«Die Zeit» kehrt um: Nach dem Putsch in Kiew soll Europa die grand strategy der USA aufgeben und sich Russland öffnen
19. Juni ( sinistra.ch ) – Das deutsche Wochenblatt “Die Zeit” ist vielleicht das Presseerzeugnis mit der grössten Reputation in Deutschland und vertritt einen editiorialen Kurs, der im allgemeinen politisch in der liberalen Mitte angesiedelt ist. Es ist also keine “anti-imperialistische”, den Vereinigten Staaten feindselig gesonnene Zeitung. Eben deswegen hat das, was am 6. Juni geschehen ist, etwas Ausserordentliches. “Die Zeit” hat in der Tat ihr Portal für einen unglaublichen Frontalangriff auf die herrschende Politik der Europäischen Union in Bezug auf die Ukraine geöffnet, indem sie Chris Luenen das Wort gab. Luenen, seines Zeichens Direktor des geopolitischen Programms des Global Policy Institute in London, fordert die EU auf, sich nicht länger einer Strategie made in USA zu unterwerfen und stattdessen zu lernen, die eigenen Interessen zu vertreten: “Europa war schon immer schlecht in der Verfolgung der eigenen Interessen”, erklärt der Autor.
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Die EU soll nicht von den USA abhängig sein
Der Artikel mit dem Titel: «Aussenpolitik: Europa muss seine Beziehungen zu den USA neu justieren» (Seite 2: Amerikas ‘Grand Strategy’ nicht im Interesse Europas ) stellt fest, dass die EU einer Strategie folgt, die einseitig von Washington festgelegt wird, anstatt eine Strategie auf der Grundlage der eigenen Interessen zu definieren, welche Brüssel anraten würden, sich enger mit Russland zu verbünden. Nach dem Autor sollte die EU auch die transatlantischen Beziehungen entwickeln, allerdings im Versuch, ihre Interessen auch gegenüber den Freunden durchzusetzen.
Der Artikel erinnert an die seinerzeit vom US-amerikanischen ex-Sicherheitsberater Zbigniew Brzezinski formulierte Strategie, welche Europa als “Amerikas unverzichtbarer geopolitischer Brückenkopf auf dem eurasischen Kontinent” definiert. In der Tat hatte Brzezinski die Interessen der USA in der Ukraine unmissverständlich dargelegt: “Ohne die Ukraine ist Russland kein eurasisches Reich mehr (…) Wenn Moskau allerdings die Herrschaft über die Ukraine mit ihren 52 Millionen Menschen, bedeutenden Bodenschätzen und dem Zugang zum Schwarzen Meer wiedergewinnen sollte, erlangte Russland automatisch die Mittel, ein mächtiges Europa und Asien umspannendes Reich zu werden.” (Brzesinski, The Grand Chessboard, 1997)
Für Chris Luenen wäre es “um einiges einfacher, die Sicherung westlicher Energie- und Sicherheitsinteressen durch den Aufbau einer auf gegenseitigem Respekt basierenden und für beide Seiten vorteilhaften strategischen Partnerschaft mit Russland (und mit dem Iran) anzustreben, anstatt weiter darauf abzuzielen, Russland westlichen Interessen und Strukturen zu unterwerfen.” Für den Autor war “die Entscheidung, durch eine fortschreitende EU- und Nato-Erweiterung den westlichen Einflussbereich nach Osten auszudehnen, statt eine neue Sicherheitsarchitektur für Europa in Kooperation mit Russland zu konzipieren … der schwerwiegendste strategische Fehler des Westens seit dem Ende des Kalten Krieges.” Das ist klar ausgedrückt. Vor ihm war es der kubanische Aussenminister, der Kommunist Bruno Rodriguez, der eben nach dem Putsch in Kiew klar und direkt in den Äther erklärte: “Der Wille, die NATO bis an die Grenzen der Russischen Föderation zu erweitern, stellt eine schwere Bedrohung des Friedens, der internationalen Sicherheit und Stabilität dar.” Eine höchst vernünftige Feststellung für jenen, der nicht durch eine neokolonialistischen Vision der Geopolitik geblendet ist, aber die zu unterschreiben sich weder die neutrale Schweiz noch die freien europäischen Informationsmedien ermannt haben.
