Mit den Kurden in Diyarbakır
Von Davide Rossi
Dogu Perinçek mit Davide Rossi
In Diyarbakır entspringt der Tigris, um sich dann in den etwas mehr als hundert Kilometer entfernten Ländern Syriens und Iraks zu ergiessen, die von der Gewalttätigkeit des terroristischen Integralismus in Blut getaucht werden. Gestern wie heute werden dank des Flusses mit grossem Eifer mächtige durstlöschende Wassermelonen angebaut, welche dazu beitragen können, die Sommerhitze zu überstehen. Viele Bauern leben noch auf dem Land, manchmal in Häusern mit prekärer Beleuchtung und defekten Anschlüssen an die Wasserversorgung; viele andere haben die Reihen der Stadtbürger auf neunhunderttausend Einwohner vergrössert und leben in grossen, anonymen Mietskasernen aus Stahlbeton, die berufen sind, auf den dringlichen Wohnbedarf zu antworten. Die Bauern der Stadt wachen vor Sonnenaufgang auf und erreichen per Auto die Ländereien, die sie fruchtbar und produktiv machen.
Hier leben viele Kurden. Sie repräsentieren etwa zwei Drittel der Bevölkerung der Stadt und der Region, jedoch wollen sie, im Gegensatz zu dem, was in Europa häufig erzählt wird, keinerlei Form von ethnischem Separatismus; sie wollen nicht enden wie Jugoslawien, und noch weniger wie der Irak und Syrien, dramatische Zeugnisse einer Balkanisierung des Mittleren Ostens, nur ein paar Schritte von ihnen entfernt. Die militärische und wirtschaftliche Unterstützung des US-Imperialismus an die Kurden in Syrien gegen Assad wird besonders schlecht angesehen und ist der konkrete Beweis für eine Nähe zwischen separatistischen Tendenzen und solchen Interessen, die der Vernunft der Kurden fern liegen. Diese fordert vielmehr die Achtung ihrer Sprache: seit einigen Jahren sind auch die Ortsnamen zweisprachig. Ebenso ihrer Kultur: die Aufwertung von jahrhundertealten Traditionen, welche diese Erde zu einem pluralen Ort machen, wo sich Islam und Christentum seit über fünfzehn Jahrhunderten begegnen, wo die Spuren menschlicher Besiedlung bis zu den Anfängen der Zivilisation und der ersten Sesshaftwerdung zurück reichen, wo sich auch Überreste aus der Zeit der Sassaniden und des Mittelalters erhalten.
Die alten und imposanten Stadtmauern, gebaut vom römischen Kaiser Constantius II. in der ersten Hälfte des 4. Jahrhunderts, speichern die Erinnerung an Tempel, die der Sonne und andere dem Feuer gewidmet waren, eine Geschichte, deren Wurzeln in vergangene Jahrtausende hinabführen. Die Moscheen, oft Überbauten über frühchristlichen Kirchen, die Paläste und Denkmäler sind alle aus dunklem und porösem Basalt vulkanischen Ursprungs hergestellt, dem einzigen Stein, der sich in der Gegend auftreiben lässt, so dass dem dunklen Ton eine Strenge zukommt, die man auch in der syro-jakobitischen Kirche, der einzigen in der Stadt betriebenen Kirche, feststellen kann. Sie wurde von Tamerlan (Timur Lenk) bei seinem Zug anfangs des 15. Jahrhunderts zerstört und ist in ihrem Inneren noch immer mit antiken Ikonen geschmückt, die in lebhaften Farben und tief orientalischen Zügen ein Zeugnis von einem Christentum ablegen, das an die Ursprünge anknüpft.
REGIONALER KONGRESS DER VATAN PARTEI
Ich treffe viele Kurden, und alle verabscheuen die ethnischen Separatisten, nicht nur, weil die von diesen hier und im ganzen Lande durchgeführten terroristischen Aktionen, mit Anschlägen und Toten, die Errichtung des Friedens behindern, sondern auch weil sie zur direkten Folge die Militarisierung des Gebiets haben, ebenso wie Stagnation der Wirtschaftstätigkeit und eine generalisierte Krise des Tourismus, wie Tevfik Aritek erklärt, ein Intellektueller, der sich gleichzeitig als Unternehmer der Hotellerie betätigt.
