Drei Millionen Portugiesen im Arbeitskampf
Der grösste Generalstreik der portugiesischen Geschichte
Bereits an der Pressekonferenz um 13h00 stand für den allgemeinen portugiesischen Gewerkschaftsbund CGTP-Intersindical fest:
«Dies ist der grösste Generalstreik der portugiesischen Geschichte, im öffentlichen und im privaten Sektor. Seine Ziele entsprechen der notwendigen Antwort auf die Probleme und den Begehren der Portugiesen. Die CGTP-IN begrüsst die Werktätigen für die Anstrengung und die Opfer, mit denen sie einen gewaltigen Beitrag zu diesem Generalstreik geleistet haben. Die CGTP-IN bekräftigt die Notwendigkeit der Mobilisierung der Werktätigen und der Portugiesen zur Suche nach Alternativen im Sinne von Investitionen, Beschäftigung und Schaffung eines Zukunftsprojekts für das Land.»
Schon bald nach Streikbeginn um 21 Uhr des Vorabends hatte sich auch in der öffentlich zugänglichen Information abgezeichnet, dass der Generalstreik vom 24. November 2011 im ganzen Land einen gewaltigen Zulauf haben wird. Vor Mitternacht trafen die Erfolgsmeldungen schon zu Dutzenden bei der Gewerkschaftszentrale CGPT-Intersindical ein: Der Lissaboner Flughafen sagte alle internationalen Flüge ab. Zu den ersten, die in den Ausstand traten, gehörten die Nacht- und Frühschichten der Angestellten von Spitälern, Müllabfuhren und Verkehrsbetrieben. Viele Belegschaften beteiligten sich massiv oder geschlossen am Streik.
Nah- und Fernverkehr lahmgelegt
Der Nah- und Fernverkehr (per Flugzeug, Eisenbahn, Bus, Fähre, Metro) wurde weitgehend lahmgelegt. Die Streikenden erzwangen die ganztägige Schliessung der wichtigsten Häfen, Bahnhöfe und Verkehrsbetriebe. Damit war auch die Paralisierung der meisten Pendlerströme für den ganzen Tag gesichert. Spezielle Dienste garantierten den Transport von Manifestanten an die Grosskundgebung der CGTP in Lissabon.
Wo ausnahmsweise ein Bus verkehrte, blieb er allerdings fast ohne Passagiere. Diese hatten für heute nicht auf das Funktionieren der öffentlichen Verkehrsverbindungen gesetzt. Oder sie boykottierten die vereinzelt zirkulierenden Vehikel aus Solidarität mit dem berechtigten Streik. Dazu hatten ausdrücklich die Benutzerkommissionen verschiedener öffentlicher Dienste und Betriebe aufgefordert.
Streikrekorde im öffentlichen Sektor
Sehr hoch war die Streikbeteiligung naturgemäss bei den öffentlichen Angestellten, die am direktesten von der Austeritätspolitik betroffen sind. Nach allen vorangegangenen Verschlechterungen (Kürzungen von Lohn- und Rentenansprüchen, Beschneidung von Rechten, Streichung von Stellen, Aufhebung oder Privatisierung von Dienststellen), welche die Öffentlichen schon unter der SP-Regierung Sócrates erlitten haben, will die neue PSD/CDS-Regierung Passos Coelho ihnen nun unter anderem die Weihnachts- und Ferienzulagen streichen. Zudem will die Regierung grosse Staatsbetriebe wie die Fluggesellschaft TAP, die öffentliche Radio- und Fernsehgesellschaft RTP privatisieren und die Staatsbeteiligung am Energieunternehmen EDP und anderen Konzernen abwerfen.
Fast alle öffentlichen Ömter waren vom Streik stark betroffen. Viele Dutzende von Postämtern und Hunderte von Schulen wurden geschlossen, da man in diesen Betrieben mit einer hundertprozentigen Streikbeteiligung rechnete. Bei den Lehrern herrscht eine ausgezeichnete Kampfstimmung. Ihre kämpferische Gewerkschaft Fenprof (Federação Nacional de Professores) weiss fast den gesamten Lehrkörper des Landes hinter sich. Dem Streikaufruf folgten auch die Mehrheit der Professoren an den technischen Hochschulen und Universitäten.
