Die Shanghai Five bleiben nicht allein – wer folgt als nächster auf Indien und Pakistan?
Während der Deutsche Bundestag und das Europäische Parlament sich gegenseitig mit Affronts gegen die Türkei überbieten, wird dieses Land im Kreis der “Schanghai Five” als strategischer Partner willkommen geheissen. Die Shanghaier Organisation für Zusammenarbeit hat der Türkei sogar eine führende Rolle angeboten. Der Türkische Staatspräsident Erdogan bringt die Frage einer Vollmitgliedschaft seines Landes in der Organisation zur Sprache, nachdem er sie bereits mit mehreren Staatsoberhäuptern besprochen hat.
Die Shanghaier Organisation für Zusammenarbeit in kurzen Worten
In Schanghai unterzeichneten die Staaten China, Russland, Kasachstan, Kirgisistan und Tadschikistan (“Shanghai Five”) im Jahre 1996 ein Abkommen, das verschiedene vertrauensbildende Massnahmen vorsah, um die nachbarschaftlichen Beziehungen zu verbessern, und einigten sich im folgenden Jahr auf einen Vertrag über die Reduzierung der Streitkräfte in den Grenzregionen, dem auch Usbekistan beitrat. Diese Instrumente dienten unter anderem zur Klärung von Grenzstreitigkeiten, welche nach dem Zerfall der Sowjetunion die Stabilität in Innerasien gefährden konnten. Die von den Unterzeichnern dieser Verträge im Jahre 2001 zum Zweck der Bewältigung interner und internationaler Sicherheitsprobleme und zur Abwehr von Terrorgefahren und Destabilisierungsversuchen gegründete Shanghaier Organisation für Zusammenarbeit (SOZ, engl.: Shanghai Cooperation Organisation, SCO) blieb in den ersten Jahren fast unbeachtet. Grössere Aufmerksamkeit erlangte sie 2005, als die Staatschefs von Russland, China, Kasachstan, Kirgisistan, Tadschikistan und Usbekistan beim ihrem Gipfeltreffen in Astana (Kasachstan) die USA und die NATO dazu aufforderten, einen Zeitplan für den Abzug ihrer Truppen in Afghanistan festzulegen. Seither wird die SCO als Bollwerk gegen westliche Expansionsgelüste in Zentralasien wahrgenommen. Und einige sprechen sogar von einem Gegengewicht zur NATO, obwohl die militärische Relevanz der SCO derzeit im Vergleich zum westlichen Militärbündnis sehr beschränkt ist. Die Charta der SCO strebt nach einer umfassenden Zusammenarbeit der Mitglieder in Handel, Wirtschaft, Kultur, Bildung, Energie und Transporte, Tourismus, Umweltschutz und weiteren Bereichen.
Vernetzung mit anderen Strukturen und Grossprojekten: Neue Seidenstrasse, Eurasische Wirtschaftsunion
Nicht zu unterschätzen ist die Bedeutung der SCO als Faktor der wirtschaftlichen Integration der Mitglieder und für die Architektur von Wirtschaftsbeziehungen auf der Grundlage der Gegenseitigkeit. Darunter fallen auch Bestrebungen zur Ablösung des US-Dollars als Zahlungsmittel und Währungsreserve, und zum Aufbau eines von den USA unabhängigen Systems von Entwicklungsbanken. Die SCO bildet auch eine Art Bindeglied zwischen russisch geführten Projekt der Eurasischen Wirtschaftsunion und dem von der chinesischen Partei- und Staatsführung vorangetriebenen Projekt zur Schaffung eines durchgehenden Wirtschafts-Gürtels entlang der beiden historischen Seidenstrassen (der festländischen durch Zentralasien und der maritimen über den Indischen Ozean) mit dem Ziel, die Wirtschaftsräume Asiens, Europas und Afrikas einander näher zu bringen und der Realwirtschaft neue Impulse zu verleihen. Ein Pfeiler des Projekt besteht im Ausbau des Schienennetzes mit den notwendigen Kapazitäten, um den Warenverkehr zu beschleunigen, der heute grösstenteils über den langsamen Seeweg abgewickelt wird. Die reale Wirtschaft rechnet bereits heute mit der Seidenstrasse des 21. Jahrhunderts: Entlang ihrer Route entstehen laufend neue Infrastrukturen zur Sicherung des Energiebedarfs. Solche Projekte werden vom Seidenstrassen-Fonds angeschoben. Der Fonds fördert öffentliche und private Investoren, die sich in Projekten entlang der Seidenstrasse engagieren. China verfügt über alle notwendigen Mittel, um diese Initiative des Staatspräsidenten Xi Jinping in die Wirklichkeit umzusetzen, und die meisten Länder entlang der alten Seidenstrassen haben ihr Interesse zur Teilnahme an den von China