Fragen und Antworten zu einem Land, von dem alle sprechen und das wenige kennen
Von Massimiliano Ay
Es mangelt nicht an Behauptungen, die sich im Web, in den social networks und der westlichen Presse finden und von reichlich mageren Kenntnissen der türkischen Realität zeugen. Halbwahrheiten und “Enten”, die oft auf die eurozentristische Wahrnehmung der Realität zurückzuführen sind. Im Rahmen ihrer Sonderberichterstattung zur Türkei ( SPECIALE TURCHIA ) bat Sinistra.ch den Sekretär der Kommunistischen Partei und Tessiner Grossrat Massimiliano Ay , der auf dem Gebiet der internationalen Kooperation aktiv und ein Kenner der türkischen Politik ist, einige davon zu analysieren.
- Fidel Castro ehrt Mustafa Kemal Atatürk
Mustafa Kemal Atatürk, der Gründer der Türkischen Republik war ein Diktator mit faschistischen Sympathien
FALSCH – Mustafa Kemal Atatürk war ein Partisanenkommandant, der den türkischen nationalen Befreiungskrieg sowohl gegen das Sultanat wie auch gegen die kolonialistischen Invasoren anführte. 1920 gründete er die Türkiye Komünist Firkasi (TKF), die erste offiziell kommunistische Partei, welche allerdings von der Kommunistischen Internationale nicht anerkannt wurde. 1923 gründete er dann die Republikanische Volkspartei (CHP) als einzige Partei der national-demokratischen türkischen Revolution (auf der Grundlage der sechs Leitprinzipien des Kemalismus: Laizismus, Etatismus, Populismus, Revolutionarismus, Republikanismus und Patriotismus), die bestimmt war, die Feudalgesellschaft zu überwinden und die volle nationale Souveränität zu erlangen. Atatürk definierte die Regierungsform der modernen Türkei als “Staatssozialismus”, mit Unterschieden zu Russland, aber im Bündnis mit dessen junger bolschewistischen Macht. Er gründete die ersten demokratischen Institutionen des Landes und akzeptierte die Gewaltenteilung, wobei er das Zivilgesetzbuch der Schweizerischen Eidgenossenschaft zum Vorbild nahm.
Während des Staatsstreichs hat Erdogan zu keiner Zeit um seine Unversehrtheit gebangt
FALSCH – Der Putsch wahr echt und war keine Farce: diese Komplott-Theorie überlassen wir anderen, wir stützen uns auf Fakten. Erdogan befand sich in jener Nacht im Urlaub an der Ägäis, wo ein Kommando von putschistischen Militärs versuchte ihn zu ermorden. Es kam zu einem Gefecht mit schwerem Feuer zwischen Polizei und Präsidialgarde gegen das Putschistenkommando, bei dem der Chef der Eskorte des Präsidenten, Mehmet Cetin und mehrere Zivilisten den Tod finden sollten. Zudem hat laut dem liberal-demokratischen “Hürriyet” eine Stunde vor dem Putsch der Befehlshaber der 1. Armee (die regierungstreu blieb) Erdogan gewarnt, dass eine Meuterei im Gange sei und ihm gemeldet, dass Spezialkräfte ankommen würden, um sich ihrer anzunehmen.