Zur Vorhut der portugiesischen Gewerkschaftsbewegung gehört ebenfalls die STAL (Sindicato nacional dos Trabalhadores da Administração Pública). Sie konnte viele Tausende von Angestellten der lokalen und regionalen Verwaltungen und Dienste oder Konzessionsbetriebe des örtlichen Service Public mobilisieren, darunter Amststellen (behördliche Kontrolltätigkeit, Schalterbedienung usw.), Feuerwehr, Schulen und Kindergärten, Museen, Bibliotheken, Friedhöfe und weitere Gemeindeeinrichtungen. Den sichtbarsten Ausdruck findet der Streik in den Müllsäcken, die sich in den Städten auftürmen. Unter Einschluss der technischen und administrativen Bereiche wird die globale Streikbeteiligung bei lokalen und regionalen Amtsstellen und Diensten auf mehr 85 Prozent veranschlagt.
Wuchtige Beteiligung des Privatsektors
Auch in der Privatwirtschaft haben die Arbeiter und Angestellten Anlass genug zum Streik gesehen. Die Regierung hat die tägliche Arbeitszeit für alle um eine halbe Stunde verlängert, ohne Lohn versteht sich. Die Verlängerung des Arbeitstags ist die Steigerung der Ausbeutung in ihrer rohesten Erscheinungsform: indem der Verschleiss der Arbeitskraft heraufgesetzt wird, entsteht ein absoluter Mehrwert.
Die Troika aus EU, EZB und IWF hat der Regierung in Lissabon gute Arbeit bescheinigt. So gut, dass die Lobspender bereits andeuten, dass ihr Appetit wächst. So liest man im jüngsten Communiqué der Troika: «Um die Wettbewerbsfähigkeit bei den Arbeitskosten zu verbessern, sollten die Löhne im Privatsektor dem Beispiel des öffentlichen Sektors folgen und nachhaltige Kürzungen vornehmen.»
Es war nach aller Erfahrung auch diesmal damit zu rechnen, dass Regierung und Patrons versuchen werden, den Streikerfolg herunterzuspielen. Deshalb veröffentlicht die GCTP-Intersindical im Minutentakt die Meldungen, die aus sämtlichen namhaften Betrieben eingehen. So hat jeder die Gelegenheit, die Glaubwürdigkeit der Streikdaten durch Vergleich mit den Feststellungen in seiner eigenen Sphäre zu überprüfen. Der zusammenfassende Zwischenbericht von 12h00 umfasst 40 Seiten. Es zeichnet sich darin klar ab, dass die Streikbeteiligung insgesamt höher ist als beim letzten Generalstreik vor genau einem Jahr. Dennoch verbreitete die Regierung schon am Vormittag manipulierte Zahlen über eine extrem niedrige Streikbeteiligung in der Zentralverwaltung. Die gleiche Taktik wird von den Patrons verfolgt.
Dennoch lässt sich die Wucht des Generalstreiks auch im Privatsektor nicht leugnen. Im wichtigsten Industriepark des Landes rund um Palmela, wo mehrere ausländische Konzerne tätig sind, erreichte die Streikbeteiligungen in vielen Betrieben 90% und mehr. Im grossen Volkswagen-Werk Autoeuropa streikten 95 Prozent der Arbeiter. Viele der grossen Betriebe der Textilerzeugung und Verarbeitung und der Schuhindustrie standen still.
In einigen Betrieben entschied sich die Direktion zur Einstellung des Produktionsbetriebs, um die Synchronizität des Produktionsablaufs mit dem Materialfluss von Seiten der (bestreikten) Zulieferer nicht durcheinander zu bringen. Da haben wir das fachmännische Eingeständnis in die Durchschlagskraft des Generalstreiks im Produktivsektor.
Volk auf der Seite der Streikenden
Die Breite des Volksprotestes gegen die Austeritätspolitik zeigt sich nicht zuletzt an der hohen Beteiligung im Banksektor. In der Caixa Geral de Depositos (CGD) legten über 80% der Angestellten die Arbeit nieder.