vorgeschlagenen Projekten geäussert. Juristisch besteht die Seidenstrassen-Initiative aus einem weitläufigen Netzwerk der unterschiedlichsten Instrumenten: multilaterale und bilaterale Handels- und Investitionsabkommen zwischen Staaten ebenso wie Verträge des 2014 von der Volksrepublik errichteten und mit 40 Milliarden US-Dollar dotierten Seidenstrassen-Fonds (Silk Road Fund) mit Privatunternehmen. Ebenso beteiligt sich die Asian Infrastructure Investment Bank an zahlreichen Teilprojekten. Ein weiterer wichtiger Mitspieler ist die Asian Development Bank (ADB). Sie hatte bereits 2001 die Central Asia Regional Economic Cooperation (CAREC) ins Leben gerufen, um die regionale Kooperation in den Bereichen Transport, Energie und Handel zwischen seinen zehn Mitgliedern, darunter Afghanistan, Aserbaidschan, China, Tadschikistan und Usbekistan zu fördern. In allen CAREC-Ländern sind grosse Investitionen in die Stromproduktion und Infrastruktur vorgesehen. Bereits heute besteht ein ausgedehntes chinesisch-zentralasiatisches Versorgungsnetz, über dessen Pipelines Gas aus Kasachstan, Usbekistan und Turkmenistan nach Beijing geliefert wird. China ist heute der wichtigste wirtschaftliche Akteur in Zentralasien. Die Förderung der regionalen Prosperität ist laut dem chinesischen Premierminister Li Keqiang das vordergründige Ziel des Baus der modernen Seidenstrasse, da die wirtschaftliche Entwicklung der Länder entlang der Seidenstraße auf einem niedrigen Level stehe: das Bruttonationaleinkommen betrage nur 46,4 Prozent des weltweiten Durchschnitts. Wenn einige die chinesische Initiative als chinesische Version des US-amerikanischen Marshall-Plans bezeichnen, so zeugt dies von wenig Faktenkenntnis, oder verweist bei anderen auf dahinterliegende Absichten. Der Marshall-Plan bewegte sich im Rahmen des Kalten Krieges und diente zu dessen Zuspitzung. Heute geht es darum, dass viele Entwicklungsländer von der Absicht erfüllt sind, sich von den vom Westen auferlegten Beschränkungen zu befreien und ihren Entwicklungsweg selbständig zu bestimmen. Diese Tendenz ist auch für China vorteilhaft. Es verschafft sich Anerkennung als Macht, welche sich für Frieden, Zusammenarbeit und Entwicklung einsetzt, ohne ideologische Positionen aufzuzwingen (anders als der Marshall-Plan, der die Länder mit kommunistischer Regierungsbeteiligung ausschloss).
Es bleibt nicht bei den “Shanghai Five”, und sie stehen nicht allein
Inzwischen ist Turkmenistan der SCO als Vollmitglied beigetreten. Die Nuklearmächte Indien und Pakistan befinden sich im Endstadium des Beitrittsprozesses. Ein entsprechendes Memorandum über den Beitritt wurde am 23. Juni dieses Jahres (dem Tag des Brexit-Referendums) unterzeichnet. Schon ohne diese beiden bevölkerungsreichen Neumitglieder umfassen die SCO-Staaten etwa 60 Prozent der Landmasse Eurasiens und rund ein Viertel der Weltbevölkerung, und einige von ihnen wie Kasachstan, Russland und Turkmenistan besitzen mehrere der grössten Erdöl- und Erdgasreserven der Welt. Iran, die Mongolei, Weissrussland, Afghanistan gehören der Organisation als Mitglieder mit Beobachterstatus an. Irans Gesuch um Aufnahme als Vollmitglied dürfte nach dem Fall der Sanktionen gegen die Islamische Republik zügig behandelt werden. Armenien, Aserbeidschan, Kambodscha, Nepal, Sri Lanka und die Türkei sind offizielle “Dialogpartner”, und weitere Staaten haben ihr Interesse an einer Mitgliedschaft in dieser oder anderer Form bekundet, darunter Syrien, Bangladesch und Ägypten. Der ebenfalls von der Ukraine eingeleitete Annäherungsprozess an die SCO wurde durch den Maidan-Putsch 2014 gewaltsam unterbrochen. Die grösseren SCO-Staaten und Beitrittskandidaten stehen zugleich mit einer Reihe von Staaten Afrikas und Lateinamerikas in guten bis engen Beziehungen, die sich in zahlreichen bilateralen Projekten, teils strategischer Natur, niederschlagen. Die Schwellenländer Brasilien und Südafrika sind überdies im BRICS-Format mit Russland, Indien und China verbunden. Alles in allem gleicht die SCO einem Baugerüst, das zur Errichtung einer multipolaren Welt dient.
Türkei auf dem Weg zu den “Shanghai Five”?