Die kurdische PKK/HDP hat sich gegen die Putschisten gestellt
FALSCH – Freilich hat die kurdische Nationalistenpartei HDP – der legale Arm der bewaffneten separatistischen Organistation PKK – wie alle anderen politischen Kräfte den Putschversuch verurteilt. Heute jedoch, wo sich die Lage allmählich aufklärt, hat der PKK-Kommandant von Kandil, Duran Kalkan ( wie hier berichtet ) behauptet, dass der türkische Präsident “vor Ergenekon kapituliert hat”, was in der Substanz übersetzt heissen soll, dass Erdogan sich den laizistischen Kemalisten ergeben habe. Ergenekon ist in der Tat der Name einer angeblichen revolutionären Geheimgruppe, zusammengesetzt aus hochrangigen Offizieren der Streitkräfte, Journalisten und kemalistischen und kommunistischen Politikern, welche die Regierung von Ankara (damals bis zum Rand mit zukünftigen Putschisten mit Verbindung zu Fetullah Gülen gefüllt) von 2006 bis vor kurzem verfolgen liess, und zwar mit Unterstützung der Europäischen Union und der Vereinigten Staaten und wohlgefälligem Blick der PKK. Mithilfe der Ergenekon-Prozesse (wie sinistra.ch in diesem Artikel berichtet hat: Leggi ) hatte Gülen die Entfernung von Hunderten von laizistischen und NATO-kritischen Generalen und Offizieren erreicht. Heute, wo sich Erdogan Gülens entledigt hat sehen wir die PKK, die dies mit Unbehagen registriert, sich einmal mehr demaskieren und zeigen, was sie ist: eine reaktionäre und pro-atlantische Kraft.
Die türkische Armee ist verantwortlich für den versuchten Staatsstreich, ergo handelte es sich um einen laizistischen Putsch gegen den Islam.
FALSCH – Nicht nur hat sich die erdrückende Mehrheit der obersten Kommandanten der Türkischen Streitkräfte gegen die jüngste Erhebung gestellt, einige von ihnen wurden sogar von den Putschisten als Geiseln genommen und das Gros der Militärs hat zum Scheitern des Staatsstreichs beigetragen. An zweiter Stelle ist festzuhalten, dass sicherlich das türkische Heer eine laizistische und kemalistische Kultur und Tradition hat (ich wünschte mir, sie möge sich kräftigen!), aber man darf nicht vergessen, dass es gerade die hohen Ränge waren, von denen, insbesondere mit dem amerikafreundlichen Putsch von 1980, die “türkisch-islamische Synthese” ausging, welche dem politischen Islam dem Weg bereitete. Ferner hat die islamistische Sekte von Fetullah Gülen gezeigt, dass sie es versteht, einen erheblichen Teil des türkischen Militärapparats zu infiltrieren und dies wahrscheinlich seit mehreren Jahrzehnten.
Die Festnahmen nach dem Putschversuch sind zahlreich und schnell erfolgt, dies bedeutet, dass die Liste der in U-Haft genommenen schon bereit war, bevor alles passierte.
WAHR – Sicher behalten die türkischen Geheimdienste seit langem eine grosse Anzahl von Beamten, Offizieren, Polizisten, Magistraten usw. im Auge, welche in Verbindungen mit der subversiven Organisation von Fethullah Gülen gestanden sind. Die ersten Listen mit infiltrierten Gülenisten in der Verwaltung waren schon vor Erdogans Machtantritt von der laizistischen Mitte-Links-Regierung erstellt worden, und dürften über die Jahre aufdatiert worden sein. Zu Zeiten von Erdogans Allianz mit Gülen wurden sie natürlich niemals angewendet, angesichts der heutigen Lage sind sie umgesetzt worden.
- In der Türkei-Berichterstattung einiger westlicher Medien verwendetes (afghanisches) Foto
Nach dem Putsch hat Erdogan die Lage ausgenützt, um das Verbot der Pädophilie aufzuheben und die Heirat von Mädchen zu erlauben.
FALSCH – Es ist eine Meldung, welche sich im Augenblick durch westliche Medien gross verbreitet wird, sogar durch die renommiertesten, die auf einen Schlag beschlossen haben, dass ihr Feind sich verändert habe: wenn früher Zeugnisse herausgegeben wurden, welche Erdogan als demokratisch und die Kemalisten als autoritär hinstellten, so hat sich nun die editoriale Linie auf den Kopf gestellt.
