«Es wäre schwierig für die NATO gewesen, die Bombardierung von Belgrad zu entfesseln ohne die skandalöse Rechtfertigung durch politische Kräfte, die sich selbst “links” oder “progressiv” nennen.»
Milosevic und die Aktualität
Von Jorge Cadima (PCP)
Jornal «Avante!» (1. Sept. 2016) – Slobodan Milošević starb vor zehn Jahren in den Kerkern des von den Henkern Jugoslawiens geschaffenen Sonder“gerichts”, des ICTY. Nach dem üblichen Skript war der (wiederholt gewählte) Präsident Milosevic im Sinne eines Vorspiels für die Zerstörung des Landes persönlich verteufelt und verleumdet worden. Im Stillen hat das ICTY nun endlich die Falschheit der Anschuldigungen anerkannt (indem es die Toten entlastete, um die Lebenden zu verurteilen). Die Barrieren des komplizenhaften Stillschweigens der regimetreuen Medien über diese verschämte Anerkennung – eines Stillschweigens, das im flagranten Kontrast zum schrillen Unisono der Anklagen vor zwei Jahrzehnten steht – müssen gebrochen werden. Und wichtig ist, die Lehren zu extrahieren, die das alles einschliesst; Lektionen von enormer Aktualität. Neue kriegerische Kampagnen mit möglicherweise weit dramatischeren Folgen sind heute im Gange.
Die angeblichen “Völkermorde” und “ethnischen Säuberungen”, deren Jugoslawien und Milosevic beschuldigt worden waren, sind wie “Massenvernichtungswaffen von Saddam Hussein” eine monströse Fabrikation. Eine lügnerische Medienoffensive bereite die eigentliche militärische Offensive vor. In ihrem Buch “Fools’ Crusade” (Kreuzug der Idioten), 2002, bietet die US-amerikanische Journalistin Diana Johnstone eine Fülle von Einzelheiten zu diesem kolossalen Betrug. Das “Bedürfnis” nach einer “ethnischen Säuberung” war ein Jahr vor Kriegsbeginn von der Zeitschrift “Time” (23.03.98) eingestanden worden. In ihren Ausführungen über den Konflikt mit niedriger Intensität, der im Kosovo bereits im Gange war und den Widerstand gegen die militärischen Operationen der NATO gegen Jugoslawien, schrieb die Zeitschrift: “Die USA und Grossbritannien müssen entweder einseitig tätig werden oder andere überzeugen, sich anzuschliessen. Keines dieser Szenarien ist wahrscheinlich, es sei denn, Milosevic würde eine Kampagne zum Völkermord oder ethnischen Säuberungen starten.” Und nach der Feststellung, dass nichts in dieser Richtung deute und dass “nur 10 Flüchtlinge nach Albanien gingen”, kam das US-Magazin zum Schluss: “Das scheint eine gute Nachricht […], aber es gibt ein Problem. Wenn es weder eine ethnische Säuberung gibt, noch zur einer Flüchtlingswelle kommt. welche die internationalen Grenzen mit den Nachbarländern Albanien oder Mazedonien kreuzt, dann gibt es kaum eine Chance auf eine internationale Intervention.” Ein Jahr später drehten die imperialistischen Mächte die Frage um: es waren die am 24. März 1999 beginnenden NATO-Bombardierungen, welche die Massenflucht von Menschen kosovoalbanischer Herkunft verursachten, wie später der ehemalige Generalsekretär der NATO, Lord Carrington gestanden hat (Diário de Notícias, 27.8.99). Die Kriegspropaganda der Medien des Grosskapitals übernahm den Rest.
