Sie unterstreichen somit ihren Kampfwillen. Die Entschlossenheit und der Mut der Streikenden sind ungebrochen und halten weiter an. Fahnen wurden hergestellt, die nun seit einigen Tagen von der Tessiner Bevölkerung an den Fenstern der Wohnungen, Terrassen und Balkone aufgehängt werden. So wie vor einigen Jahren die Friedensfahnen gegen den Einmarsch in den Irak. Die Solidarität der Bevölkerung ist grandios. In den letzten Wochen entwickelte sich eine bisher einmalige menschliche Nähe zum Schicksal der ArbeiterInnen. Die unabhängige SchülerInnen-Gewerkschaft SISA führt ihre Solidaritätskampagne weiter. Sie organisiert Versammlungen und Kundgebungen, sammelt Geld für den Streikfonds und ruft die LehrerInnen auf, statt die vorgesehenen Schulstunden durchzuführen, mit den Klassen die streikenden ArbeiterInnen zu besuchen und sie zu unterstützen. Die Vollversammlung des Gymnasiums Bellinzona hat gar beschlossen, einen Beitrag von 5 000 Franken aus der Studentenkasse dem Streikfonds zu überweisen. Unterstützung kommt auch aus dem Ausland. Eine Gewerkschaftsdelegation aus Südafrika hat die streikende Belegschaft besucht. Aus Italien hat Oliviero Diliberto, nationaler Sekretär der Partei der italienischen Kommunisten (PdCI), eine Grussbotschaft geschickt. Darin ermutigt er die ArbeiterInnen, ihren gerechten Kampf weiterzuführen.
Ein Abnützungskrieg der SBB
Aber in der ganzen Begeisterung und Solidarität dürfen die 400 ArbeiterInnen und ihre Familien nicht vergessen werden, die den harten Arbeitskampf am führen sind. Obwohl sie ihren Kampfwillen hoch halten, werden erste Müdigkeitserscheinungen sichtbar, welche die Gewerkschaften sehr ernst nehmen müssen. “Wir wollen Antworten! Ihr quatscht und dreht euch immer nur um die Fragen rum”, rief ein Arbeiter und unterbrach so abrupt die Rede von Matteo Pronzini, Sekretär der Gewerkschaft Unia, an der Betriebsversammlung vom 25. März. Es war eine Versammlung, an der die ArbeiterInnen sehr viele Fragen an das Streikkomitee stellten. Einige wollten wissen, ob die KollegInnen der Werkstätten in Fribourg sich dem Kampf angeschlossen haben oder weiter arbeiten würden. Andere gaben zu, dass die Müdigkeit und die Anstrengungen des Streiks sich bemerkbar machen würden, da die SBB einen Abnützungskrieg am führen sei. Es ist in der Tat kein Geheimnis, dass Arbeitgeber Kurse besuchen, um das Handeln in sozialen Kämpfen zu erlernen und um gewerkschaftliche Mobilisierungen zu zerschlagen. Der psychologische sowie finanzielle Druck während einem Streik sind zwei Faktoren, die auf keinen Fall unterschätzt werden dürfen. Umso wichtiger ist es, keinen Stillstand zu akzeptieren und mit politischen Aktionen die Offensive zu übernehmen. Möglichkeiten dazu gibt es: So wurde die Gotthard-Bahnstrecke noch nicht blockiert, die SBB-Angestellten nördlich der Alpen auch noch nicht mobilisiert und die angekündigte Mobilisierung des Gewerkschaftsbunds sollte und könnte in einem kantonalen Generalstreik münden. Doch dies reicht nicht: Es muss ein Schritt weiter gedacht werden!
Produktivität stark gesteigert!
Um dies zu tun, muss man wissen, dass die Industriewerke in Bellinzona gut laufen und auf dem Markt bestehen können. Die ArbeiterInnen haben in den letzten Jahren mehrere kapitalistische Restrukturierungsmassnahmen über sich ergehen lassen müssen. Sie wissen daher mit Sicherheit, dass die Produktivität stark zugenommen hat. In der Zeitspanne von 2000 bis 2007 hat sich die Anzahl der Wartungen von Lokomotiven pro Angestellten von zehn auf zwanzig verdoppelt. Im letzten Jahr ist die Stückzahl der reparierten Räder um 2200 und jene der Wagons um 400 Einheiten gestiegen. Diese Zahlen beweisen eindrücklich, dass die Industriewerkstätten weiter leben können. Somit sind für die Zukunft zwei Wege denkbar: Entweder man bleibt beim Status quo und die SBB-Führung verzichtet gänzlich und definitiv auf die Abbaumassnahmen. Oder man eignet sich die Industriewerke an und geht zur Selbstverwaltung über! Ähnliches hatte PdA-Nationalrat Josef Zisyadis im Falle des Arbeitskampfes in Boillat vorgeschlagen, der einige Parallelen zum Kampf in Bellinzona aufweist.
Hin zur Selbstverwaltung
Die SBB haben mehrmals wiederholt, dass sie mit den Wartungsarbeiten nichts mehr zu tun haben wollen, Zu überlegen ist somit die Gründung eines regionalen, technischen Bahnzentrums, dass von der öffentlichen Hand kontrolliert wird. Daran beteiligt wären die Kantone Tessin und Graubünden sowie die Gemeinden. Wichtiger Bestandteil des kantonalen Bahnunternehmens wären natürlich die Industriewerke in Bellinzona, die weiterhin mit der gleichen Belegschaft zu den bisherigen Arbeitsbedingungen ihre Wartungsarbeiten und Dienstleistungen anbieten würden. So lautet der Vorschlag des Stadtpräsidenten von Bellinzona Brenno Martignoni an die Tessiner Kantonsregierung. Weiter wird eine kantonale Volksinitiative diskutiert, die Ähnliches vorsieht. Gleichzeitig werden Stimmen lauter, die einen Schritt weiter gehen wollen: Die Gründung einer Kooperative, die von den ArbeiterInnen selbst und der öffentlichen Hand verwaltet und geleitet wird.
Quelle: Vorwärts – Die sozialistische Zeitung, Nr. 13/14, 64. Jg., 4. April 2008, S. 1
Massimiliano Ay ist Mitglied des Zentralkomitees der PdA Schweiz.
Original (Ital.): Blog di Masimiliano Ay
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