Schon im Vorfeld des Streiks hatten sich die Offiziers-, Unterofffiziers- und Soldatenverbände mit dem Kampf der Arbeiterklasse solidarisiert. Ihrer 10’000 hatten vor Wochenfrist an einer Protestkundgebung in Lissabon ihren wachsenden Unmut gegen die Rechtspolitik und gegen die Beschneidung der Rechte von Militärangehörigen geäussert. Auf heftige Kritik der patriotischen Militärs stösst die unterwürfige Haltung der Regierung gegenüber den Grossmächten, etwa die Beteiligung an NATO-Kriegen, oder die Verschacherung der nationalen Souveränität und Unabhängigkeit.
Zu den staatstragenden Schichten, in denen es rumort, gehören die Lehrer, Teile der katholischen Kirche, Teile des Militärs, viele Richter, Tausende von Polizisten, Gefängnisangestellte (diese streikten schon vorige Woche). Viele solidarisieren sich mit dem Streik, oder streiken mit, weil ein jeder auf seinem Gebiet (Erziehung, Landesverteidigung, Landerverteidigung, Justiz usw.) die Errungenschaften der fortschrittlichen Verfassung von 1976 gegen weitere Schmälerungen und Unterminierung verteidigen will.
Der Kampf geht weiter
Die CGTP erklärte ihre Bereitschaft zu einem neuen Generalstreik, falls die Regierung noch immer nicht bereit ist, ernsthafte Verhandlungen mit allen Gesellschaftsklassen aufzunehmen. Wie CGTP-Generalsekretär Manuel Carvalho da Silva erklärte, «müssen die Gewerkschaften bereit sein sein und sich in allen Möglichkeiten zur Erbringung von Beiträgen anstrengen müssen, wobei der Einsatz des Streiks einen von diesen Beiträgen darstellt.»
Jerónimo de Sousa, Generalsekretär der Portugiesischen Kommunistischen Partei (PCP) verwies unter anderem darauf, dass die portugiesische Arbeiterbewegung mit diesem grossartigen Streikerfolg einen wichtigen Sieg gegen die ideologische Zersetzungskampagne erzielt, welche die drei Parteien der Rechtspolitik (die “interne Troika” aus PS, PDS und CDS) und der Unterwerfung unter die Diktatur der EU mit grossen Medieneinsatz führen, um die Umsetzung der Diktate der externen Troika als unabänderliches Schicksal hinzustellen, gegen das zu kämpfen als aussichtslos erscheinen soll. Millionen von Portugiesen haben gezeigt, dass sie sich weder dadurch, weder durch Erpressungen gegen das Land noch durch gezielte Einschüchterung von streikwilligen Gruppen vom Widerstand abhalten lassen. Sie bekämpfen jeden einzelnen Schritt bei der Umsetzung des “Memorandum of understanding”, des Aggressionspaktes, den die interne Troika mit der externen Troika im Mai abgeschlossen hat.
Die PCP ruft für den 30. November zu einer Kundgebung vor dem Parlament in Lissabon auf. An diesem Datum steht die Beschlussfassung über das Staatsbudget auf der Tagesordnung des Hauses. Die regierende PDS verdankt die vielen Sitze im portugiesischen Einkammer-Parlament ihren gegen weitere Austeritätsmassnahmen gerichteten Wahlversprechen, von denen einige sehr konkret formuliert waren und heute gebrochen werden. Beispiel: Im Wahlkampf hatte Passos Coelho Behauptungen, wonach er Lohnbestandteile wie die Weihnachts- und Ferienzulagen antasten wolle, als böswillige Verleumdung zurückgewiesen. Kurz nach dem Wahlsieg verkündet er die Abschaffung beider genannten Zulagen.
Eine Kundgebung vor dem Parlament bedeutet in der gegebenen Lage, dass die Massen der Parlaments- und Regierungsmehrheit die Legitimität absprechen, Beschlüsse zu fassen, welche in krassestem Gegensatz zu den abgegebenen Wahlversprechen stehen.