Seit mehr als einem Jahrzehnt begann man zu anerkennen, das keine plausible Grundlage für Milosevics Verurteilung besteht. Fox News titelte am 28.02.04: “Milosevic wird wahrscheinlich von Völkermord freigesprochen werden” und schrieb, dass nach zwei Jahren von Urteilssprüchen bei der ICTY sich “Konsens” darüber gebildet habe, dass die Staatsanwaltschaft beim Versuch, ihre Anklage zu belegen, “gescheitert” sei. Die mutige Verteidigung von Milosevic vor dem ICTY war ein gewaltiges Hindernis für die NATO-Pläne. Der kanadische Anwalt für internationales Strafrecht und Leiter des Rechtsausschusses des Internationalen Komitees für die Verteidigung von Milosevic, Christopher Black synthetisierte die Lage folgendermassen:[1] “der Prozess [gegen Milosevic] war für die NATO notwendig, um die Aggression gegen Jugoslawien und den von der NATO unterstützten Coup [Milosevic wurde im Oktober 2000 gestürzt] zu rechtfertigen […] und konnte nur mit einer von beiden Möglichkeiten ausgehen, entweder mit der Verurteilung oder mit dem Tod von Präsident Milosevic. […] Aber eine Verurteilung von Milosevic erwies sich nach der Vorlage des Beweismaterials eindeutig als unmöglich […], so wurde sein Tod zum einzig möglichen Ausgang für die NATO-Mächte.” Am 8. März 2006 schrieb Milosevic einen offiziellen Brief an das russische Aussenministerium, worin er die Vermutung äussert, dass er, anstatt für seine Herzprobleme behandelt zu werden, vergiftet wurde. Drei Tage später starb Milosevic in seiner Zelle des NATO-ICTY Gefängnisses. Der legitime Verdacht auf Mord verstärkt sich, wenn wir das Schicksal anderer Ziele der imperialistischen Mächte, wie Saddam Hussein oder Muammar Gaddafi bedenken.
Das Recht des Stärkeren
Die Kriegspropaganda hatte rücksichtslos und erschreckend zu sein, weil das Ausmass der zu begehenden Verbrechen riesig war. Der Angriffskrieg gegen Jugoslawien war der erste Krieg in Europa nach 1945. Es war das erste von der NATO entfesselte offene Krieg und eine offene Verletzung des internationalen Rechts. Aber es war vor allem die Bestätigung seitens der imperialistischen Mächte der neuen, sich aus der Auflösung der UdSSR und den Siegen der Konterrevolution in Osteuropa ergebenden Korrelation der Kräfte, welche es ihnen ermöglicht, sich von den Fesseln zu befreien, die ihnen die Niederlage des Nazi-Faschismus im Jahr 1945 verhängt hatte. Die UNO-Charta wurde eine Sache der Vergangenheit. Von nun an herrschte das Recht des Stärkeren. Und der stärkste war der US-Imperialismus. Das war das Wesen des neuen strategischen Konzepts der NATO, welches, im vollen Gang der Aggression gegen Jugoslawien (Washington Summit, 23./24. April 1999) verabschiedet wurde und die Maske der defensiven Organisation ablegte, um das “Recht” zur Intervention in einem beliebigen Teil des Planeten zu verkünden. Das war der Sinn der angeblich “aus Versehen” geschehenen Zerstörung der chinesischen Botschaft in Belgrad, welche jedoch “das einzige von der CIA während der 11 Wochen der Bombardierung Jugoslawiens ausgewählte Ziel” war (Reuters, 23.07.99).
Berauscht von den Siegen des Imperialismus am Anfang des Jahrzehnts bekannten die Chronisten des Regimes ,“während des Kalten Krieges hätte eine einzige Warnung des Kremls genügt, damit die NATO die Hände vom Balkan lässt” (Financial Times, 26.03.99). Ein weiterer im Buch von Diana Johnstone zitierter Kommentator sagte: “in den Tagen, als die Sowjetunion uns in Schach hielt, hätten die Realitäten der Macht die USA am Eingreifen gehindert. Wir sind dort, weil wir jetzt frei sind, um unsere Ideale und Sympathien mit Cruise missiles zu unterstützen.” Das ist es, was sie meinen, wenn sie über “Freiheit” reden.
