Ungebührlich und unnötig
Angenommen, ein europäischer Prinz …
Niemand wird im Ernst behaupten können, die Genfer Polizei hätte einen Diplomaten und erst recht den Sohn eines fremden Staatsoberhauptes unter gleichen Umständen mit derselben Grobheit behandelt, wenn es sich bei diesem Staat um eine Grossmacht oder einen wichtigen Freund in Europa und der Welt handelte. Stellen wir uns für einen Augenblick vor, dass statt des Hannibal Gadhafi ein beliebiger Thronfolger einer europäischen Monarchie den gleich lautenden – oder einen anderen gleich schweren – Vorwurf auf sich ziehen sollte, möge dieser nun zu Recht oder Unrecht erhoben worden sein. Die Vorstellung, dass die Genfer Justiz einen Prinzen und seine hochschwangere Gattin auf dieselbe demütige Weise … – eine solche Vorstellung lässt sich wirklich kaum länger als ein paar Sekunden halten.
Und nicht eine einzige Sekunde hätte man in Genfs Justizapparat an den Gedanken verschwendet, sich in einem solchen Fall in Bern über den genauen Diplomatenstatus des Angezeigten zu informieren. Das ist auch begreiflich. Auch in europäischen Ländern und unter gleichen Umständen würde die Festnahme sagen wir einer spanischen oder britischen Prinzenfamilie vermutlich eine noch grössere Erregung hervorrufen als die Festnahme eines beliebigen Diplomaten.
Ungebührlich
Und in diesem Punkt erweist uns der Bundespräsident unfreiwillig eine willkommene Unterstützung, indem im Rahmen der am 20. August ausgesprochenen Entschuldigung die Verhaftung nicht nur als “unnötig” (im objektiven Sinne) anerkennt, sondern auch noch mit einem personenbezogenen Ausdruck als “ungebührlich” bezeichnet. Das ist die Unterschrift eines Staatsmanns unter unsere Behauptung, dass das Recht nicht ohne Ansehen der Person (ihrer Klassenzugehörigkeit, ihres Status) gilt.
Das bürgerliche Recht bezeichnet die Ungehörigkeit staatlicher Übergriffe mit Wörtern wie “unverhältnismässig”, bezogen auf die Situation, nicht auf die Person. Das Wörtchen “ungebührlich” sollte im bürgerlichen Recht eigentlich ein Fremdwort sein, denn als Rechtsbegriff stellt es ein Überbleibsel der feudalen Herrschaftsideologie dar, wonach jedem Stande das Seine gebührt (vgl. “Geburt”).
Feudale Verhaltens- und Denkweisen haben ihre Stützpunkte allerdings auch im Kapitalismus nie ganz verloren; so etwa den Stützpunkt in der Stadt Bern, wo bis auf den heutigen Tag ein feudalaristokratisches Gemeinderecht herrscht, und wo die Mitte-Links-Regierung vor einem Jahr ein Paket von Massnahmen gegen Arme erliess, auch bauliche Massnahmen wie den Abbau von Sitzgelegenheiten im Bahnhof.
Bei den strafrechtlichen Massnahmen erscheint neben dem Bettelverbot in der Bahnhofgegend auch das Verbot von “ungebührlichem Verhalten”, das nicht näher ausgedeutscht wird und aller Willkür der Auslegung offen liegt. Einige feudal anmutenden Züge treten naturgemäss im Spätkapitalismus unter imperialistischen Formen wieder vermehrt zum Vorschein, und treten in neue Formen von Wechselwirkungen. Der ökonomischen Herrschaft des Monopolkapitalismus entspricht eine oligarchische Herrschaft eines schmalen Geldadels, eine reaktionäre Herrschaft, die alle Ebenen von Politik, Gesellschaft und Kultur durchdringen und einige der wichtigsten Errungenschaften aus geschichtlichen Kämpfen des 19. und 20. Jahrhunderts rückgängig machen will.
Was gebührt der Arbeiterklasse?
Gadhafi junior hat sich die erfahrene Behandlung nicht bieten lassen. Er hat es nicht hingenommen, dass die Genfer Polizisten seinem Kleinkind und seiner hochschwangeren Frau diesen Schock verpassten, und ihn mit Handschellen demütigten und biometrische Daten von seinem Kopf nahmen. Wenn der Bundespräsident die Vorgänge von Genf als “ungebührlich” bezeichnet, dann anerkennt er im Grunde, dass die Geltung von Rechten hierzulande nicht mehr auf den republikanischen Überzeugungen der Radikalen und Demokraten des 19. Jahrhunderts beruht.
“Gebührende” Anerkennung finden sie nur denen gegenüber, die sich zu verteidigen und gegen Rechtsverletzung zu wehren wissen. Nur wenn die Arbeiterklasse es lernt, die einzige Sprache zu sprechen, welche auf der Gegenseite verstanden wird, werden einige heute gängige Methoden im Umgang mit den Ausgebeuteten drüben wiederum als “ungebührlich und unnötig” bedauert und beseitigt werden.
(mh/06.09.2009)