Von null auf 16 Milliarden in 20 Jahren:
Fleiss und Sparsamkeit?
Nach Abgaben des US-amerikanischen Wirtschaftsmagazins Forbes hat sich die Zahl der russischen Milliardäre seit dem Vorjahr von 32 auf 62 annähernd verdoppelt. Als reichster Mann Russlands wird der Unternehmer Wladimir Lisin aufgeführt, dessen Vermögen auf 15,8 Milliarden US-Dollar geschätzt wird. (Ein Dollar ist etwa einen Franken wert.) Wie allgemein bekannt ist, waren diese steinreichen Leute, die man in Russland Oligarchen nennt, vor 1990 noch ganz gewöhnliche Leute, denen man Genosse sagte. Sie haben ihre riesigen Vermögen im kurzen Zeitraum seit dem Verschwinden der Sowjetunion gebildet.
Wenn man die schwer lesbare Summe von 15’800’000’000 zur Vereinfachung linear auf die 20 Jahre aufteilt, ergibt dies 790 Millionen pro Jahr. Wie kann man so viel in so kurzer Zeit verdienen, möchte da wohl manch einer wissen. Und es fehlt nicht an Antworten: “Ganz heimlich, still und leise hat sich der öffentlichkeitsscheue Stahlunternehmer hochgearbeitet”, schrieb die Financial Times Deutschland (15.02.2010) und verwies auf weitere erfolgsversprechende Charakterzüge: “Ebenfalls hilfreich auf dem Weg vom einfachen Stahlarbeiter zum Milliardär dürfte gewesen sein, dass Lissin nie durch Skandale auffiel.” Somit wüssten wir dank der Financial Times Bescheid, dass dem Reichtum nichts Skandalöses anhaftet.
Eine recht verbreitete und auch in der Schweiz von bürgerlichen Politikern und Journalisten gerne propagierte Annahme lautet, dass Armut eine Folge von Faulenzerei und Verschwendung sei; nach derselben Auffassung kommt Reichtum hauptsächlich durch die umgekehrten Eigenschaften und durch Haltungen wie Fleiss und Sparsamkeit zustande. Demgemäss musste Lisin einen gigantischen Fleiss besitzen, so gross, dass es ihm – seit einmal allen Tugenden der «Privatinitiative» in Russland freier Lauf geöffnet wurde – wohl auch an Sonn- und Feiertagen nie gelang, das Werkzeug abzulegen. Ausser dem Leistungswillen, der sich nicht durch Erholungen ermatten lassen will, wird schon allein Lisins Sparsamkeit ihn veranlasst haben, auf Urlaub zu verzichten. Gewiss muss er Tag und Nacht gearbeitet haben, und es wäre Wladimir Lisin auch im Traum nicht in den Sinn gekommen, sich anderem hinzugeben als der pausenlosen Betätigung seiner Schaffenskraft.
Um den Annahmen nicht untreu zu werden, rechnen wir also Lisins Jahre zu vollen 365 Tagen und seinen Arbeitstag zu vollen 24 Stunden ohne jeden Abzug für Unterbrechungen; ferner gehen wir davon aus, dass er aus Sparsamkeit von Luft gelebt hat: Um nach allen diesen Hypothesen 15,8 Milliarden in einer Zeitspanne von 20 Jahren anzusparen, muss er an jedem seit dem Zusammenbruch der Sowjetunion vergangenen Kalendertage durchschnittlich 2,16 Millionen, und in jeder (wachend oder träumend zugebrachten) Stunde das nette Sümmchen von 90’183 eingestrichen haben.
Moral:
Bei aller Vorsicht der Berechnung zeigt Lisins durchschnittlicher Stundenverdienst, wie weit man es bringen kann, wenn man richtig vorgeht. Sein Beispiel sollte nicht nur den Russen eine Lehre sein. Davon könnten sich auch die Armen in der Schweiz ein Stück abschneiden. Und gerade dem Sozialbetrüger sei gesagt, dass er daneben mit dem Beinwerk seiner Lügen mit kurzen Hosen dasteht. Denn, wie eine simple Rechnung zeigt: Ein alleinstehender Armer in der Schweiz braucht zum Essen und Trinken 12 Franken (gemäss SKOS-Ansatz). Hat er nur elf, so ist er in einer Not und hat daher ein verfassungsmässiges Recht auf “die Mittel, die für ein menschenwürdiges Dasein unerlässlich sind” (Art. 12 BV), also auf den zwölften Franken. Damit ist er den Fängen der Not wiederum entrissen, womit auch der Anspruch auf Achtung und Schutz der Würde des Menschen (Art. 7 BV) abgegolten ist, so dass es sich hier eigentlich streng genommen um zwei Verfassungsrechte zu je 50 Rappen handelt.