Es wäre schwierig für die NATO gewesen, die NATO-Bombardierung von Belgrad zu entfesseln ohne die skandalöse Rechtfertigung durch politische Kräfte, die sich selbst “links” oder “progressiv” nennen. Im März 1998 war Bill Clinton US-Präsident. Deutschland hatte eine Regierung der rot-grünen Koalition. In England war Labour – mit Tony Blair – an der Macht. In Frankreich amtierte der Sozialist Lionel Jospin als Chef einer Regierung der “pluralen Linken”. Italien hatte, zum ersten Mal, einen Premierminister, der aus der ehemaligen Kommunistischen Partei Italiens stammte. In Portugal leitete António Guterres eine sozialistische Regierung. Generalsekretär der NATO war der spanische Sozialist Javier Solana, der seine politische Karriere damit begonnen hatte, sich dem Beitritt Spaniens zur NATO zu widersetzen. Die Förderung von Hokuspokus über “humanitäre Kriege” durch diese “Progressiven” war verbrecherisch – auch wenn sie einige lukrative politische und wirtschaftliche Berufe erzeugt hat – und hat geholfen, die Antikriegsbewegung zu verwirren und zu schwächen. Diese Rolle einer “progressiven” Legitimation der imperialistischen Kriege hatte Konsequenzen in Libyen, Syrien, der Ukraine und in den laufenden Operationen gegen Russland, China, DVR Korea, Iran, Angola und andere Länder.
Wir sprechen über die Gegenwart
Wie an anderen Haltestellen zerstörte die imperialistische Aggression Jugoslawien. Die NATO-Bombardierungen hörten nach 78 Tagen mit einem Waffenstillstandsabkommen auf, welches die Souveränität von Jugoslawien im Kosovo anerkannte und die Entmilitarisierung der UÇK-Terroristen vorsah. Aber die Vereinbarungen, die der US-Imperialismus unterzeichnet, sind nicht einmal das Papier wert, auf dem sie gedruckt werden. Im auf das Abkommen folgenden Jahr organisiert die CIA die erste ihrer “orange revolutions” und stürzt den gewählten Präsidenten Milosevic, der 2001 dem ICTY ausgeliefert wird. Im Jahr 2008 Kosovo erklärt seine Unabhängigkeit, die sofort von den grossen NATO-Mächten anerkannt wird. Die Männer der UÇK, weit davon entfernt, sich zu entwaffnen, werden in “Sicherheits“kräfte des Territoriums verwandelt und besetzen Spitzenpositionen der Macht. Die britische Zeitung Guardian beschrieb die Situation im Kosovo weniger als ein Jahr nach der Besetzung durch die NATO (13.03.00): “Internationale Organisationen zur Bekämpfung des Drogenhandels warnen, dass Kosovo ein ‘Schmugglerparadies’ geworden ist, das bis zu 40% des in Europa und Nordamerika verkauften Heroins liefert. Die NATO-Streitkräfte […] haben kein Mandat, Drogenhändler zu bekämpfen, und seit Vertreibung der serbischen Polizei aus dem Kosovo […] können die Schmuggler die Balkanroute frei verwalten”. Die “Freiheit” der NATO erstreckt sich auch auf andere schäbige Geschäfte. Im Jahr 2011 genehmigt der Europarat einen Bericht des Schweizer Senators Dick Marty, worin prominente UCK-Führer, unter ihnen der heutige kosovarische Regierungschef Hashim Thaci beschuldigt werden, dass sie “Organe von Gefangenen entnehmen und auf dem internationalen Schwarzmarkt verkaufen” liessen (swissinfo.ch, 25.01.11).
Es ist wichtig, diese Fakten in Erinnerung zu rufen. Wir sprechen hier nicht nur von der Vergangenheit; wir reden über die Gegenwart. Wir sprechen über die Kampagnen zur Dämonisierung von Baschar al-Assad, Wladimir Putin oder Kim Jong-Un. Die Krise des kapitalistischen Systems ist bereit, einer neuen Explosion entgegenzutreiben. Es gibt keine schmerzlindernden Mittel, mit denen sich verstecken liesse, dass das Finanzsystem völlig zerrüttet ist. Die Versuchung des Systems, mit Krieg zu reagieren, ist eine grosse Gefahr. Das ist das Wesen des Imperialismus. Die opportunistische Vertauschung der Bestimmung des wahren Wesens des Imperialismus gegen einfache Lügen oder Medienillusionen ist ein Mittel zur Entwaffnung der Menschen und bedeutet, das Spiel der wahren Herren des Krieges und des Völkermords zu spielen.
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1 Death of President Slobodan Milosevic in NATO prison remains a central question in International Justice, 14.3.13.
Quelle (Original portugiesisch): Jorge Cadima: Milosevic e a actualidade (Jornal «Avante!», N.º 2231, 1.º de Setembro de 2016) | Übersetzung: kommunisten.ch (02.09.2016)