»Bien venido, compañero Presidente«
Evo Morales gab in Berlin eine Lektion in neuer Geschichte und Politik
Von den bürgerlichen Medien weitgehend mit Nichtachtung gestraft, stattete der bolivianische Präsident Evo Morales am Mittwoch und Donnerstag Berlin und Hamburg einen Besuch ab, der bei Freunden der unabhängigen Entwicklung des Andenstaates grosse Beachtung fand. Immerhin ist Evo Morales nicht nur das erste indigene Staatsoberhaupt Boliviens, sondern der frühere Aktivist der Bauerngewerkschaft, der im Oktober 2014 zum dritten Mal zum Präsidenten gewählt wurde, hat es auch geschafft, mit Unterstützung der Mehrheit des Volkes länger im Amt zu bleiben als seine Vorgänger. Das ist vor allem einer Politik zu verdanken, die sich nicht nur durch eine konsequente Unabhängigkeit von den Vereinigten Staaten Nordamerikas auszeichnet, sondern die auch dazu führte, dass die Bolivianer wie nie zuvor in der Geschichte des Landes einen grossen, ständig wachsenden Anteil der Früchte ihrer Hände Arbeit selbst geniessen dürfen.
Entsprechend gross war auch der Andrang, als der compañero Presidente am Mittwochabend in der Technischen Universität Berlin, nach Absolvierung des offiziellen Programms mit Kanzlerin und Bundespräsident, zu einer Informationsveranstaltung mit dem Titel »Über das neue Bolivien« geladen hatte. Mehr als 2.000 Freunde dieses neuen Bolivien gaben ihm dort ein Bien venido, das um vieles herzlicher ausfiel als die protokollmässigen Begegnungen mit den Repräsentanten der Bundesrepublik.
Ein Ergebnis dieses Besuches war der Abschluss eines Kooperationsvertrages mit der TU. An der Berliner Uni studieren 33.000 Studenten, der Anteil ausländischer Studenten liegt bei 20 Prozent, davon sind bisher zehn Studenten aus Bolivien. In naher Zukunft dürften es deutlich mehr werden. Evo Morales erläuterte, wie es gelang, nach vielen Jahren sozialer und politischer Kämpfe mit Hilfe der Gewerkschaften durch eine Wahl die Regierungsmacht in Bolivien zu übernehmen. »Über 500 Jahre nach der Invasion durch die Europäer nehmen wir nun unser Recht auf politische Macht wahr«, betonte er. In der Zona Tropical/Cochabamba habe er den sozialen, gewerkschaftlichen, politischen und ideologischen Kampf kennengelernt. »Und ich kann euch sagen: Dort waren die USA-Truppen stationiert.« »Wir formierten vor allem Bauerngewerkschaften, um die ökonomische und die politische Macht zu verteidigen.«
Von besonderer Bedeutung sei die politische und wirtschaftliche Unabhängigkeit Boliviens, so dass der Staat heute tatsächlich als politisches Machtinstrument dient. »Die Befreiung dauerte nach der ersten kolonialen Befreiung weitere 200 Jahre, und es gab so viele Tote. In ganz Lateinamerika gibt es keinem Staat, in dem mehr Putsche stattfanden als in Bolivien.« Hinzu kam die vollständige Abhängigkeit von den USA. »Ein Minister, der seine Instruktionen nicht bei der USA-Botschaft holte, konnte nicht Minister sein.« Wann immer eine Partei Wahlen gewann, die in Washington unter dem Verdacht stand, »links« zu sein, wurde geputscht. »Allein in dem einen Jahr, als ich meinen Militärdienst absolvierte, gab es in Bolivien sechs Präsidenten.«
Leute aus dem Volk hatten faktisch keine Chance, bei Wahlen zu kandidieren. Der Präsident berichtete über das Wahljahr 2005. Damals sollten zum Beispiel im Departamento Potosi zwei Kandidaten der MAS, der Bewegung zum Sozialismus, auf die Kandidatenlisten gesetzt werden. Die zweite Kandidatin zog jedoch ihre Kandidatur zurück, so dass nach der Wahl bei zwei gewonnen Mandaten nur ein Kandidat zur Verfügung stand. Als die Kandidatin gefragt wurde, warum sie zurückgetreten sei, stellte sich heraus, dass sie die 100 Bolivianos (umgerechnet 10 US-Dollar) für die offizielle Registrierung nicht hatte aufbringen können.
Andererseits erwies sich ein massiver Einmischungsversuch des damaligen USA-Botschafters als Bumerang. Er verglich in einer Rede Evo Morales mit dem Al-Kaida-Chef Osama bin Laden, und die Cocaleros, die Koka-Pflanzer Boliviens, mit den Taliban. Das rief eine derartige Empörung unter den einfachen Landarbeitern und Bauern hervor, die sich letztlich positiv für das Wahlergebnis von Morales erwies.
»Jetzt haben wir politische und ökonomische Souveränität«, stellte der Präsident fest. Und fügte in aller Bescheidenheit hinzu, dass die seitdem erreichten Ergebnisse als Erfolge des Volkes anzusehen seien, dessen Bewusstsein sich allmählich entwickle, »und nicht als Erfolge von Evo Morales«. Früher gingen 82 Prozent des erzeugten Reichtums auf die Konten der grossen ausländischen Konzerne, und nur 18 Prozent seien in Form von Löhnen im Land verblieben. Heute bleibe der Reichtum im Land, da er sozialisiert und demokratisiert wird. Das sei in erster Linie der erfolgreichen Verstaatlichung der Öl- und Gasvorkommen zu verdanken. Nur durch die Nationalisierung könne man die nötigen finanziellen Ressourcen gewinnen, um das Leben des Volkes zu verbessern. Die Armut im Land konnte seit 2005 von 38 Prozent auf 15 Prozent reduziert werden. »Das ist wahrer Dienst für die Menschen und für die Menschenrechte.«
In diesem Sinne hatte der bolivianische Präsident auch seine Gespräche mit der BRD-Regierung geführt. Bolivien brauche einen ausgeglichenen Markt und ist an guter Technologie interessiert. »Aber es kann nicht sein, dass wir kaufen und kaufen, aber nichts verkaufen.« Bolivien brauche deutsche Technologie und deren Installation und Begleitung für ein oder zwei Jahre, je nach Vertragsdauer, z.B. für den Ausbau der Transportwege, vor allem der Brücken über die grossen Flüsse im Osten. Aber die deutschen Vertragspartner müssten ihre Rolle richtig verstehen: »Wir wollen Teilhaber und keine Herren in unseren Betrieben.«
Tunia Erler
Übernommen von: Zeitung vum Lëtzebuerger Vollek (6. November 2015)