Angenommen nun, Lisin hätte sich von diesem hohen Sozialstandard anlocken lassen, wo der Sozialbetrüger nur einmal die Hand auszustrecken braucht, um zwei Verfassungsartikel auf einen Schlag zu brechen. Angenommen, er hätte die gleichen 20 Jahre in der Schweiz zugebracht, um unsere Sozialhilfe zu plündern und dem Herrgott die Tage zu stehlen. Dann hätte er Jahr für Jahr 365 × 12 = 4’380 Franken aufgezehrt, das macht in 20 Jahren 87’600. Wie man sieht: Alles über die Jahrzehnte missbräuchlich – anstatt im gesollten Schweisse Deines Angesichts – gegessene Brot, bringt nicht einmal so viel Beute ein wie ein einziges von den Stundenwerken, mit denen sich Lisin noch im Tiefschlaf «still und leise … hochgearbeitet» hat!
(16.04.2010/mh)
- Osteuropa und Russland: 20 Jahre Pauperismus
- Dossier: Armut und Ausgrenzung
- Dossier: Konterrevolution 1989
- Länderdossier Russland
Der vorstehende Artikel ist inspiriert von einem kürzlich im portugiesischen «Avante!» erschienenen Artikel aus der Feder von Anselmo Dias. Vom ihm übernommen ist die Idee der Umrechnung eines aus dem Nichts entstandenen Vermögens in Stundenlöhne, ebenso die Berechnungsweise. A acumulação capitalista made in Portugal (15.4.2010) zeigt dasselbe am Beispiel der zu faschistischen Zeiten einflussreichen und mächtigen Familie Espirito Santo (wöchentliche Salazar-Besuche usw.), die durch die Verstaatlichungen und die Agrarreform im Zuge der portugiesischen Revolution 1974/75 entmachtet wurde. Einer der Abkömmlinge ging 1975 mausarm nach London. Heute steht er an der Spitze der Finanzgruppe der Familie Espirito Santo, die wenige Jahrzehnte nach der Revolution wieder 30 Milliarden Euro schwer ist, mehr als 400 Beteiligungen an Unternehmungen hält, deren Aktiven 5% des BIP von Portugal entsprechen.
Das portugiesische Beispiel zeigt, dass es nicht nur in Russland so zu und her geht. Der reichste Mann der Schweiz ist noch reicher als Lisin. Was die Schweiz betrifft, möchten wir den Lesern auch nicht vorenthalten, dass besagter Spross der Familie Espirito Santo, zusammen mit Rockefellers, die ihm in der Londoner Notlage unter die Arme griffen, ein kleines Geschäft in unserem Land aufmachte, das auch in Portugal:
«bekannt [ist] als eines der Steuerparadiese, wo Wunder nach Art der Heiligen Königin Isabel geschehen; nicht durch Verwandlung von Brot in Rosen1 zur Hintergehung von D. Dinis, sondern Verwandlung von «schmutzigem» Geld in «sauberes» Geld, zur Hintergehung von Steuerbehörden und zur Förderung, unter anderem, der Geldwäscherei, der Drogenringe und des mit der Rüstung verbundenen illegalen Handels.» (Avante!)
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1 Gemäss Sage verteilte die Rainha Santa Isabel im Hungerjahr 1333 Brot an die Armen, was dem König Dom Dinis missfiel. Er überraschte sie, als sie mit Brotlaiben unter dem Gewand ging. “Was versteckst Du?” – “Rosen, mein Gebieter!” – “Rosen im Januar? Lass sehen, lass riechen!” Die Königin öffnete die Arme und ein Wunder geschah: Wohlgerüche strömten aus, und es fielen die prächtigsten Rosen hernieder.