Um Klarheit zu schaffen: das Delikt der Pädophilie bleibt im türkischen Gesetz verankert, und es existiert keine parlamentarische Kraft, welche dessen Abschaffung verlangt hätte. Der Absatz 1 von Artikel 103 des türkischen Strafgesetzes – der in Kraft ist!!! – sagt im wesentlichen, dass jeder mit Gefängnis bestraft wird, der sich an Minderjährigen unter 15 sexuell vergreift. Ein Bezirksgericht hat jedoch erachtet, das der Wortlaut keine Unterscheidung nach dem Alter des Opfers treffe, so dass Fälle, in denen es um ein Kleinkind oder Heranwachsende geht, gleichgestellt seien.
Der türkische Verfassungsgerichtshof – und damit nicht die Regierung von Erdogan – hat Ende 2015 ein negatives Gutachten über diesen Absatz getroffen und das Parlament eingeladen, diesen bis Januar 2017 neu zu fassen, ohne ihn aber zu streichen. In der Zwischenzeit ist ein Rekurs von einigen Organisationen für die Rechte der Kinder hängig. Summa summarum hat das Ganze nichts mit Erdogans Reaktion zu tun, ebenso wenig wie mit den angeblichen Amnestien für Zwangsheiraten mit Kinderbräuten: in der Türkei kann man sich mit 17 gesetzlich trauen lassen. Auch der folgende italienischsprachige Blog bestätigt, dass es sich um Desinformation handelt: leggi .
Die Putschisten werden mit der Todesstrafe bestraft werden
FALSCH – Die Todesstrafe gibt es in der Türkei seit über einem Jahrzehnt nicht mehr, weder in Krieg- noch in Friedenszeiten. Derzeit existiert keine regierungsseitige Botschaft, mit der dem Parlament eine Wiedereinführung vorgelegt würde. Jedenfalls wäre ein solches Gesetz, selbst wenn es kommen sollte, nicht rückwirkend und somit nicht auf die Putschisten anwendbar.
- Die Gewerkschaft der kemalistischen Linken "EGITIM IS" wurde von den "Säuberungen" nicht betroffen.
In der Türkei findet eine Hexenjagd gegen laizistische Dozenten statt, die Erdogan nicht unterstützen
FALSCH – Nach dem Putschversuch in der Türkei sind über 22 tausend der Verbindung mit subversiven Strukturen verdächtigte Lehrer vom Amt suspendiert worden. Mit Bezug darauf hat man in den westlichen Medien gehört, dass viele davon laizistische Erdogan-kritische Lehrer seien, die nunmehr vom “Sultan” gesäubert werden, der seine Diktatur aufrichten will. Die Daten von gewerkschaftlicher Seite ( auch hier bestätigt ) enthüllen aber eine völlig anderes Lage: 18’015 sind Mitglieder der Gewerkschaft der islamistischen Dozenten “Aktif Eğitim Sen”, die bekanntlich der Sekte von Fethullah Gülen ausgesprochen nahe steht; weitere 3’318 sind in der Gewerkschaft _“Eğitim Bir Sen” und ihrer 1’371 in der Gewerkschaft “Türk Eğitim Sen” eingeschrieben. Die beiden letzteren sind beides “gelbe” Organisationen, die gerade der Regierung nahe stehen. Auf der fortschrittlichen und laizistischen Seite finden wir zwei Gewerkschaften: die kemalistische “Eğitim-İş” vermeldet null Suspendierungen, während die sozialistische “Eğitim-Sen” 88 Suspendierte zählt (diese weil sie Verbindungen zu den kurdischen Separatisten der PKK haben). Auch wenn man sich nicht auf Erdogan verlassen kann, ist zur Ehre der Wahrheit festzuhalten, dass, jedenfalls bis dahin, die Sanktionen ausschliesslich Personen betreffen, die tatsächlich zum Umfeld der Putschisten gehören.
Original (italienisch): sinistra.ch | Domande e risposte su un paese di cui tutti parlano ma che pochi conoscono (25 luglio 2016) | Übersetzung: kommunisten.ch (26.07.2016)
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