In einem atemberaubenden Tempo hat sich die Türkei den SCO-Staaten angenähert. Mehrere Regierungen von Mitgliedsstaaten haben sich bereits deutlich für die Aufnahme der Türkei ausgesprochen. Durch einstimmigen Beschluss wurde zudem der Türkei bereits für 2017 der Vorsitz der Energieclubs der Shanghaier Organisation für Zusammenarbeit angetragen. Die Berufung eines Nicht-Mitglieds an eine führende Rolle ist aussergewöhnlich und signalisiert einen hohen Vorschuss an Vertrauen in die türkische Seite. Diese Geste steht in scharfem Kontrast zur stiefmütterlichen Behandlung, welche die Türkei seit Jahrzehnten von offizieller Seite der EU-Staaten erfahren hat, und die in den letzten Jahren in den westlichen Medien und Politikerreden vielfach in offene Feindseligkeit umschlägt. Im Anschluss an Staatsbesuche in Pakistan und Usbekistan warf der türkische Staatspräsident Recep Tayyip Erdogan kürzlich die Frage auf: «Warum sollte die Türkei nicht auch bei den Shanghai Five dabei sein?» Wie Erdogan sagte, hatte er diesen Gedanken zuvor bereits mit seinen russischen und kasachischen Amtskollegen, Wladimir Putin und Nursultan Nasarbajew, erörtert. Für die Türkei stellt sich die Frage nach einer Alternative zum EU-Beitritt sehr ernsthaft. Seit den 1960er Jahren hatte die Türkei vergeblich die Mitgliedschaft in der damaligen Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft (EWG) angestrebt, und nach deren Umwandlung in die Europäische Union reichte das Land auch an diese ein formelles Beitrittsgesuch ein. “Seit 53 Jahren hält uns die EU hin; wie kann das sein?“, fragte Erdogan. Die Türkei steht in einem Kampf auf Leben und Tod mit verschiedenen Kräften, von denen jede auf ihre Weise mit den strategischen und operativen Strukturen des imperialistischen Lagers verbunden ist, so dass sie in ihrer Gesamtheit diesem als Front von Schachfiguren dienen: die von den NATO-Mächten bewaffnete PKK-Terrororganisation, die islamistische Gülen-Bruderschaft mit vielfachen Verbindungen zur CIA und zur NATO und der sogenannte “Islamische Staat” (IS oder Da’esh), eine Kreatur von westlichen Geheimdiensten. Aus Sicht der Türkei, die sich in dieser Lage von den westlichen Verbündeten – gelinde gesagt – im Stich gelassen fühlt, gewinnt die SCO als Alternative umso grössere Attraktivität. Denn ein Schwerpunkt der SCO liegt auf der Entwicklung von gemeinschaftlichen Mechanismen und Strategien gegen Terrorismus, Separatismus und Extremismus. (Dieser Bereich ist unter dem Namen “Regionale Anti-Terror-Struktur” in die usbekische Hauptstadt Taschkent ausgelagert, während sich das Sekretariat der Organisation an ihrem namengebenden Gründungsort und Sitz in Schanghai befindet.) Durch die Zusammenarbeit mit ihren Nachbarn und natürlichen Geschäftspartnern in Eurasien auf der Grundlage der Gleichberechtigung, Gegenseitigkeit und Nichteinmischung – anders als im westlichen Wirtschaftssystem üblich und bei entsprechender Schmälerung der imperialistischen Extraprofite und Konditionierungen auf Kosten der schwächeren Länder – winken der Türkei langfristige Vorteile für die wirtschaftliche, gesellschaftliche und kulturelle Entwicklung und günstigere Bedingungen für die Behauptung des souveränen Rechts, frei von fremder Einmischung über die nationalen Ressourcen und über den eigenen Weg in die Zukunft zu bestimmen. Die gegenwärtige Sicherheitslage im Land drängt die türkische Staatsführung zu einer schleunigen Weichenstellung in Richtung Eurasien. Besonders seit dem gescheiterten Putschversuch vom Juli dieses Jahres haben der türkische Staatspräsident, sein Regierungschef Binali Yildirim und dessen Minister, meist in Begleitung von Dutzenden von Spitzenvertretern aus Verwaltung, Wirtschaft, Armee und Geheimdienst ungezählte Stunden mit ihren Amtskollegen und Geschäftspartnern aus Russland, China, Iran und anderen SCO-Mitgliedern oder Beitrittskandidaten konferiert, während der diplomatische Kontakt mit westlichen Hauptstädten auf Sparflamme gehalten wird und Regierungsdelegationen von NATO-Bündnispartnern sich nur tröpfchenweise in Ankara einfinden, wo sie eine frostige Atmosphäre erwartet.
All dies (und vieles mehr; siehe angegebene Artikel) deutet darauf hin, dass sich die Türkei in raschen Schritten und unbeirrt durch westliche Druckversuche in Richtung Eurasien bewegen wird.