Türken und Kurden zusammen für den gemeinsamen Aufbau einer Zukunft des Friedens, dies sagte auch der regionale Kongress der Vatan Partei, die sich in marxistischer Tradition sieht und auf den wissenschaftlichen Sozialismus beruft, und die sich vor kurzem von der Wichtigkeit überzeugt hat, sich [über die Arbeiterklasse hinaus; Anm. d. Übers.] auf weitere Bereiche der Gesellschaft auszuweiten. Die Vatan Partei, die in dieser Region in den 90er Jahren präsent war, wurde in der Folge durch die Attentate der terroristischen Separatisten dezimiert und erlebt heute eine bedeutende Renaissance, auch dank der Abnahme der Zustimmung zur HDP [den kurdischen Separatisten nahestehende Partei; Anm. d. Red.], welche die Bürger gewaltig enttäuscht hat mit ihrer Unterwürfigkeit gegenüber den Zumutungen der Europäischen Union und wegen ihrer engen Beziehungen zu Kreisen, die eben demselben Imperialismus nahestehen, welcher den Separatismus füttert.
Das Wachstum der Vatan Partei ist das Verdienst des Vizepräsidenten Utku Reyhan und des Verantwortlichen vor Ort, Gonul Selahattin, der aus der Gewerkschaftsbewegung kommt und eine breite Erfahrung auch im Vereinsport mitbringt. Auf dem Kongress, der am 21. Januar 2017 stattfand, nahm der Vorsitzende der Partei, Doğu Perinçek, mit der ganzen Entschlossenheit und Begeisterung seiner Ideen, teil und wurde von den anwesenden Kurden applaudiert, welche die nationale Einheit hochhielten.
Perinçek, der seine Jugend in Diyarbakir zubrachte, wohin sein Vater als Staatsanwalt versetzt worden war, hielt unter wehenden roten Fahnen eine lange Rede, worin er unterstrich, dass die türkische Nation aus den Völkern gebildet wird, die sie zusammensetzen, und dass sie mit der Unterwürfigkeit gegenüber den Imperialisten der NATO und ebenso gegenüber den pro-separatistischen und antisozialen Politiken der Europäischen Union brechen muss. Er äusserte die Notwendigkeit eines produktiven Aufschwungs im Lande selbst und der Unterstützung für den Agrarsektor, nicht nur in Diyarbakir, und für den Detailhandel, sowie der Schaffung von zusätzlichen Anreizen für den Austausch mit Asien und dem Mittleren Osten, ausgehend von China und Russland, die bereits heute die ersten Handelspartner der Türkei sind. Er verlangte dringliche politische Massnahmen zur Unterstützung der Arbeiter und forderte zur Ablehnung des Präsidentialismus auf, über welchen in den nächsten Wochen ein Referendum abgehalten wird. Mit Befriedigung begrüsste er die Verhaftung der mit Fethullah Gülen verbundenen integralistischen Putschisten und erhoffte sich einen raschen Prozess bei deren Rehabilitation. Auch der letzte chinesische Kaiser Pu-Yi – betonte er lächelnd – machte in den Zeiten von Mao den Gärtner; alle können wieder sozialisiert werden, und alle können ihre Religion frei äussern, sofern sie sich in einem Horizont des vollen Respekts der kemalistischen Laizität des Staates bewegen.
Die gegenwärtige Krise des Landes – sagte er – kann nur mit einer Regierung der nationalen Einheit überwunden werden, was entscheidend ist, um die Macht von Erdogan und seiner AKP zu reduzieren und zu dämpfen; nur so wird man die rund 60 im Parlament vertretenen Gülenisten definitiv ausgrenzen können, denen allerdings wie der gesamten Gülen-Bewegung die reale Macht entzogen ist. Den Frieden, die Arbeit, die Wohlfahrt errichten, mit dieser Überzeugung begrüsste Perinçek die zahlreich Anwesenden, die Parteimitglieder und die örtlichen Leitungen, welche die Organisation am nationalen Parteitag in Ankara Mitte März 2017 vertreten werden.
Original (ital.): Davide Rossi: Con i curdi a Diyarbakir (sinistra.ch, 23 gennaio 2017) | Übersetzung: kommunisten.ch (15.03.2017)