Aufsehenerregende Kehrtwende der einflussreichen Zeitung
Gewöhnlich vertritt “Die Zeit” Auffassungen und Haltungen, die auch im Establishment der deutschen Politik heimisch sind. Im Ukraine-Konflikt hatte die Wochenzeitung bisher an der herrschenden Tendenz teilgenommen, die darin besteht, das Putschistenregime in Kiew zu rechtfertigen und Russland unter Führung von Wladimir Putin sowie die sogenannten “pro-russischen Separatisten” anzugreifen. Wenn stattdessen heute diese Zeitung, deren Inhalte gut kontrolliert werden, es wagt, einen solchen Artikel zu veröffentlichen, der eine Reorientierung der grundlegenden Prinzipien der Aussenpolitik Berlins (und Brüssels) einfordert, dann stehen wir zweifellos vor einer Sensation.
Übrigens handelt es sich nicht um eine völlige Überraschung, jedenfalls nicht für den, der es versteht, das politisch-ideologisch Ausgedrückte von einem materialistischen und dialektischen Standpukt aus zu untersuchen: die ökonomischen Kräfte, die Bewegungsgesetze der Kapitalflüsse sowie die Gesetze, die die Beziehungen zwischen Kapitalgruppen mit unterschiedlicher nationaler Zusammensetzung regeln, finden ihren Ausdruck zwangsläufig auch auf der Ebene der ideologischen Überbaus. Wichtige Sektoren der deutschen Industrie widersetzen sich den Neigungen zur blinden Gefolgsamkeit gegenüber dem Diktat von Obama, was die Wirtschaftssanktionen gegen Russland anbelangt. Innerhalb der atlantischen Bereichs ist Deutschland heute das Land, das sich der US-Hegemonie am kräftigsten widersetzt. Und die kürzlich aufgeflogene Affäre der Spionage von Seiten der amerikanischen NSA (einschliesslich Industriespionage), die sich nicht zufällig in erster Linie gegen Deutschland richtet und dabei nicht einmal die Privatsphäre der christdemokratischen Bundeskanzlerin Angela Merkel ausspart, hat sicherlich dem einen oder anderen die Augen geöffnet.
Das Echo auf den Artikel in Deutschland
Zu bemerken ist, dass die ausgesprochen antirussische Tendenz der deutschen Medien von den Lesern massiv kritisiert wird. Seit Monaten richten sich die Blogger massenweise gegen die Informationsdirektiven der grossen Redaktionsstuben. Die Mehrheit der Leserkommentare der verschiedenen Zeitungen sprechen sich gegen die westliche Politik aus. Und auch in diesem Punkt nun eine Ausnahme: diesmal sind die Leser mit dem Artikel einverstanden. Die grösste Zustimmung der Leserschaft gilt dem kurzen Kommentar: “Danke, ein wahrer Lichtblick im Dunkeln !”.
Das Portal german-foreign-policy.com, das sich einen Namen als Kritiker der imperialistischen Wende und der militaristischen Tendenzen des wiedervereinigten Deutschland gemacht hat, findet Luenens Artikel “bemerkenswert, als in der ‘Zeit’ – wie auch sonst in den deutschen Leitmedien – bislang eine klar antirussische Kommentierung überwog” (wobei Putin den neuen Feind der westlichen Zivilisation verkörpert). “Der jetzt veröffentlichte Beitrag, den der Aussenpolitik-Experte Chris Luenen verfasst hat, weicht signifikant von dieser Linie ab.”
Die Neue Rheinische Zeitung (NRhZ.de, die sich an der gleichnamigen von Karl Marx 1848 gegründeten Zeitung orientiert), bemerkt dass die im Artikel zum Ausdruck gebrachten Auffassungen des Geopolitik-Experten nicht isoliert sind: man beginnt schliesslich auch in Berlin davon zu sprechen, und selbst in den Kreisen, die traditionell pro-atlantisch eingestellt und der nordamerikanischen Regierung treu sind.
Das Sein determiniert das Bewusstsein, nicht umgekehrt…
Das Bewusstsein bestimmt nicht das Sein, sondern in erster Linie umgekehrt: das Sein bestimmt das Bewusstsein. Dies haben die Begründer des wissenschaftlichen Sozialismus, Karl Marx und Friedrich Engels in der Schrit “Die deutsche Ideologie” ausgeführt. Was wir nun in Deutschland beobachten, kann daher nur jemanden überraschen, der sich in der geopolitischen Analyse auf marxistischer Grundlage nicht auskennt. Man brauchte kein Hellseher zu sein, um diese Situation vorauszusehen. Und in der Tat hat sie auch in der Schweiz vor einigen Monaten jemand vorhergesehen: wir sprechen von der Kommunistischen Partei der Italienischen Schweiz, welche zahlreiche junge Experten der Erforschung der ökonomischen Dynamiken der internationalen Zusammenarbeit in ihren Reihen aufweist.