Polizeiprovokation gegen Streikende
Im Städtchen Oeiras im nordportugiesischen Distrikt Braga ist die Polizei gegen einen Streikposten der örtlichen Müllabfuhr eingesetzt worden. Der Streikposten wollte verhindern, dass Streikbrecher den Betrieb aufnehmen. Einige Temporärarbeitsfirmen haben sich – entstprechend dem Aufschwung der Streikbewegung – auf Streikbrecherei spezialisiert. Im Falle von Oeiras handelt es sich vermutlich um unfreiwillige Streikbrecher, nämlich Arbeitslose, die vom Arbeitsamt zur Beschäftigung in dubiosen Leiharbeitsverhältnissen gezwungen werden. Sie müssen jede beliebige Temporärarbeit antreten, die ihnen ihr Leiharbeitgeber zuweist. Die Arbeiter wehrten sich gegen die Polizei. Sie mussten schliesslich die Ausfahrt von drei Streikbrecherwagen zulassen, als die Polizei die Maschinenpistolen zog.
Ein weiterer Einsatz der Sicherheitspolizei PSP erfolgte bei der Carris, die ein grosses Stück des Verkehrsnetzes von Lissabon betreibt. Die Polizei vertrieb die Streikposten und nahm (laut noch nicht einwandfrei bestätigten Berichten) mehrere fest, darunter einen Parlamentsabgeordneten der PCP.
Aktionen der “Indignados” abseits von der organisierten Arbeiterbewegung
Auf Nachmittag hatten die “Indignados” (die “Empörten”) zu eigenen Manifestationen in Lissabon aufgerufen. Diese losen, halbanonymen, spontan agierenden und deswegen umso leichter manipulierbaren, provizierbaren und besiegbaren Gruppen haben ungefähr tausend Leute auf die Strasse gebracht. Auf ihren Internetseiten beklagen sich die Indignados darüber, dass sie als Mitveranstalter der Proteste von der CGTP verschmäht worden seien.
Die “Indignados” versammelten sich gegen Abend beim Parlamentsgebäude (Assembleia da República), das von Polizeikordons gesichert wird. Die Medien berichten von Zusammenstössen, einem verletzten Polizisten und einer Handvoll Festnahmen.
Die organisierte Arbeiterbewegung, deren Protestumzug beim Parlament ihren Abschluss fand, steht in keinem Zusammenhang mit diesen Aktionen. CGTP-Generalsekretär Carvalho de Silva erklärte dazu: «Die von mir geführte Struktur hatte nichts damit zu tun.» Für ihn ist es sicher, dass «solche Situationen nicht den Interessen der Werktätigen dienen».
Fitch stuft Portugal herunter
Just heute hat Fitch die Kreditwürdigkeit Portugals erneut herabgestuft. Die Rating-Agentur hat sich offenbar nicht durch ihre eigene Aussage beeindrucken lassen, die sie noch vor kurzem abgab und wonach Portugal sich auf dem “guten Weg” befinde. Der “gute Weg” wurde der portugiesischen Regierung von vielen Sprachrohren des internationalen Grosskapitals bescheinigt. Besonders auch, weil Premier Passos Coelho in der Austeritätspolitik noch weiter gegangen ist, als es die Troika des ausländischen Kapitals verlangt hatte. Die neuerliche Herabstufung der Kreditwürdigkeit ist eine Bestätigung dessen, was die Portugiesische Kommunistische Partei (PCP) und die Gewerkschaftszentrale CGTP-IN schon lange sagen. Die portugiesische Regierungspolitik unter Kommando der Troika des ausländischen Kapitals führt das Land in den Abgrund. Sie verfehlt damit auch ihr angebliches Ziel des Schuldenabbaus. Die Defizite bilden nichts weiter als den Vorwand zur weiteren Entfaltung des längst in Gang befindlichen Generalangriffes auf die Rechte der Werktätigen.
(24.11.2011/mh)
- Länderdossier Portugal
- Dokumente der PCP
- Sachdossier Streik und Arbeitskämpfe