In einem Artikel, der unter dem 15. April erschien ( «Für den Frieden in der Ukraine, Nein zum Neo-Kolonialismus» ), worin sich der Politische Sekretär dieser Organisation, Massimiliano Ay ausdrücklich gegen die Tendenz wandte, Russland mit den imperialistischen Mächten gleichzusetzen (eine Tendenz, die traurigerweise auch von der Partei der Arbeit der Schweiz und von anderen Gebilden der realen Linken akzeptiert wird). Dabei erklärte Ay: “Wenn man von einem inter-imperialistischen Konflikt sprechen will, so ist es gewiss nicht Russland, das in die Untersuchung genommen werden muss: Die Ukraine-Krise ist mit grosser Wahrscheinlichkeit durch den ausdrücklichen Willen der USA entfesselt worden, die russische Energieversorgung Europas zu blockieren, den alten Kontinent verbindlich auf die Abhängigkeit von nordamerikanischem Erdöl und Gas festzunageln: ein notwendiger Schritt zur Verhinderung der Entwicklung einer Achse Berlin-Moskau-Peking, welche Washington einkreisen könnte.” In der Praxis spielt sich die Konfrontation zwischen dem amerikanischen Imperialismus auf der einen Seite, und andererseits dem deutschen (oder jedenfalls Euro-basierten) Imperialismus ab. Ein Widerspruch, den Russland und China geschickt und ohne einen Schuss abzugeben anzuheizen versuchen, um so die kriegstreibenden und neo-kolonialistischen Praktiken der westlichen Länder gegen die Schwellenländer und Blockfreien zu schwächen.
An der Platzkundgebung für den Frieden in der Ukraine in Bellinzona, am vergangenen 31. Mai, hielt Ay eine Rede, in der er neben anderen Denkanstössen auf die Tatsache hinwies, dass “die USA eine sehr geschwächte Wirtschaft haben, der Dollar bald nicht mehr die internationale Tauschwährung sein wird, und die Chinesen den Euro ebengerade vor dem Desaster bewahrt haben und darauf sinnen, ihre eigene Währung zu internationalisieren. Und nun hat Russland die eurasiatische Allianz gegründet. Für die US-amerikanische Wirtschaft sind schwerste Zeiten angebrochen: Obama will um jeden Preis verhindern, dass europäische Staaten beginnen, sich der Einflusszone Washingtons zu entziehen und eine engere Kooperation mit Russland und den aufstrebenden Wirtschaften der Schwellenländer anzufangen, die sich Moskau und den sogenannten BRICS zuwenden.” Der Politische Sekretär der Kommunistischen Partei betonte zudem: “einen Krieg in Europa zu schaffen, die Beziehungen zwischen EU und Moskau zu stören, das ist die Strategie, um die nordamerikanische Wirtschaft auf unsere Kosten zu retten.” Ay erklärte schliesslich, wie die Wirtschaftssanktionen gegen Russland unter dem Strich nur den europäischen und schweizerischen Industrien schaden würden: “Es liegt mir fern, den schweizerischen Kapitalismus unterstützen zu wollen, aber der Bundesrat ist nicht einmal imstande, die nationalen Interessen der Eidgenossenschaft zu vertreten und versklavt sich den Vereinigten Staaten. Das ist schwachsinnig!” Damit hat Massimiliano Ay Stichworte aufgenommen, die auch schon der marxistische Ökonom Gianfranco Bellini gegeben hatte, der Autor von “La bolla del dollaro” (Ed. Odradek), Führungsmitglied der Partei der Italienischen Kommunisten (PdCI) und Förderer der Sektion Laika von Mailand. Gegen Ende 2012 verstorben, war Bellini den Kommunisten der italienischen Schweiz sehr verbunden ( siehe ), deren Analyse über die geo-ökonomischen Sachverhalte er teilte. Positionen, wie sie von Ay zum Ausdruck gebracht werden, die allerdings in der Presse der Schweiz, die sich den atlantischen Diktaten anschliesst, kein Echo gefunden haben, die sich aber heute sich also völlig zutreffend erweisen. Wie die Marxisten sagen: die marxistische Analyse geht von den grundlegenden wissenschaftlichen Gesetzen aus, die sich früher oder später an der Oberfläche der Erscheinungen manifestieren und die auch die Bourgeoise gezwungen sein wird, zur Kenntnis zu nehmen. So wie es nunmehr in der “Zeit” geschehen ist.
Quelle: Svolta clamorosa del giornale tedesco «Die Zeit». Dopo il golpe a Kiev, l–Europa abbandoni gli USA e si apra alla Russia (sinistra.ch, 19.06.2014) | Übersetzung: kommunisten.ch (20.06.2014)